Gesichter und Menschen

BLOG: Gedankenwerkstatt

die Psychologie irrationalen Denkens
Gedankenwerkstatt

Über alles Mögliche habe ich in diesem Blog geschrieben, aber mein eigentliches Forschungsgebiet habe noch nie vorgestellt. Das möchte ich jetzt nachholen. Ich habe das Glück, ein wirklich faszinierendes Gebiet der Neurowissenschaft zu erkunden: die Störungen der Gesichtserkennung.

Die unmittelbare und sichere Erkennung von Gesichtern ist eine der erstaunlichsten Leistungen des menschlichen Gehirns. Für etwa 2,5% der Bevölkerung ist es allerdings nicht selbstverständlich: Sie leiden unter einer Gesichtserkennungsschwäche. Das zungenbrecherische Fachwort lautet Prosopagnosie (gesprochen Prosop-agnosie).

Das Gesicht liefert erstaunlich viele Informationen über unsere Mitmenschen. Ein Blick ins Gesicht zeigt uns als Erstes, ob wir den Gegenüber kennen. Und selbst wenn nicht, wissen wir immerhin sein Geschlecht, sein ungefähres Alter und seinen Gesundheitszustand. Gefühle lassen sich ebenfalls zuverlässig aus dem Gesichtsausdruck ermitteln. Die Augen zeigen mit einer Genauigkeit von 5° an, wohin jemand blickt. Selbst die Sprache ist besser verständlich, wenn wir dem Gegenüber ins Gesicht sehen. Erst im letzten Jahr hat eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Katharina von Kriegstein nachgewiesen, dass unser Gehirn die Vorstellung eines sprechenden Gesichts benutzt, um das Sprachverständnis zu verbessern.
Ganz nebenbei ist das Gesicht auch ein wichtiger Faktor der Attraktivität. Das Gesicht ist also der zentrale Angelpunkt für das soziale Leben der Menschen. So ist es kein Wunder, dass große Teile des Gehirns an der Auswertung der Gesichtsinformationen beteiligt sind.
Unser Gehirn sucht regelrecht nach Gesichtern, wie das Bild des italienischen Malers Guiseppe Arcimboldo hier beispielhaft zeigt.
Guiseppe Arcimboldo: Herbst
Mit bildgebenden Verfahren wie der funktionalen Magnetresonanztomographie (englisch fMRI für functional Magnetic Resonance imaging) lässt sich das Gehirn sozusagen bei der Arbeit beobachten. Dabei hat sich gezeigt, dass beim Betrachten von Gesichtern drei Gebiete besonders aktiv sind: Das Fusiform Face Area (FFA), das Occipital Face Area (OFA) und ein Bereich im Sulcus Temporalis Superior (STS). Fusiform heißt spindelförmig. Nicht der Bereich selbst hat dieses Aussehen, sondern die Gehirnwindung (der Gyrus) im Schläfenlappen, auf er liegt.
Das Occipital Face Area liegt im Hinterhauptslappen und den Gesichtsbereich des Sulcus Temporalis Superior (Sulcus: Einsenkung zwischen zwei Gyri) findet man am Übergang vom Schläfenlappen zum Seitenlappen. Was geschieht dort? Das wissen wir nicht so genau. Zumal diese Bereiche nicht bei allen Menschen gleich groß sind, und beispielsweise die FFA nicht bei allen Menschen überhaupt nachweisbar ist. Generell werden FFA und OFA eher mit der Gesichtserkennung in Verbindung gebracht, der Gesichtsbereich des STS mit der Gesichtsverarbeitung im sozialen Kontext.
Eine Metastudie hat gezeigt, dass die meisten Menschen mit einer Gesichtserkennungsstörung nach Schlaganfall einen Gewebsdefekt im Bereich des OFA zeigt. Allerdings sind die Funktionen verschiedenen Bereiche miteinander verschränkt wie die Zahnräder eines komplizierten Uhrwerks. Ein Schlaganfall wirkt etwa so, als würde man eine Ladung Schrot gegen das Uhrwerk schießen. Wenn ich auf eine bestimmte Stelle schieße, kann der entstehende Fehler immer ähnlich sein, wegen der vielfachen Rückwirkungen auf andere Bereiche weiß ich trotzdem nicht, welche Funktion tatsächlich gestört ist. Außerdem manchmal kann das Gehirns die Funktion ausgefallener Nervenzellen auf andere Bereiche verlagern und damit einen Ausfall langsam ausgleichen.
Der Übergangsbereich zwischen Hinterhauptslappen und Schläfenlappen ist für eine intakte Gesichtserkennung sicherlich notwendig, aber wir wissen nicht sicher, welche Verarbeitungsschritte dort wirklich stattfinden. Es gibt aber nicht nur eine Prosopagnosie nach Gehirnschaden, die Gesichtserkennung kann auch von Geburt an gestört sein.
Kongenitale Prosopagnosie – Die angeborene Schwäche der Gesichtsverarbeitung
Wie Martina Grüter herausgefunden hat, ist diese Form der Prosopagnosie ausgesprochen häufig und zudem erblich. In einer Studie, an der ich auch beteiligt war, haben wir die Prävalenz zu etwa 2,5% bestimmt. Das war eine echte Überraschung, nicht nur für uns, sondern für die gesamte Fachwelt. Bisher galt die sogenannte kongenitale Prosopagnosie als absolute Ausnahmeerscheinung. Die Neurowissenschaft hatte also eine weit verbreitete Schwäche bei einer Gehirnfunktion übersehen, die für das menschliche Zusammenleben von geradezu einzigartiger Bedeutung ist. Kein Wunder also, dass wir zunächst auf Skepsis stießen.
Inzwischen besteht kein Zweifel mehr, dass die kongenitale Prosopagnosie tatsächlich eine häufige Wahrnehmungsschwäche ist. Die Betroffenen kommen damit aber erstaunlich gut klar. Sie verstecken ihre Schwäche meist so geschickt, dass ihre Mitmenschen tatsächlich nichts bemerken.
Die erbliche Variante hat eine Besonderheit, die sie für die Untersuchung der Gehirnfunktionen zur Gesichtserkennung besonders wertvoll macht: Sie hat einen einfachen Erbgang (autosomal-dominant) und beruht vermutlich auf einem einzelnen Gendefekt. Das Problem liegt also an einer ganz bestimmten, genau definierten Stelle. Bei der Schreib-Lese-Schwäche ist das zum Beispiel ganz anders: Sie kommt zwar in Familien gehäuft vor, aber der Erbgang ist komplex, sodass vermutlich eine Kombination verschiedenster Erbanlagen dafür anfällig macht.
Im zweiten Teil dieses Beitrags werde ich erläutern, welche Ergebnisse wir bei der Untersuchung der Symptome gefunden haben und warum die meisten Betroffenen ihre Gesichtserkennungsschwäche so gut verbergen können.

Ausgewählte Literatur

Behrmann M & Avidan G. (2005). Congenital prosopagnosia: Face-blind from birth. Trends in Cognitive Sciences, 9(4), 180–187.
Bouvier SE & Engel SA (2006). Behavioral deficits and cortical damage loci in cerebral achromatopsia. Cerebral Cortex, 16(2), 183–191.
Gobbini, MI & Haxby, JV (2007). Neural systems for recognition of familiar faces. Neuropsychologia, 45(1), 32–41.
Grüter M. (2004). Genetik der kongenitalen Prosopagnosie. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrads. Medizinische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Volltext
Grüter T. (2003). Ein Gesicht wie das andere. Gehirn & Geist 3/2003.
Grüter T. (2008). Betörender Anblick (Attraktivität von Gesichtern). Gehirn & Geist 9/2008.
Grüter T, Grüter M, Carbon C. (2008). Neural and genetic foundations of face recognition and prosopagnosia.
Journal of Neuropsychology 2:79-97.
von Kriegstein K, et al. (2008) Simulation of talking faces in the human brain improves auditory speech recognition. Proceedings of the National Academy of Science 105(18):6747-6752
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Veröffentlicht von

www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

8 Kommentare

  1. Frage

    Bei einem dramatischen Erlebnis (z.B. Banküberfall) werden Gesichter anders abgespeichert (als Gesamtbild) im Vergleich zu Gesichter von Menschen, welche man im nomalen sozialen Umgang kennenlernt.
    kann man diese unerschiedliche Speicherung per fMRT erkennen?

  2. @KRichard

    Das ist ein logischer Gedanke, weil Situationen, die von starken Gefühlen begleitet sind, viel besser im Gedächtnis haften. Im fMRI kann man das aber nicht erkennen. Man sieht wohl die emotionale Erregung, nicht aber eine andere Art der Speicherung. Vermutlich ist auch die Speicherung gleich, nur der Zugang ist erleichtert. Bei Menschen mit einer Gesichtserkennungsschwäche ist offenbar der Mechanismus zur Feinunterscheidung der Gesichter im visuellen Cortex gestört. Sie erinnern sich normal, aber in ihrem Gedächtnis unterscheiden sich die Gesichter zu wenig voneinander, um eine sichere Aussage zu erlauben. In einer aktuellen Arbeit haben wir festgestellt, dass Menschen mit einer angeborenen Prosopagnosie nicht zuverlässig angeben können, wie markant ein Gesicht ist, also wie sehr es in einer Menschenmenge auffallen würde. Die Antworten entsprachen annähernd einem Zufallsmuster. Andererseits achten Menschen mit Gesichtserkennungsschwäche wesentlich mehr auf andere Merkmale. Um in Ihrem Beispiel zu bleiben, würden sie vielleicht nicht das Gesicht eines Bankräubers identifizieren, wohl aber seine Stimme oder sein Gangbild. Tatsächlich würden sie einen maskierten Räuber vermutlich zuverlässiger wiedererkennen, als jemand ohne Prosopagnosie es könnte.

    Literatur:

    Carbon, C. C., Grüter, T., Grüter, M., Weber, J. E., & Lueschow, A. (in press). Dissociation of facial attractiveness and distinctiveness processing in congenital prosopagnosia. Visual Cognition.

  3. Prosopagnosie

    Offensichtlich ist bisher ein Defizit bei der Erkennung anderer dreidimenionaler Strukturen, “Gesichter” von Autos bstimmter Marken z.B., nicht untersucht. Ein “Trainspotter” ohne neuropsychologische Ausfälle wird ohne weiteres nur aus Rudimenten das “Gesicht” einer V200 (Lokbaureihe) erkennen. Liegen hier ähnliche funktionelle Vorgänge in den für die Gesichtserkennung beschriebenen neuroanatomischen Strukturen zu Grunde? Ist dies bereits untersucht? Ich plane eine kleine Untersuchungsreihe mit einem Prosopagnostiker mit fMRi und Ereigniskorrelierten Potenzialen. Vielleicht haben Sie Interesse?

  4. @ Stefan von Kegler

    Wir hatten überlegt, ob wir die Erkennungsleisten von Autofronten bei Prosopagnosie untersuchen sollten. Wir haben uns seinerzeit dagegen entschieden, weil bei Vorversuchen deutliche Geschlechtsunterschiede zu sehen waren. Offenbar interessierten sich Frauen sehr viel weniger als Männer für “Autogesichter”.
    Es gibt Untersuchungen bei Babys darüber, was ein Gesicht ausmacht. Ein Baby schenkt einem menschlichen Gesicht mehr Aufmerksamkeit als einem unbelebten Gegenstand. Man hat also den Babys sehr schematische Zeichnungen eines Gesichts gezeigt und damit festzustellen versucht, welches die Mindestanforderungen für die Erkennung eines Gesichts sind.
    Ein “Trainspotter” ohne neuropsychologische Ausfälle wird ohne weiteres nur aus Rudimenten das “Gesicht” einer V200 (Lokbaureihe) erkennen. Liegen hier ähnliche funktionelle Vorgänge in den für die Gesichtserkennung beschriebenen neuroanatomischen Strukturen zu Grunde? Ist dies bereits untersucht?
    Es gibt derzeit eine nicht entschiedene Kontroverse, ob das Gehirn Gesichter gesondert verarbeitet oder ob es sich dabei lediglich um eine Verarbeitung im Sinne einer genauen Unterscheidung von sehr ähnlichen Reizen handelt, also um den Erwerb einer visuellen Expertise. Die Vertreter der letzteren These argumentieren, dass alle Menschen Experten für Gesichter sind, weil sie ständig vor der Aufgabe stehen, sehr ähnliche Gesichter sicher auseinander zu halten. Ihre Gegner argumentieren, dass es in fMRI-Untersuchungen deutliche Anzeichen dafür gibt, das bestimmte Gehirnregionen ausschließlich für Gesichter zuständig sind. Der Streit ist, wie gesagt, noch nicht entschieden.

    Wir helfen selbstverständlich gerne bei der Untersuchung eines Patienten mit Prosopagnosie. Ich schlage vor, dass sie mir dazu eine direkte Mail schicken.

  5. Betroffen

    Sehr spannend und ich gehöre zu den Betroffenen. Genau wie meine Mutter, meine Oma mütterlicher seits, meine beiden Brüder und vermutlich auch meine beiden Töchter (na, zumindest bei einer bin ich mir sicher. Sie hatte ihre Mitschülerin, mit der sie seit anderthalb Jahren zur Schule geht, beim wöchentlichen Vereinstanzen nicht erkannt, als sie das erste mal dort war.) Ich erkenne Menschen allerdings recht gut an der Stimme, am Gang und Ähnlichem. Bei Kindern und alten Leuten finde ich eine Erkennung besonders schwierig.
    Das erste mal, dass ich von der Krankheit gelesen habe, ist ca. drei Jahre her. Mein Mann schickte mir eine Mail mit einem Link zu einem entsprechenden Spiegel-Artikel, da er der Meinung war, dass ich genau das haben müsste. Ich war begeistert, einen Namen für meine nicht erklärbare Unfähigkeit zu haben. Es erklärt nun auch, warum ich eben nicht die Kinder aus den Parallelklassen kannte, wie sonst alle anderen.
    Ich google nun also immer mal wieder nach dieser Krankheit und bin so auf diesen Blog gestoßen und freue mich, dass auf diesem Gebiet geforscht wird. Bin ich doch nun endlich nicht mehr einfach zu uninteressiert, arrogant, zerstreut oder was einem sonst noch nachgesagt wird.

  6. Gesichter und Menschen

    Wo ist den der zweite Teil dieses Beitrags? Ich wüßte zu gern, warum ich meine Prosop-Agnosie so gut verbergen kann.
    Kann ich denn? Ja, aber mit merklichen Beeinträchtigungen.

  7. Gesichtserkennungsschwäche

    Habe erst vor einem Jahr erfahren,dass meine
    P. kein Alzheimer ist,bin 69J. “Leide” an diesem merkwürdigen Symptom schon seit langem,manchmal etwas peinlch,manche halten meine Entschuldigung für ein putzige Ausrede.
    Habe dafür(?) eine Stärke: Jemand,den ich kenne,aber seit Jahren nicht mehr gesehen oder gehört habe,ruft mich unerwartet an und
    schon beim buchstäblich ersten Ton (nicht Name) erkenne ich die Person…..