Offener Brief an Thilo Sarrazin. Einige Fehler in Ihren Thesen zur Intelligenz

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die Psychologie irrationalen Denkens
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Sehr geehrter Herr Sarrazin,

Sie haben in Ihrem Buch „Deutschland schafft sich ab“ einige umstrittene Thesen zur Vererbung der Intelligenz vorgebracht. Sie behaupten trotz aller Kritik, lediglich den Stand der Wissenschaft wiederzugeben, wie z. B. vor drei Tagen bei einem Interview in der Frankfurter Rundschau. In diesem Interview sagen Sie:

„Was mich interessiert: Wo habe ich in der Sache Fehler gemacht, wo etwas Falsches behauptet? Und da habe ich nichts gefunden. Meine Zahlen stimmen.“

Sie haben in der Tat eine Reihe gravierender Fehler gemacht, und so bin ich sicher, dass es Sie interessieren wird, welche es sind.

Lassen Sie mich nur die Wichtigsten erwähnen:

“Deutschland schafft sich ab”, Seite 93:

„Unter seriösen Wissenschaftlern besteht heute zudem kein Zweifel mehr, dass die Intelligenz zu 50 bis 80% erblich ist.“

Das ist zumindest ungenau und die darauf aufbauende Argumentation leidet entsprechend. Die menschliche Intelligenz ist zu einem wesentlich höheren Grad erblich, denn die Gene bestimmen erst einmal, dass ein Mensch ein menschliches Gehirn hat. Was Sie meinen, ist, dass die Intelligenzunterschiede zwischen Individuen zu 50 bis 80% erblich sind. In der Tat sind die Intelligenz-Unterschiede zwischen Geschwistern geringer als zwischen Fremden. Das ist auch unbestritten.

Ebenfalls auf Seite 93: „Seit der Reformation hat sie [die evangelische Kirche] die intelligentesten Knaben für die geistliche Laufbahn ausgewählt.“

Der Begriff der Intelligenz existiert erst seit dem 19. Jahrhundert in der heutigen Bedeutung und ein Messverfahren hat bis ins 20. Jahrhundert nicht existiert. Und muss ich wirklich darauf hinweisen, dass es eine einheitliche Organisation namens „evangelische Kirche“ überhaupt nicht gibt? Das Wort ist lediglich ein Sammelbegriff. Insgesamt hat der Satz also keine sinnvolle Aussage und eignet sich nicht für eine wie auch immer geartete Beweisführung.

Seite 100:

Oben auf der Seite schreiben Sie:

„Ein ähnlicher Zusammenhang gilt weltweit, wenn man den gemessenen Durchschnitts-IQ von Nationen und deren wirtschaftlichen Erfolg betrachtet … Der statistische Zusammenhang als solcher ist jedoch unangreifbar.“

Gemeint ist hier, dass eine Nation mit höherem IQ wirtschaftlich erfolgreicher ist, so wie es ihren Ausführungen auf Seite 99 nach, für einzelne Menschen gelten soll.

Das ist, schlicht gesagt, Unsinn. Bereits im nächsten Absatz schreiben Sie sehr richtig: „Ein nationaler IQ wird stets so normiert, dass der Durchschnitt bei 100 liegt.“

Spätestens beim Verfassen dieses Satzes müsste Ihnen eigentlich aufgefallen sein, dass man dann keinen sinnvollen Vergleich zwischen den IQs von Nationen vornehmen kann, wie Sie im Absatz davor noch behauptet haben. Sie haben hier einen inneren Widerspruch in Ihrer Argumentation, sie kann also nicht richtig sein. Zum Thema der Vergleichbarkeit von Intelligenztests habe ich bereits einen ausführlichen Blogbeitrag geschrieben.

Ebenfalls Seite 100:

„Dabei zeigt sich in den westlichen Industriestaaten von den 1930er bis in die 1980er Jahre ein Anstieg des durchschnittlichen IQ von zwei bis drei Prozent pro Jahrzehnt … Dieser nach seinem Entdecker so genannte Flynn-Effekt wird auf die Anregungen der modernen Industriegesellschaft, auf bessere Bildung und bessere Ernährung zurückgeführt, die es früher Benachteiligten möglich machen, ihr genetisches Potential besser auszuschöpfen.“

Zunächst einmal: Der IQ stieg nicht um Prozente, sondern um Punkte. Der Durchschnitts-IQ hat zwar (definitionsgemäß) einen Wert von 100, aber es sinnlos zu sagen, dass ein IQ von 130 einem dem 1,3 fachen (also 130%) des Durchschnitts-IQ ausmacht. Der IQ ist eine Rangskala, er gibt nicht Teile von irgendetwas an.

Zum Zweiten: Der amerikanische Politikwissenschaftler James Flynn führt den nach ihm benannten Effekt nicht auf die von Ihnen genannten Ursachen zurück. Er schreibt: „Die Hypothese, die am besten zu meinen Ergebnissen passt, ist, dass IQ-Tests nicht Intelligenz messen, sondern lediglich über eine schwache kausale Verbindung mit der Intelligenz korrelieren.“

Wie vieles andere im Bereich der Intelligenzforschung ist auch diese Auslegung umstritten, aber man darf doch erwarten, dass Sie die Schlussfolgerungen von James Flynn würdigen, wenn Sie den von ihm entdeckten Effekt zitieren.

Auch Ihr Argument, dass eine höhere Geburtenrate der Unterschicht zu einer allgemeinen Reduktion der Intelligenz in der Bevölkerung führen müsse, ist zumindest zweifelhaft. Dieser Effekt hätte bereits im 19. Jahrhundert eintreten müssen. Der Rückgang der Kindersterblichkeit betraf damals hauptsächlich die Unterschicht, ganz einfach deshalb, weil dort die Kindersterblichkeit am höchsten war. Also vermehrte sich die Unterschicht zwischen etwa 1800 und 1950 in ganz Westeuropa deutlich überproportional. Ich habe aber nirgendwo einen Nachweis gefunden, dass die Intelligenz in Europa daraufhin erkennbar gesunken wäre.

Ich möchte es bei diesen Beispielen bewenden lassen, damit der Blog nicht zu lang wird. Ich lasse Ihnen natürlich gerne eine umfangreichere Fehlerliste zukommen, wenn Sie Wert darauf legen.

Damit wir uns nicht missverstehen: Jeder macht Fehler, da nehme ich mich nicht aus. Aber wer mehr als ein Jahr nach Erscheinen seines Buchs immer wieder darauf besteht, nichts falsch gemacht zu haben, muss sich gefallen lassen, dass man ihm Fehler nachweist. Es geht mir dabei nicht darum, Ihre Meinung zu verdammen (auch wenn ich sie nicht teile), ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass Sie beim Thema Intelligenz mehr Fehler gemacht haben, als Ihnen bisher bewusst war.

 

Mit freundlichen Grüßen

Thomas Grüter

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www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

14 Kommentare

  1. Intelligenz

    Die Intelligenzthesen Sarrazins sind wie Intelligenzthesen jeder Personalität per se umstritten, denn einerseits ist die Intelligenz eine kulturabhängige Messung, muss sie auch sein, sie ist sogar geschlechtlich normiert, so dass es dort keine Problem mit dem “100” gibt, und Feststellungen wie dass die Intelligenz erblich ist (vs. ‘Intelligenzunterschiede’, was “richtiger” ist) stehen zwar außer Frage, sind aber unscharf.

    Zu:

    „Die Hypothese, die am besten zu meinen Ergebnissen passt, ist, dass IQ-Tests nicht Intelligenz messen, sondern lediglich über eine schwache kausale Verbindung mit der Intelligenz korrelieren.“

    Die Messung einer Intelligenz ist die Intelligenz.

    Wegen der Unschärfe des Begriffs hat man auch jahrhundertelang auf diesen verzichtet und kam mit den deutlich schärferen Begriffen wie bspw. ‘Klugheit’, ‘Gerissenheit’, ‘Weisheit’ und ‘Vernunft’ blendend aus.

    Man muss verstehen, was S. gemeint hat, dann wird’s leichter, S. hatte natürlich den absehbaren kulturellen Rückbau im Auge, der bei weiterhin antiselektiver Immigration und einem Mangel an Geburtenförderung für die Mittelschicht (vs. Oberschicht!) anfallen könnte.

    MFG
    Dr. Webbaer

  2. Erblich oder genetisch bedingt

    Moin,

    ich habe leichte Schwierigkeiten mit dem “erblich”. Ist es denn nicht eher so, dass Intelligenz zu 50-80% genetisch bedingt ist, aber doch nicht zu 50-80% von der Intelligenz der Eltern ableitbar*?
    In meinem Sprachverständnis wäre nur letzteres “erblich”.

    CU

    *wie sollte das auch geschehen, Mittelwert der elterlichen Intelligenz, oder gewichteter Mittelwert oder….

  3. Was meint Sarrazin mit Intelligenz ?

    Sarrazin setzt die behaupteten tieferen durchschnittlichen Intelligenzquotienten des Hauptharstes der Immigranten als Argument gegen deren Zuwanderung ein.

    Er verwendet den Begriff Intelligenz also instrumental und unterscheidet kaum zwischen Bildung, anderen kulturellen Faktoren und der wie auch immer gearteten oder gemessenen geistigen Leistungsfähigkeit (wenn das die Intelligenz ist).

    Seine Einschätzung der Integrationsprobleme dieser Migranten mag in vielen Punkten richtig sein, gerade auch was die geringen Aussichten dieser Migranten betrifft, irgendeine Form von Karriere oder Aufstieg innerhalb der deutschen Gesellschaft zu erreichen. Seine Begründungen sind aber in weiten Teilen nur Rationalisierungen eines Bauchgefühls.

    Eigentlich ist das ganze Buch nichts anderes als eine Rationalisierung einer Angst vor einem Abstieg Deutschlands verursacht durch Migranten, die D nur belasten, D aber kaum etwas bringen.

    Wesentlich am Intelligenzargument ist hier die Überzeugung, dass diese wenig gebildeten und wenig qualifizierten Zuzüger aus biologischen Gründen gar nicht in der Lage sind, aufzusteigen. Nach Sarrazins Überzeugung ist hier also Hopfen und Malz verloren und alle Integrationsanstrengungen können nur begrenzte Erfolge zeitigen.

    Das ist eine sehr pessimistische Sicht und gegenüber den Migranten, die Sarrazin im Auge hat, auch schon fast rassistisch, mindestens aber defätistisch. Bildung, sogar Aufstieg wäre wohl für viele der jetzt schlecht qualifizierten Migranten oder mindestens für deren Kinder durchaus möglich. Das ist meine Überzeugung. Allerdings stehen dem kulturelle Faktoren entgegen, denn eine erfolgreiche Integration in eine andere Gesellschaft gelingt vor allem dann, wenn beide Seiten, die Migranten und die Gesellschaft die Integration wollen. Viele der Einwanderer in die USA wollen dort Karriere machen und sind auch zu Konzessionen bereit um das zu erreichen. Viele der von Sarrazin anvisierten Einwanderer aber bleiben in der Kultur ihres Herkuntslandes verhaftet und sehen kaum einen Grund sich anzupassen oder nur schon sich mit D weiter zu befassen als das nötig ist. Die Probleme, die Sarrazin diagnostiziert bezugsweise prognostiziert, sind also durchaus ernstzunehmen. Seine Begründungen aber sind oft hahnebüchen.

  4. Guter Brief

    Und dass Thilo Sarrazin (SPD) sehr verzerrend zitiert, kann ich nur unterstreichen. Meine Arbeiten zitiert er in seinem Buch ja gleich mehrfach so, dass ich das Frösteln kriege. Habe auch schon überlegt, ob ich dazu etwas bloggen soll.

  5. @Holzi

    Wesentlich am Intelligenzargument ist hier die Überzeugung, dass diese wenig gebildeten und wenig qualifizierten Zuzüg[l]er aus biologischen Gründen gar nicht in der Lage sind, aufzusteigen.

    Sarrazin wäre wesentlich besser bedient gewesen auf Intelligenz- und spez. Herkunftsanalysen zu verzichten und sich auf das Kulturelle zu beschränken. Dbzgl. sieht es bei Moslems, und anscheinend machen nur die Probleme, oder weiß jemand etwas über Italiener- oder Polen- oder Vietnamesen- oder Russenkonferenzen (bzw. die jeweiligen Religionszugeärigkeiten betreffend)?, eher mau aus.

    S. hat aber zu dieser Frage bereits mehrfach direkt telemedial Stellung genommen und seine Antwort war: Er wolle den Stand der Wissenschaft wiedergeben, und zwar möglichst komplett.

    Ferner führte er aus, dass er sich der zusätzlichen Angreifbarkeit bewusst ist, bat bei Gegenrede um möglichst umfangreiche Quellenarbeit und Belegkraft. – Ohne diesen Blog-Artikel natürlich diesbezüglich irgendwie kritisieren zu wollen…
    MFG
    Dr. Webbaer

  6. Gewichtig:

    Das sind gravierende, sehr harte Einwände, Herr Grüter! Alle Achtung, hier wird an Fundamenten gerüttelt!!!

  7. Dieser Sarrazin:

    Freilich sollte man es sich nicht mit seiner Futterkrippe verscherzen. Denn es ist so: wenn man heutzutage den Sarrazin kritisiert nimmt man schwere wirtschaftliche Nachteile in Kauf (oder wie auch immer; ist ja auch egal).
    Zu ihrer Frage: Ich glaube Sarrazin geht (restlos hirnrissigerweise) davon aus, dass man unterschiedliche Bevölkerungen sehr wohl auf ihre Intelligenz vergleichen kann, da a) Intelligenztests die allgemeine Intelligenz erfassen (d.h. nicht bloß ein kulturelles, gar nicht vergleichbares Phänomen) und b) wenn man für England den IQ hundert setzt, man etwa errechnen kann, wie andere Bevölkerungen im Vergleich zum englischen Testergebnis abschneiden.

  8. P.S.: Rohtestwerte:

    Rein theoretisch könnten allerdings vielleicht (bspw) die Rohtestwerte gewisser Tests über Ländergrenzen hinweg verglichen werden.

  9. “Erblichkeit”

    Ist “Erblichkeit” nicht schlicht der Anteil der genetischen Varianz an der Gesamtvarianz, die sich aus genetischer und umweltbedingter Varianz zusammensetzt? Damit ist sie per Definition eine Funktion der Umwelt. Aber selbst wenn die “Erblichkeit” in jeder Umwelt 100% betragen würde, könnten die Ersten in der einen Umwelt die Letzten in einer anderen sein, ohne dass sich dafür die genetische Zusammensetzung der betrachteten Population ändern müsste. Ich glaube, Richard Lewontin hat solche Zusammenhänge sehr anschaulich dargestellt.

  10. kurz und knapp

    logisch und erhellend.
    Selbst der “Dümmste” wird doch wohl endlich begreifen, was an Sarrazins Thesen dran ist—
    hoffe ich.

  11. internationale Vergleichbarkeit des IQ

    Sarrazin bezieht sich ganz anscheinend auf bestimmte Arbeiten amer. Wissenschaftler. [1]
    Gerne dbzgl. selbst recherchieren, das Thema ist natürlich problematisch (der IQ ist eine Art kulturelle Leistungskontrolle, zudem auch dezent formuliert pauschal und wie der Schreiber dieser Zeilen findet: nicht sehr hilfreich) und zudem weitgehend tabuisiert. [2]

    MFG
    Dr. Webbaer (der nicht annehmen würde, dass S. direkte Fehler gemacht hat, er hat ja nach eigenen Angaben “nur” zusammengestellt – wobei Zusammenstellungen dieser Art aus sich heraus politisch sind)

    [1] Quellenarbeit – siehe Buch ‘D schafft sich ab’
    [2] was auch nicht hilfreich ist

  12. Der Hammer:

    Analog zu Nietzsche:
    Grüter-der mit dem Hammer bloggt.
    Jetzt müssen wir bloß noch den Sarrazin auf Ihre (vernichtende) Kritik aufmerksam machen; dann is alles wieder im Lot.

  13. Lieber Herr Grüter,

    ich beteilige mich hier an der Diskussion, ohne das Buch von Sarrazin gelesen zu haben. (Mein Vorsschlag, es mal zu kaufen, erzeugte in meiner Familie helle Empörung – “ihn auch noch daran verdienen lassen” – so dass ich als Kompromiss vorschlug, es mal antiquarisch zu erwerben.)

    Vieles an der Diskussion erinnerte mich an Diskussionen in den 70-ern, als z.B. Hans Jürgen Eysenck ein Buch über dieses Thema schrieb “Die Ungleichheit der Menschen”. Was mir schon damals auffiel: Die Aussage “Die Intelligenz ist zu x% erblich und zu (100-x)% durch Umwelteinflüsse determiniert, ist technisch als Aufspaltung der totalen Varianz in einer erbbedingte und eine umweltbedingte Varianz zu lesen. In einem der Kommentare ist dankenswerterweise schon darauf hingewiesen worden. (Dies hätte rein statistisch zur Folge, dass bei identischen Bedingungen die Intelligenz sich zu 100% als erblich ergibt, ohne an der Population überhaupt etwas zu ändern.)

    Dieser Sachverhalt ist nicht vermittelbar. (Ich sage das mal so apodiktisch, jedenfalls nicht ohne einen gewissen working skill in statistischer Methodologie mitzubringen.)

    Die Wortwahl von Sarrazin kann man also angreifen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es die Kritiker besser machen.

    Etwas pingelig empfinde ich auch die Kritik an der folgenden Formulierung “Seit der Reformation hat sie [die evangelische Kirche] die intelligentesten Knaben für die geistliche Laufbahn ausgewählt.” Ob man jetzt den Protestantismus zusammenfasst oder nicht, hier will man wohl zum Ausdruck bringen, dass der Protestantismus – gleich welcher Ausprägung – kein Zölibat kennt, und der protestantische Pfarrer zum Genpool weiterhin beitragen kann.

    Dass es den Intelligenzbegriff als technischen Begriff erst viel später gegeben hat, stört mich ebenfalls nicht so sehr. (Vergleichen Sie es mit dem Temperaturbegriff, der auch erst spät präzisiert wurde.)

    Wie sieht es nun mit der Vergleichbarkeit von Nationen aus? Mein erster Gedanke dabei war: Wie sieht es denn mit der Vergleichbarkeit der Abiturienten bundesweit aus? 🙂
    Man könnte ein bundeseinheitliches Zentralabitur einführen, verzichtet aber aus politischen Gründen (vorerst) darauf. Mir ist nicht ganz klar, warum analog nicht auch geeignete Intelligenztests nationenübergreifend durchgeführt werden könnten.

    Hat man das nie gemacht? (Ich selbst weiß es nicht.)

    Kommen wir zum vorletzten Punkt: Steigt der IQ prozentual oder punktemäßig. Normiert man die Kurven nicht auf 100 sondern beläßt es bei irgendwelchen Rohwerten, dann hat sich anscheinend der Mittelwert hiervon im Laufe der Zeit erhöht. Auch hier würde ich es als kleinlich empfinden, eine Steigerung des Mittelwertes (der Rohwerte) nicht prozentual ausdrücken zu dürfen.

    Es ist Ihr letzter Punkt, der stark ist: “Also vermehrte sich die Unterschicht zwischen etwa 1800 und 1950 in ganz Westeuropa deutlich überproportional. Ich habe aber nirgendwo einen Nachweis gefunden, dass die Intelligenz in Europa daraufhin erkennbar gesunken wäre.” Dem scheint das Phänomen zugrunde zu liegen, was (schon von Eysenck) als Regression zum Mittel, beschrieben wird.

    Diesen Aspekt argumentativ nicht genügend berücksichtigt zu haben, das kann man Sarrazin vorwerfen.

    Mit freundlichen Grüßen, Hans-Jürgen Steffens

  14. @Hans-Jürgen Steffens

    Erst mal vielen Dank für den durchdachten und ausführlichen Kommentar. In der Tat ist meine Kritik etwas punktuell, sie soll auch nur exemplarisch darauf hinweisen, dass Herr Sarrazin seine Behauptung, keine Fehler gemacht zu haben, nicht aufrecht erhalten kann. So ist seine Äußerung, die protestantische Kirche habe jahrhundertelang die intelligentesten Knaben zur (vermehrungsfreudigen) Pfarrern gemacht, tatsächlich nicht mehr als ein Klischee. Die Behauptung ist weder zu beweisen noch zu widerlegen.
    Es mag auch kleinlich klingen, wenn ich ihm vorwerfe, auf eine Rangliste fälschlich Prozentabstände anzuwenden. So ein Fehler sollte aber einem studierten Volkswirt eigentlich nicht unterlaufen. Nur zur Verdeutlichung: Wenn bei einem Hundertmeterlauf nur die Rangliste veröffentlicht wird, sagen wir, Erster bis Zehnter, dann ist der Dritte nicht etwa 10% besser als der Vierte.
    Ein internationaler IQ-Vergleich ist tatsächlich schwierig. Der IQ ist so geeicht, dass der Mittelwert, der über eine Eichstichprobe ermittelt wird, dem IQ von 100 entspricht. Das gibt keine Auskunft darüber, wie viele Aufgaben richtig gelöst sein mussten, um auf diesen Wert zu kommen. Die beste Annäherung an einen internationalen IQ-Vergleich bieten derzeit vermutlich die PISA-Studien. Es gibt Psychologen, die davon ausgehen, dass die PISA-Aufgaben einem IQ-Test weitgehend vergleichbar sind (z.B. der deutsche Psychologe Heiner Rindermann). Nun wurde der PISA-Test aber nicht geschaffen, um die Intelligenz einer Nation widerzuspiegeln, sondern um ihr Schulsystem zu überprüfen. Hier zeigt sich wieder, wie sehr sich die Begriffe Bildung und Intelligenz überlappen.
    Und noch einmal: Es wäre gut, wenn Herr Sarrazin die Einwände gegen sein Buch etwas ernster nimmt und nicht nur behauptet, er habe nichts falsch gemacht. Das führt dazu, die Diskussion auf eine emotionale Ebene zu verlagern. Das ist aber nicht hilfreich.