Der relationale Ansatz der Wirtschaftsgeographie

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Ein Gespräch mit Harald Bathelt

Harald Bathelt ist einer der führenden Wirtschaftsgeographen Deutschlands. Gemeinsam mit Johannes Glückler ist er Autor des Lehrbuches “Wirtschaftsgeographie” und Mitbegründer des relationalen Ansatzes der Wirtschaftsgeographie sowie einer der meistzitierten Wissenschaftler seines Fachs.

 

 

 

Stefan Ohm: Herr Bathelt, könnten Sie kurz etwas über Ihre Person und Ihren Werdegang sagen?

Harald Bathelt: Zu meiner Person, meinen Forschungsinteressen und meinem Werdegang kann man vieles auf meiner Internetseite (http://www.harald-bathelt.com/) nachlesen. Hierzu möchte ich ergänzen, dass ich in meiner wissenschaftlichen Laufbahn sehr von der Kombination der von mir studierten Fächer profitiert habe (Geographie, Statistik, Volkswirtschaftslehre und später Regionalwissenschaften). Nach Abschluss meines Studiums an der Universität Gießen war ich mir jedoch nicht darüber im Klaren, in welcher Disziplin ich zukünftig weiterarbeiten sollte.
Letztlich war es die Überzeugungsarbeit meines akademischen Lehrers Ernst Giese, die mich dazu bewogen hat, in der Geographie zu bleiben. Nach meiner Habilitation habe ich gezielt die akademische Umgebung von Eike Schamp in Frankfurt gesucht, von dem ich erhebliche Anstöße erhalten hatte. Tatsächlich erwies sich diese Entscheidung zwar anders als geplant, aber doch als sehr glücklich, weil ich so die Chance erhielt, gemeinsam intensiv mit Johannes Glückler zusammenarbeiten. Nach meinem Wechsel an die Universität Marburg habe ich Anfang 2005 ein Angebot der University of Toronto auf einen Canada Research Chair (CRC) mit Schwerpunkt Innovation & Governance angenommen und 2006 angetreten. Es war dies weniger eine familiäre Entscheidung (meine Frau ist Kanadierin), als vielmehr ein Schritt, der sich für die, die mich kennen, bereits seit Längerem abgezeichnet hatte. Ausschlaggebend waren eine Mischung aus Unzufriedenheit mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen im deutschen Umfeld und vor allem der Wunsch, in einem offenen, multiperspektivischen, multikulturellen akademischen und gesellschaftlichen Umfeld mit vielen stimulierenden Einflüssen mitzuwirken. Dass dieser Wechsel auch mit einem Wechsel von der Geographie in die Politikwissenschaft verbunden war (obwohl ich natürlich nach wie vor dieselben geographischen Forschungsinteressen und schwerpunkte vertrete) und hat sich als sehr positiv erwiesen, denn mein jetziges Department ist in jeder Hinsicht exzellent. Es ist zugleich Ausdruck der oben beschriebenen Offenheit des kanadischen Systems, dass man einen Wirtschaftsgeographen voll integrieren wollte.

Stefan Ohm: Die relationale Wirtschaftsgeographie wird als Gegenentwurf des raumwirtschaftlichen Ansatzes beschrieben. Wo exakt liegen die gravierendsten Unterschiede, die diese Ansätze unvereinbar machen?

Harald Bathelt: Tatsächlich habe ich die relationale Wirtschaftsgeographie nie als Gegenentwurf zum raumwirtschaftlichen Ansatz gesehen. Diese Interpretation ist erst von dritter Seite vorgenommen worden. Im Gegenteil: Als Johannes Glückler und ich begannen uns im Jahr 2000 mit einer Grundlegung der Wirtschaftsgeographie zu beschäftigen, taten wir dies auf der Basis des raumwirtschaftlichen Ansatzes mit großer Achtung vor dessen Leistung. So waren wir davon überzeugt, dass beispielsweise Dietrich Bartels und ein größerer Kreis von Wissenschaftlern in seinem Umfeld einen wesentlichen Beitrag zu einer wissenschaftlichen Fundierung der Wirtschaftsgeographie geleistet hatten. Mit der relationalen Wirtschaftsgeographie ging es Johannes Glückler und mir zu allererst darum, für uns selbst befriedigende Antworten über die Rolle und Bedeutung der Wirtschaftsgeographie in Relation zu den Nachbarwissenschaften zu haben. Mir ging es wahrscheinlich so wie vielen anderen Geographen auch: Ich stand häufig unter Rechtfertigungszwang, was das Besondere an der Wirtschaftsgeographie sei und konnte darauf, jedenfalls für mich selbst, keine vollends befriedigende Antwort liefern. Mit der relationalen Wirtschaftgeographie habe ich für mich eine Antwort gefunden.

In der Konzeptionalisierung der relationalen Wirtschaftsgeographie ging es uns vor allem darum, Offenheit zu multidisziplinären Konzeptionen und Methodiken zu zeigen. Es war klar, dass die Raumwirtschaftslehre in vielen aktuellen Problemen nicht mehr als Maßstab für wirtschaftsgeographische Analysen ausreichte und nur partiell Antworten liefern konnte. Dies hing mit Faktoren wie der überwiegenden Fokussierung auf neoklassisch inspirierte ökonomische Konzepte, der Personifizierung räumlicher Aggregate, der Fetischisierung von Raum und der Vernachlässigung sozialer Erklärungsdynamiken zusammen. Die internationale Wirtschaftsgeographie hatte diesen Wandel spätestens mit den Arbeiten von Ash Amin, Allen Scott und Michael Storper implizit schon angedeutet, aber unseres Erachtens noch keine explizite Grundlegung formuliert. Die relationale Wirtschaftsgeographie haben wir als eine Grundkonzeption verstanden, die ökonomisches Handeln in räumlicher Perspektive in das Zentrum der Analyse rückt, die ökonomisches Handeln als soziales Handeln begreift, die deshalb Akteuren und ihren Handlungskontexten besondere Aufmerksamkeit widmet, die eine (mindestens begleitende) Mikroperspektive betont, die notwendigerweise eine institutionelle Sicht erfordert, die lokale und nicht-lokale (globale) Handlungskontexte systematisch analysiert und entsprechende politische Handlungskonsequenzen in territorialen und sektoralen Planungskontexten formuliert.

Stefan Ohm: Wie wirken die vier Ionen (Interaktion, Organisation, Innovation, Evolution) der Wirtschaftsgeographie mit einer relationalen Grundperspektive zusammen?

Harald Bathelt: Die relationale Wirtschaftsgeographie in dem von Johannes Glückler und mir beschriebenen Entwurf will kein konkretes Analyseschema vorgeben, sondern versteht sich als Konzeption, die dabei hilft, Probleme in territorialen und trans-territorialen Kontexten zu formulieren und geeignete Heuristiken zu ihrer Untersuchung zu finden. Ausgehend von unseren eigenen Forschungsinteressen, die man im Kontext der Geographie des Unternehmens ansiedeln könnte, haben wir mit den Ionen ein Netzwerk von Strukturen und Beziehungen vorgeschlagen, das sich aus dem relationalen Verständnis von Handeln ableitet und dazu geeignet ist, die von uns gestellten Forschungsfragen konsistent zu bearbeiten. Die vier Ionen sind als interdependentes Grundgerüst gedacht, das explizit Versäumnisse traditioneller Ansätze aufgreift und eine reflexive Dynamik konzeptionalisiert: In stark vereinfachter Form sind Akteure innerhalb und zwischen Organisationen Ausgangspunkt von ökonomischen Interaktionen. Diese sind in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft der Anstoß für Innovationen, die wiederum neue oder veränderte Institutionen bewirken und letztlich auf vorhandene Organisationen und Interaktionsprozesse wirken. Durch diese Interdependenzen wird keineswegs ein Zirkelschluss aufgespannt, sondern eine evolutionäre Dynamik ökonomischen Handelns in räumlicher Perspektive ausgelöst. Obwohl der Begriff Institution nicht als eigene Analysekategorie auftritt, handelt es sich um einen Ansatz, der grundlegend den Einfluss von Institutionen auf Handlungsstrukturen untersucht. Wir glauben zwar, dass dieses Grundgerüstet wirtschaftsgeographischer Analyse auch breiter einsetzbar ist, sind zugleich aber davon überzeugt, dass eine Anpassung an andere Forschungskontexte erfolgen muss.

Stefan Ohm: Häufig wird der relationale Ansatz noch als offenes Theoriegebäude beschrieben. Wo genau befinden sich noch Baustellen?

Harald Bathelt: Baustellen gibt es in dem relationalen Grundgerüst an vielen Stellen, und das ist gut so, weil es zur Teilnahme an fruchtvollen Diskussionen einlädt. Beispielsweise ist der Ansatz oft als reiner mikrosozialer Ansatz missverstanden worden, die Rolle von Institutionen, Handeln und Akteuren ist noch genauer zu konzeptionalisieren, der Einfluss von Makrostrukturen und gesellschaftlichen Grundstrukturen ist bisher noch nicht ausformuliert, methodische Konsequenzen sind noch nicht systematisch überdacht usw. Vermutlich gibt es noch weitere Problembereiche, und natürlich werden sich im Lauf der Zeit noch andere Baustellen auftun. Sicher ist es auch nicht unproblematisch, dass es auf internationaler Ebene verschiedene relationale Verständnisse gibt, die nicht immer vollständig zusammenpassen und auch nicht ganz widerspruchsfrei sind. Ich habe einmal versucht, einige wichtige gemeinsame Grundpositionen dieser Ansätze herauszustellen. Peter Sunley ist demgegenüber anders vorgegangen: Er hat die Widersprüchlichkeit der verschiedenen relationalen Ansätze betont und lehnt sie ab. Ich halte dies für methodisch problematisch, da hierbei Äpfel mit Birnen verglichen werden. Es ist jedoch aus meiner Sicht positiv, dass die verschiedenen relationalen Ansätze und ihre Kritiker miteinander diskutieren, und sich dadurch befruchten. Wenn man eine relationale Grundkonzeption von Handeln ernst nimmt, muss es zwangsläufig verschiedene theoretische Positionen geben, die unterschiedlich sozial konstruiert sind. Erst dadurch kann meines Erachtens ein zentraler Kern wissenschaftlicher Arbeit erfüllt werden: nämlich fortzuschreiten auf dem Weg, Wahrheit zu suchen und zu finden.

Stefan Ohm: Abschließend noch eine Frage, die sicherlich viele Studenten und Leser dieses Blogs interessiert. Arbeiten Sie mittlerweile an einer 3. Auflage Ihres Lehrbuches?

Harald Bathelt: Die Frage ist einfach zu beantworten. Ja, Johannes und ich arbeiten seit über zwei Jahren an einer neuen, dritten Auflage. Diese soll nicht einfach eine Aktualisierung und inkrementale Fortschreibung der zweiten Auflage darstellen, sondern wird wesentlich stringenter eine Konzeptionalisierung des relationalen Ansatzes vornehmen. Wir versuchen dabei viele der oben genannten Aspekte zu berücksichtigen und in einen Lehrbuchkontext zu integrieren. Letztlich wird die dritte Auflage eine ganz andere Struktur haben als die zweite und viele neue Aspekte einbeziehen. Zugleich wird sie eine große Kontinuität zu der vorherigen Auflage aufweisen. Wir arbeiten übrigens auch an einer englischsprachigen Monographie zu diesem Themenkomplex, die auf unseren bisherigen Arbeiten fußt.

Stefan Ohm: Herr Bathelt, vielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen.

Anmerkung

Dieses Interview ist bereits im Juni im Rahmen einer Artikelreihe über die Wirtschaftsgeographie auf meinem Blog erschienen. Für weiterführende Informationen sind die folgenden Artikel dieser Reihe zu empfehlen.

1. Was ist Wirtschaftsgeographie?

2. Wirtschaftsgeographische Strömungen im 20. Jahrhundert

3. Zweite Transition der Wirtschaftsgeographie

4. Der relationale Ansatz nach BATHELT und GLÜCKLER

 

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Meine Name ist Stefan Ohm und ich bin Geograph. Vor meinem Studium habe ich eine Ausbildung zum Fachinformatiker absolviert und danach bei Electronic Data Systems (EDS) als Lotus Notes Entwickler gearbeitet. Während meines Studiums in Hannover führte mich mein Weg zur Texas State University in San Marcos (USA) sowie zur University of Bristol (UK). Darüber hinaus absolvierte ich zwei Praktika bei NGO’s in Neu Delhi (Indien), mit dem Ziel Entwicklungsprozesse vor Ort genauer zu betrachten und damit ein besseres Verständnis über diese zu erhalten. Promoviert habe ich über den Strukturwandel im Perlflussdelta und Hongkong (China) an der Justus Liebig Universität in Gießen.

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