Das Bild des Helden

BLOG: Gedankenwerkstatt

die Psychologie irrationalen Denkens
Gedankenwerkstatt

In der Wissenschaft geht es nicht zuletzt darum, ungewöhnliche Fragen zu stellen, Gewohntes neu zu betrachten, und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Sehen wir doch einmal, was zum Vorschein kommen kann, wenn wir dieses Verfahren auf die deutsche Nibelungensage anwenden. Dem Thema angemessen, habe ich den Beitrag als Kurzgeschichte gestaltet.

Der Drachentöter

Liebe Schankmaid, schönste aller Maiden dieses Dorfes, würdet Ihr mir einen letzten Becher Bier kredenzen? Ich weiß, Ihr räumt auf, die Gäste sind gegangen, der Wirt hat sich schlafen gelegt und ich werde wohl mein Strohlager im Stall beziehen müssen, das er mir so großzügig eingeräumt hat. Nun, mit den Kühen und Ziegen als Gesellschaft habe ich es wenigsten warm, also will ich nicht klagen.

Ich habe viel gesungen heute Abend und meine Kehle ist trocken. Für einen letzten Becher von Eurem guten Bier erzähle ich Euch die wahre Geschichte von Siegfried, dem Drachentöter. Sie ist nur für Euch, nicht jeder ist der Wahrheit wert, aber Ihr seid klug und wisst bereits: Wie es alle singen, kann es nicht gewesen sein. Siegfried, der hochgewachsene, blonde, blauäugige Recke, das Urbild germanischer Tugenden? Ha, so ein Blödsinn! Ja, ich weiß es besser, denn Siegfried war mein Freund. Ein wahrer Freund! Ich danke ihm mein Leben., Drei Tage hatte ich in einer kleinen Stadt in einer Schenke gesungen, ich hatte die Gäste unterhalten und – ja liebe Maid – ihre Frauen glücklich gemacht. Aber zwei ihrer Ehemänner waren gar nicht froh darüber und sie fielen mit Knüppeln über mich her, kaum dass ich aus der Tür getreten war. Siegfried kam zufällig die Straße entlang, entwand ihnen die Knüppel und zerbrach sie wie dürres Holz. Die beiden Schläger starrten ihn an, verzichteten auf jeden Protest und verschwanden.

„Danke“, sagte ich unter Schmerzen.

„Ihr seid ein Barde?“ fragte er.

„Volker, zu Euren Diensten“, sagte ich, während ich mich auf die Beine mühte. Er streckte seine Hand aus und ich nahm sie gerne. Die zwei Gauner hatten mich zwar bös verprügelt, aber meine Knochen waren ganz geblieben waren. Ich würde laufen können, das war das Wichtigste.

„Ich stehe in Eurer Schuld“, sagte ich.

Vor mir stand ein muskelbepackter Riese mit einem Langschwert auf dem Rücken. Er zog die Lippen zu einem strahlenden Grinsen auseinander.

„Ich bin … , ein wandernder Schwertkämpfer. Und ich suche einen Barden, der mit mir zieht und meinen Ruhm singt.“

„Du hast ihn gefunden. Wo willst du hin?“

„Wo man mein Schwert braucht.“

„Du kommst aus dem Süden?“

„Aus dem Norden, da gibt es viele von meiner Sorte.“

Ich glaubte ihm nicht, aber schließlich hatte er mein Leben gerettet, es wäre unhöflich gewesen, seine Worte anzuzweifeln. Er fuhr fort:

„Lass uns jetzt nach Westen ziehen. Ich hörte, der Burgundenfürst Gundahar sucht einen guten Kämpfer.“

Für mich war eine Richtung so gut wie die andere. Er war, so glaube ich, von den Römern ausgebildet worden, seine Schwertkunst war besser als sie hier gelehrt wird. Seinen wahren Namen darf ich nicht nennen, ich hab’s ihm versprochen. Und ich war es auch, der ihm den Namen Siegfried gab. Wahrlich, holde Schönheit, so war es, das schwöre ich bei meiner Ehre. Ich erfuhr nie, woher er kam, wer seine Eltern waren, was er erlebt hatte. Wann immer ich ihn fragte, erfand er wundersame Mären. Wie kann man mit einem Mann reisen, fragt Ihr, der unablässig lügt? Ich bitte Euch, wer fragt nach der Wahrheit, wenn die Lüge so viel schöner klingt? Was er erzählte, goss ich in Verse, und bald folgte uns das Glück, wo immer wir gingen. Die Menschen starrten Siegfried an und lauschten meinen Heldengesängen. Mit offenem Mund saßen sie da wie junge Vögel und schnürten willig ihre Börsen auf. Bald tranken wir süßen Wein statt saures Bier und schliefen in Betten statt auf Stroh. Diesen weiten und warmen Mantel hier verdanke ich dieser glücklichen Zeit. Aber Siegfried wurde unzufrieden mit dem angenehmen Leben, er brauchte Kriegsgeschrei und Kampf.

„Sieh mich an“, sagte er eines Tages. „Warum sehe ich so aus?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich, „sag es mir und ich singe davon.“

„Bei Mime war ich in der Lehre, dem besten Schwertschmied in den Wäldern des Nordens. Er war ein Zwerg aus den Gebeinen der Erde und stark wie ein Baum. Aber bald übertraf ich ihn an Stärke und Gewandtheit. Dieses mächtige Schwert wurde mein Meisterstück. Da wurde Mime neidisch und plante heimlich meinen Tod. Sein Bruder war ein Drache – wirklich! Mein Wort darauf! – und er lauerte mir auf, um mich zu töten. Aber ich habe ihn erschlagen und in seinem schwarzen Blut gebadet. Drachenblut gerinnt und wird dann hart wie Horn, und so bin ich jetzt unverwundbar. Dieses Lied sollst du ihnen singen, Volker.“

„Alle jungen Heißsporne werden kommen, um dich zu fordern“, erwiderte ich sorgenvoll.

„Sollen sie kommen! Ich liebe den Kampf“, sagte er und setzte sein unvergleichliches Grinsen auf. Sie kamen wirklich, aber niemand vermochte ihn auch nur zu ritzen, so schnell war er mit dem Schwert. Was sagt ihr? Könnte er nicht wirklich einen Drachen erschlagen haben? Er war ein glänzender Schwertkämpfer und sicher kein entlaufener Schmiedegeselle. Auf der Klinge seines Schwerts waren die Worte ENSISVICTORISARENARUM eingraviert. Deshalb habe ich ihn Siegfried genannt. Und während seine Muskeln steinhart waren, war seine Haut so weich wie meine. Aber sei’s drum, als wir in Worms an Gundahars Hof erschienen, war Siegfrieds Ruf ihm schon vorausgeeilt Gundahar nahm ihn gerne in seine Reihen auf. Siegfried gewann viele Schlachten für den Fürsten und Gundahar wurde ihm so gewogen, dass er ihm sogar die Hand seiner Schwester versprach. Aber dann begann Gundahar von mehr Ruhm zu träumen als gut für ihn war. Er warf ein Auge auf das Reich der Königin Brunhild, doch das lag östlich des Flusses jenseits des Imperiums. Damit war es außer Reichweite. So freite er sie, aber sie wies ihn ab. Das war kein Wunder, sie hatte ihre Brüder getötet, um den Thron zu erlangen und war stärker als drei Männer. So schickte er schließlich Siegfried als Unterhändler und der schaffte es irgendwie, sie zu überzeugen. Er hat mir gesagt:

„Ich bin durch ihren Feuerring gegangen, aber sieh mich an! Feuer kann mir nichts anhaben!“

So bekam Gundahar seine Brunhild und Siegfried seine Krimhild. Aber glaub mir, Maid: Adelige Frouwen sind die Hölle! In der Hochzeitsnacht weigerte sich Brunhild, Gundahar zu empfangen, sie packte ihn, schnürte ihn mit seinem eigenen Gürtel zu einem Paket und hängte ihn an die Wand. Ich war nicht dabei, aber so gehen die Gerüchte. Danke für das Bier, schönste aller Maiden!

Gundahar war blamiert, und der ganze Hof hat gelacht. In der nächsten Nacht, als es richtig dunkel war, hat Siegfried Brunhild für ihn gefesselt. Er habe eine Tarnkappe getragen, sagte er mir grinsend. Als ob er das nötig gehabt hätte! Gundahar hatte Ruhe im Bett, aber bald stritten die hohen Frouwen wie die Marktweiber! Und schnell kam heraus, was Siegfried getan hatte. Brunhild und ihre Hofclique wollten seinen Tod, aber er hat nur gelacht. Böse Omen erschienen am Himmel und ich beschwor ihn, zu fliehen. „Fliehen?“, sagte er, „jetzt, wo es spannend wird?“

Ein Fleck auf seinem Rücken wurde zu seinem Schicksal. Er war rosig wie bei einem Baby, und er behauptete, er habe nicht gemerkt, dass sich ein Lindenblatt auf seine Haut gelegt habe, bevor er im Drachenblut badete. Nur dort sei er verwundbar, sagte er.

„Nun muss ich nur noch auf einen kleinen Fleck meiner wertvollen Haut aufpassen“, erklärte er mir grinsend, als ich ihn darauf ansprach. „Ist doch eine gute Idee, oder?“

Ich ahnte Böses, und wirklich, bald haben sie ihm auf der Jagd einen Speer in den Rücken geworfen. Sie hassten ihn, er war ihnen fremd, und seine Kraft machte ihnen Angst. Auch mir wollten sie an den Kragen, aber ich bin rechtzeitig weg.

So singe ich weiter meine Lieder, von dem großen blonden Helden, den es niemals gab. Und keinem fällt es auf! Aber du, schönes Kind, hast es sicher längst geahnt. Wie sieht wohl ein Mann aus, der in Drachenblut badet? Ganz recht: Er ist über und über schwarz. Selbst wenn er vorher blond war, nachher kann er nur schwarz sein. Siegried war ein Schwertkämpfer aus den afrikanischen Provinzen des Imperiums. Die Drachengeschichte hatte er sich für die germanischen Hinterwäldler ausgedacht, und sie hatten sie geschluckt. Immer warte ich darauf, dass die Leute lachen, wenn es heißt, Siegfried war hellhäutig und blond. Sie müssten faules Gemüse nach mir werfen, weil ich sie für dumm verkaufen will. Aber nein, die Menschen glauben, was sie glauben wollen. Siegfried soll einer von ihnen sein, blauäugig und strohköpfig.

Mein Becher ist leer, Eure Arbeit ist fertig, und ich muss gehen. Ein einsamer Barde werde ich sein in dieser Nacht, mit Kühen als einziger Gesellschaft. Wie viel wärmer ist ein Lager, wenn zwei es sich teilen? Ihr steht noch in der Tür, ist dort Eure Kammer? Wie recht Ihr habt: Zwei zusammen schlafen besser als einer und jede Decke reicht auch für zwei! Ich schwöre, Ihr werdet es nicht bereuen.

Anmerkungen

Zum Namen Siegfried: Die lateinische Inschrift auf dem Schwert (ENSISVICTORISARENARUM) bedeutet übersetzt Schwert des Siegers der Arenen. Der Name Siegfried setzt sich aus Sieg und Fried zusammen. Fried steht für einen geschützten oder umzäunten Bereich. Das kann natürlich auch ein Kampfplatz sein. Ich habe mir deshalb die Freiheit genommen, den Begriff „Sieger der Arenen“ als „Siegfried“ zu übersetzen. Diese Bedeutung ist keineswegs verbürgt, sie passt nur gut zur Geschichte.

Brunhild: Es ist weder durch historische Forschungen noch durch das Nibelungenlied belegt, dass Brunhild Königin eines angrenzenden Reichs war. Das habe ich für die Kurzgeschichte erfunden. Ich bitte, mir das nachzusehen.

Niebelungensage: Mit dem Inhalt der Nibelungensage verfahre ich recht frei, um ihn geht es nur am Rande. Eine kurze Inhaltsangabe mit Diskussion des historischen Hintergrunds und der Entstehungsgeschichte gibt es der Website Worms-City.

Gundahar: König eines nur kurz bestehenden Burgundenreichs am Rhein (ca. 410-437 n. Chr.). Xanten, der angebliche Herkunftsort Siegfrieds, war zu dieser Zeit noch eine römische Kolonie. Sie wurde allerdings kurz danach aufgegeben.

Und zum Schluss: die Frage

Die Frage an die Nibelungensage lautet natürlich: Wie würde wohl jemand aussehen, der behauptet, in Drachenblut gebadet zu haben und von dem geronnenen Blut ganz bedeckt zu sein? Geronnenes Blut ist dunkelrot oder schwarz.Das ist natürlich keine Theorie, nicht mal eine Hypothese. Es ist eine wilde Spekulation, die einfach Spaß macht.

Es wäre doch eine wunderschöne Ironie der Geschichte, wenn das Vorbild des deutschesten aller deutschen Helden ein schwarzer römischer Schwertkämpfer war.

 

Änderungen:

Einige Formulierungen deutlicher gemacht, letzter Satz (“Höre ich homerisches Gelächter”) gestrichen. Passt irgendwie nicht. (21.4. 20.15)

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www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

6 Kommentare

  1. @D.Müller

    Zur Verteidigung der Lindwürmer muss man sagen, dass sie keineswegs wirbellose Würmer sind, sondern tatsächlich reptilienartige Drachen. Siehe beispielsweise den Lindwurmbrunnen in Klagenfurt, oder den Eintrag Lindwurm der Wikipedia. Eine Grasmücke ist schließlich auch kein Insekt.

  2. Häh?

    “Es wäre doch eine wunderschöne Ironie der Geschichte, wenn das Vorbild des deutschesten aller deutschen Helden ein schwarzer römischer Schwertkämpfer war. Höre ich irgendwo homerisches Gelächter?”

    Ich kann mir den Achill durchaus als Eskimo vorstellen, nicht aber, dass Homer oder die olympischen Götter darüber lachen könnten.

    Was soll das?

  3. @Helmut Wicht

    Die Götter könnten darüber lachen, wie sehr sich Menschen ihre Wahrnehmung von Dingen und Ereignissen zurechtbiegen. Und sie hätten recht.

  4. Würmer

    “Zur Verteidigung der Lindwürmer muss man sagen, dass sie keineswegs wirbellose Würmer sind, sondern tatsächlich reptilienartige Drachen.”

    Kann man nicht so sagen. Das sieht jeder Regisseur anders. Ich hab mal einen Wilden Wurm im Wilden Wald gesehen, der sah aus wie eine dicke, fette, riesengroße Raupe. Am beliebtesten scheinen allerdings in den letzten Jahrzehnten Drachen zu sein, denen man ansieht, daß sie Maschinen sind. Besonders gut hat mir einer gefallen, der sah aus wie ein Bagger aus Bob der Baumeister.