Nature sucht Lehren aus dem Brexit

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die Psychologie irrationalen Denkens
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Die Zeitschrift Nature hat in ihrer Ausgabe vom 28. Juli die Überlegungen von fünf Wissenschaftlern zu den Lehren aus dem Brexit veröffentlicht. Das Ergebnis ist wenig hilfreich, aber durchaus erhellend.

Für die Wissenschaft ist der Brexit eine schlechte Nachricht. Nature schreibt: „Das britische Votum zum Verlassen der EU gefährdet das Budget der Wissenschaftler, die Zusammenarbeit, die Stellen und die Studenten; es hinterlässt eine angeschlagene Nation und ein verletzliches Europa. Diese Zeit der Spaltung lässt Wissenschaftler darüber nachsinnen1, wie sie am besten einen Beitrag leisten können.“

Die Einleitung lässt einige Fragen offen. Wozu sollen die Forscher beitragen? Und wie ist der Begriff „nachsinnen“ zu verstehen? Im englischen Original heißt es „Soul-searching“, eine Suche in der Seele, dort, wo sich Verstand und Intuition treffen. Bei angefragten Spitzenforschern aus den Bereichen Politik, Populismus, Geschichte, Wahlverfahren und Psychologie hoffte die Nature-Redaktion sicherlich auf gründlich fundierte Erkenntnisse, die in den aufgeregten Reaktionen der ersten Wochen nicht zu finden waren. Da dominierten unter den Wissenschaftlern die allgegenwärtigen Talkshow-Professoren. Sie haben die im Fernsehen besonders gefragte Fähigkeit, die aktuelle Situation im kluge Worte zu fassen. Fachwissen ist dabei weniger gefragt, und manchmal eher hinderlich.

Nun ist Nature keine Talkshow und hat einen Ruf zu verteidigen. Man darf also zumindest überlegte Beiträge erwarten. Vier der fünf Beiträge beschreiben zunächst in maximal drei Sätzen die Ursachen des Brexit aus ihrer Sicht, im fünften wird der Brexit nicht explizit erwähnt. Danach legen alle Autoren ausführlich2 dar, was aus ihrer Sicht jetzt geschehen sollte.

5 x geballtes Fachwissen

Den ersten Beitrag („Rethink social progress)“ hat der holländische Historiker Johan Schot geschrieben, der zur Zeit die Science Policy Research Unit der University of Sussex in dem malerischen Dorf Falmer bei Brighton in England leitet. Die Unit befasst sich mit der geschichtlichen Sicht auf tiefe Transformationen. Damit sind gesellschaftlichen Veränderungen gemeint, die gravierende Auswirkungen auf die Zukunft haben. Der Brexit gehört sicherlich dazu.

I
Schot bezeichnet den Brexit als „Rüffel des Volks für die Vernunft“ und verlangt ein dringendes Überdenken des sozialen Fortschritts. Konkreter wird es nicht. In langen Sätzen reiht er statt dessen gängigen Schlagworte aneinander, ohne dass ein einziger origineller Gedanke aufblitzt. Z.B.:

„Nötig sind neue Konstrukte für lokale, nationale und internationale Führungsstrukturen (governance), die Technokratie und Demokratie kombinieren, um das Demokratiedefizit zu reduzieren, von dem der Brexit ein Symptom ist.“

oder

„Stattdessen müssen wir darüber debattieren, wie die Produktion von Wissen zum sozialen Fortschritt beiträgt, um die gesellschaftlichen Herausforderungen und Umweltprobleme des 21. Jahrhunderts anzugehen.“

Sollte es wirklich so sein, dass die Wissenschaft zu wenig debattiert? Den Eindruck teile ich wirklich nicht. Aber etwas mehr Ergebnisse wären vielleicht nicht schlecht.

II
Der zweite Beitrag („Compare populist movements“) stammt aus Ungarn. Der Autor, der Politologe Levente Littvay von der privaten Central European University in Budapest, forscht zum Thema Populismus. Und genau den sieht er beim britischen EU-Referendum als zentrales Übel an. Die Brexiteers hätten die niedersten Instinkte der wirtschaftlich, sozial und kulturell Abgehängten angesprochen, Falschinformationen verbreitet und jede ernsthafte Debatte über die verheerenden Folgen des Brexit abgelehnt. Das sei kein rein britisches Problem, Populisten tauchten im Moment überall in Europa auf. Und deshalb brauche man jetzt qualitativ hochwertige Daten, für die man eine übernationale Bewertungsmethode entwickeln müsse. Die Erhebung solcher Daten sei aufwändig, aber notwendig, um besser zu verstehen, unter welchen Bedingungen Populismus gedeiht, um zu dokumentieren, ob er sich immer negativ auswirkt, und, falls ja, wie man ihn besiegt.

Zum Schluss stellt der Autor ein vielversprechendes Projekt vor, die fachübergreifende Initiative „Team Populism“ (populism.byu.edu), die sich dieser Aufgabe angenommen hat. Der Autor schließt: „Solche Initiativen sollten dabei helfen, die alarmierende Art von Politik anzugehen, die zum Brexit geführt hat.“

Das ist sicher eine verdienstvolle Arbeit, allerdings gibt es bereits eine ganze Reihe von Studien, die sich mit den Unterschieden zwischen populistischen Bewegungen in verschiedenen Ländern befassen. Auch wäre es eine unzulässige Verkürzung, die Brexit-Entscheidung der Briten auf die populistische Wahlkampfführung des Leave-Lagers zurückzuführen. Die Ursachen liegen tiefer und sind breiter gestreut. Und irgendwie hat Littvay auch zu erwähnen versäumt, dass er am Team Populism maßgeblich beteiligt ist.3

Wenn ein Wissenschaftler gebeten wird, über ein Problem nachzusinnen, sollte er dann nicht mehr zutage fördern, als eine Werbung für seine eigenen Projekte?

III
Der russisch-amerikanische Anthropologe Peter Turchin („Mine the past for patterns“) erwähnt den Brexit mit keinem Wort. Er hat sich auf die Vorhersage aktueller politischer Entwicklung durch mathematische Analysen geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten spezialisiert und dafür den Begriff „Kliodynamik“ erfunden4. Turchin beginnt seinen Kommentar zum Brexit mit der Bemerkung, dass es schwierig sein, Menschen zu einer Zusammenarbeit in sehr großen Gruppen wie der EU zu bewegen. Es sei auch schwierig zu verstehen, wie Menschen überhaupt kooperative Gesellschaften bilden. Aber man komme deutlich weiter, wenn man auf wissenschaftliche Weise historische Daten analysiere. Die EU sei zu schnell gewachsen, und inzwischen auch zu heterogen, schreibt Turchin. Man solle die Entwicklung von klassischen Imperien analysieren, um bessere Strukturen für die EU zu finden. Als erster Schritt solle man „massiv“ in Aspekte der Kliodynamik investieren, genauer gesagt, in die Forschung zur Frage, wie Menschen in der Vergangenheit eine Zusammenarbeit im großen sozialen Maßstab erreicht hätten.

Die Idee, dass eine massive Investition in die eigene Forschung die Welt zu einem besseren Ort macht, ist sicher schon vielen Forschern gekommen. Auch ohne dass sie dafür tief nachdenken müssten.

IV
Der amerikanische Politologe Steven J. Brams findet bei der gründlichen Durchsuchung seiner Seele die Idee eines anderen Abstimmungsverfahrens („Offer more voting options“). Brams‘ Spezialgebiet ist die Spieltheorie und die faire Aufteilung von Ressourcen sowie die Theorie von Wahlen und Abstimmungen. Man hätte mehr Alternativen anbieten sollen und den Wählern erlauben sollen, beliebig viele davon anzukreuzen. Approval voting (Wahl durch Zustimmung) lautet der Fachbegriff für dieses Verfahren. Der Wähler hat dabei die Freiheit zu sagen: „Ich akzeptiere die Alternativen 1,3 und 5, 2 und 4 gefallen mir nicht“. Eine Rangfolge darf er nicht angeben, das könnte zu einer ringförmigen Präferenz führen, die keine eindeutige Aussage zulässt. Nun ist das Brexit-Referendum gelaufen, aber bei ähnlichen vergleichbaren Abstimmungen könnte man das Approval Voting verwenden. Das empfiehlt zumindest Steven Brams. Vielleicht hätte er aber daran denken können, dass Volksabstimmungen in aller Regel nicht die genaue Meinung des Volks herausfinden sollen. Vielmehr will eine Gruppe oder Partei nachweisen, dass sie für ihre Politik eine Mehrheit findet.

Hilft dieser Beitrag also, den Brexit-Schock zu verarbeiten? Ich habe da meine Zweifel. Immerhin wissen wir jetzt, wie andere Staaten nach einer besonders fairen Abstimmung aus der EU ausscheiden können.

V
Den letzte Kommentar („Study how groups collaborate“) hat der österreichische, in Nottingham lehrende Psychologe Simon Gächter verfasst. Die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, könne als Skepsis gegenüber einer weitreichenden multilateralen Zusammenarbeit interpretiert werden, schreibt er. Man solle also untersuchen, unter welchen Bedingungen Gruppen zum gemeinsamen Vorteil kooperieren können.

„Neue experimentelle Studien sollten insbesondere den Einfluss der [Gruppen- oder Stammes-]Identität auf die Zusammenarbeit in und zwischen Gruppen untersuchen, wenn ein Zielkonflikt zwischen Eigeninteresse und gemeinsamem Vorteil besteht oder zu bestehen scheint.“

Es ist nicht unbedingt ein Zufall, dass solche Studien in sein Arbeitsgebiet fallen.

Lehren aus dem Brexit

Alle fünf Beiträge stammen von anerkannten Forschern auf ihrem Gebiet. Die Nature-Redaktion hat sie um „Soul-searchung“ gebeten. Die Ergebnisse lassen sich so zusammenfassen:

1 x „Weitere Debatten sind nötig.“
1 x „Ein anderes Abstimmungsverfahren für künftige Exit-Referenden wäre sinnvoll.“
3 x „Lehren? Können wir liefern, aber erst nach weiteren Forschungen.“5

Mit Verlaub: Das ist erbärmlich. Europa droht zu zerfallen und fünf renommierte Forscher geben auf ausdrückliche Anfrage von Nature keine sinnvollen Ratschläge. Die meisten Wissenschaftler sind fest davon überzeugt, dass eine enge internationale Zusammenarbeit wichtiger ist als je zuvor. Sonst werden wir Probleme wie Unterernährung, Seuchen, Kriege, mörderischen Fanatismus oder Klimawandel nicht besiegen können. Man dürfe Ziele wie Frieden, Wohlstand und Zusammenarbeit in Europa nicht den Politikern überlassen, schließt Peter Turchin seinen Kommentar. Nur dann müssen die Wissenschaftler dann auch konkrete Vorschläge machen. Sonst dürfen sie sich nicht beklagen, dass man sie nicht mehr fragt.

Anmerkungen

[1] Im Original: These schismatic times have researchers worldwide soul-searching over how best to contribute.

[2] Naja, so ausführlich wie das Format es hergibt: Nature hatte offenbar 500 Worte vorgegeben.

[3] Levente Littvay leitet das Team Survey der Initiative.
Link: https://populism.byu.edu/Pages/Surveys.aspx

[4] Klio ist die Muse der Geschichtsschreibung und der Heldendichtung.

[5] Ob historische Analysen wirklich Leitlinien für aktuelle Politik liefern können, ist durchaus zweifelhaft. Die EU lässt mit dem Reich Alexanders des Großen oder dem römischen Imperium kaum vergleichen. Die EU ist alles andere ein zentral gesteuertes Großreich, sondern ein freiwilliger Zusammenschluss von souveränen Nationalstaaten. Der Kern entstand aus der traumatischen Erfahrung der Weltkriege, die Erweiterung ist dem Zerfall des sowjetischen Imperiums geschuldet. Eine Analyse der EU auf der Grundlage historischer Imperien muss also in die Irre führen. Ich wage auch zu bezweifeln, ob man unbedingt neue Experimente braucht, um Aussagen darüber zu treffen, wie sich Menschen gegenüber der Mitgliedern der eigenen Gruppe im Vergleich zu Mitgliedern fremder Gruppen verhalten. Eine ganze Reihe von Studien aus den letzten Jahren zeigen eine deprimierende Tendenz, die eigene Gruppe unter alle Umständen zu bevorzugen.

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Veröffentlicht von

www.thomasgrueter.de

Thomas Grüter ist Arzt, Wissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er lebt und arbeitet in Münster.

13 Kommentare

  1. Immerhin scheinen die 5 Brexit-Diskussionsbeiträge als gemeinsamen Hintergrund die Frage nach den psychosozialen (psychohistorischen) Ursachen eines Phänomens wie des Brexits zu haben.
    Quasi eine anthropologische Fragestellung der Art: Unter welchen Bedingungen bilden sich erfolgreiche Kooperationen. Selber habe ich den Verdacht, dass gleichberechtigte Kooperationen zwischen Menschengruppen, die Millionen von Menschen umfassen, in der menschlichen “Art” , der menschlichen “Natur” gar nicht vorgesehen sind.
    Wenn solche Grossgruppen wie die USA, die EU, China etc. aber in unserer Zeit nötig und sinnvoll sind, dann müssen diese Grossgruppen wahrscheinlich völlig anders organisiert werden als Familien, Sippen und kulturell einheitliche Verbände. Intuitiv sehe ich folgende natürliche Organisationsform für solche Grossgebilde: Ein Grossgebilde sollte einen starken Föderalismus erlauben und die Bürger in den föderalen Einheiten (nicht unbedingt Nationalstaaten, eher “natürliche” Regionen) sollten mehrheitlich das Gefühl haben, das Grossgebilde bedeute für die föderale Einheit sowohl eine Entlastung als auch eine Ressource auf die man bei Bedarf zugreifen kann. Eine Entlastung, indem es der Region erlaubt bestimmte Aufgaben – wie die Verteidigung, die Grossforschung, Verträge mit anderen Grossgebilden – an das Grossgebilde abzugeben. Eine Ressource, indem die Region bei nötig gewordenen Umstrukturierungen/Modernisierungen etc. auf Fachleute und Fachwissen zurückgreifen kann, das im Grossgebilde unterhalten wird.

    Meiner Ansicht nach passt die heutige EU mit ihrer Tendenz, die Macht dort anzusiedeln wo die stärksten Staaten mit den stärksten Ökonomien sind, nicht zu diesem oben skizzierten Modell. Zudem gibt es in der heutigen EU noch kaum die Entlastung für die Mitglieder von der ich oben gesprochen habe. Es gibt eher die mindestens gefühlte Tendenz, dass Brüssel (als Repräsentant der EU) nun überall hineinreden will , dass da eine Art Superstaat heranwächst, der die Mitglieder kontrolliert, den Mitgliedern aber nicht etwas bringt, was sie vorher nicht schon hatten.
    Dieses Gefühl war mit ein Grund für den Brexit. Die Briten haben immer wieder durchschauen lassen, dass sie vor allem an Europa als Freihandelszone interessiert sind, nicht aber am Rest.

    Zudem stellt sich die Frage ob die EU im gegenwärtigen Zeitpunkt gut damit beraten ist, Mitglieder damit zu belohnen, dass sie nicht diskriminiert werden – im Gegensatz zu Nicht-Mitgliedern, die diskriminiert werden. Dieses diskriminatorische Modell geht so weit, dass es in der EU Überlegungen gibt, wie man Nicht-Mitglieder oder Austretende wie Grossbritannien mit möglichst grossen Handelsschranken und Ausschluss vom Netzwerk der EU-Wissenschaftler möglichst hart bestraft.

  2. Die Kritik , die im Artikel geäußert wird , spricht mir aus dem Herzen . Leider ist das , was die fünf hier abliefern , die beste Bestätigung für all diejenigen , die Wissenschaftler schon immer für abgehobene , arrogante Elfenbeinturmbewohner gehalten haben.

    zu I)
    “Rüffel des Volkes für die Vernunft”

    Aha. Die Vernunft steht also automatisch auf Seiten der Befürworter der EU .
    Blödsinn , wer als vernünftig gelten will , muß was dafür tun , einfach so , durch den Status als Wissenschaftler , legitimiert sich das nicht.
    Extrem überspitzt formuliert , man müßte auch Himmlers Ahnenerbe als vernünftig akzeptieren , dieser Logik folgend.

    zuII)
    “niedere Instinkte der Abgehängten”

    Unfassbare Arroganz. Das würde gelten , wenn es bei dem Referendum um die Internierung von Moslems oder vielleicht von Homosexuellen gegangen wäre , aber hier ging es um EU oder nicht.
    Wie kann man als Wissenschaftler nur so einen Schwachsinn absondern , mal abgesehen davon , daß das Abgehängtsein für die Betroffenen eine sehr existentielle Frage darstellt , und eben nicht nur eine akademische.

    Daß hinter den brexiteers auch Kräfte stehen , die an anderer Stelle solche Instinkte bedienen , ist hingegen richtig , muß aber dann auch so formuliert werden.

    Wüßte man es nicht besser , man müßte davon ausgehen , daß die fünf einer verdeckten Abordnung des europäischen Rechtspopulismus angehören , bessere Werbung können sie für selbigen nicht machen.

    • Ja, sind Aussagen wie “„Rüffel des Volkes für die Vernunft“ oder „niedere Instinkte der Abgehängten“ überhaupt wissenschaftliche Aussagen – oder sind es nicht vielmehr subjektive Beurteilungen, die nur mit dem Weltbild des Aussagenden erklärbar sind. Leider liefern “Wissenschaftler”, die sich mit Themen wie dem Brexit und seinen Ursachen beschäftigen oft nichts mehr als Meinungen zutage.

      Ich vermute sogar, viele Sozial-/und Humanwissenschaften (Zur Humanwissenschaft (englisch human science) zählen Wissenschaften, die sich mit dem Menschen als Forschungsobjekt befassen) sind bis heute gar keine Wissenschaften, denn es fehlt das fundierte Wissen über den Menschen, das diese “Wissenschaften” ja benötigen würden.

      Weil dieses tiefere Wissen über den Menschen bis heute fehlt, sind heute für die Menschheit eminent wichtige Wissensfelder wie die Ökonomie, die Politiologie und die Soziologie nicht wirklich wissenschaftlich fundiert, was zur Folge hat , dass Ökonomen, Politologen und Soziologen allenfalls zutreffende Aussagen über die Vergangenheit aber kaum verlässliche Aussagen über die Zukunft machen könnnen. Insbesondere können diese “Wissenschaftler” nicht sagen, wie sich die unmittelbare Zukunft aus dem Spannungsfeld der Gegenwart entwickelt. Die Ökonomen beipsielsweise wurden fast alle von der Finanzkrise 2007/08 überrascht. Inzwischen aber können sie diese Krise recht gut erklären. Eine Wissenschaft, die aber immer nur die Vergangenheit erklärt ist für mich nicht auf derselben Stufe wie die Naturwissenschaften – ja es ist in meinen Augen nicht einmal Wissenschaft.

  3. Mit Verlaub: Das ist erbärmlich. Europa droht zu zerfallen und fünf renommierte Forscher geben auf ausdrückliche Anfrage von Nature keine sinnvollen Ratschläge. Die meisten Wissenschaftler sind fest davon überzeugt, dass eine enge internationale Zusammenarbeit wichtiger ist als je zuvor. Sonst werden wir Probleme wie Unterernährung, Seuchen, Kriege, mörderischen Fanatismus oder Klimawandel nicht besiegen können.

    Grundierungsversuch:
    Vielleicht ist dies Älteren nicht ganz klar, Opa Webbaer auch nicht mehr der Jüngste, spricht bzw. schreibt hier abär Klartext:

    Europa (die EU wohl auch, nicht zu verwechseln mit ‘Europa’) wird zerfallen, aber nicht etwa weil der Schweinehund Erdoğan aufgegeben wird, aufgegeben werden muss, sondern weil es alsbald zu Segregation in Europa kommen wird.

    HTH
    Dr. Webbaer

    PS:
    Mangelhafte Fertilität und sogenannte politische Richtigkeit bereiten dem “Elefant im Zimmer” den Weg.
    Dies scheint unabänderlich, dies könnte alternativ thematisiert werden.
    Ansonsten schaut’s ein wenig nach Onanie aus.

  4. @Martin Holzherr

    Ich finde es durchaus richtig , wenn sich Wissenschaftler zu einem Thema wie dem brexit äußern und dabei auch Meinungen anbringen , Wissenschaftler sind ja nicht gezwungen , nur in ihrem Bereich zu bleiben ganz im Gegenteil.
    Dann unterliegen sie aber natürlich dem gleichen Anspruch ans Niveau wie jeder andere. Manche Wissenschaftler scheinen zu glauben – die fünf gehören dazu – daß sie schon deshalb was Vernünftiges zum Thema Politik sagen können , weil sie eben W. sind , aber vielleicht ist es auch einfach nur akademische Arroganz , bei vielen – nicht allen! – Journalisten , z.B. , findet sich das gleiche Verhalten.
    Wird aber auch von außen herangetragen , viele “Normalverbraucher” denken automatisch , daß jemand zu jedem Thema der Supercrack ist , weil er es tatsächlich auf einem speziellen Gebiet ist – und sind dann oft sehr enttäuscht.
    Vor der “Entwissenschaftlichung” der Geisteswissenschaften jedoch würde ich strikt warnen , dahinter steht etwas tief anti-intellektuelles , etwas anti-modernes , in solche Gesellschaft sollten Sie sich nicht begeben.

  5. Wie kann oder muss man Demokratie implementieren, damit sie einer hochkomplexen Welt besser gerecht wird? Wie verleiht man wissenschaftlichen und empirischen Erkenntnissen mehr Gewicht bei langfristig wirkenden Entscheidungen?
    Vielen Dank für die vielfältigen Anregungen zu einem sehr wichtigen Thema.
    Mehr als Anregungen zum eigenem vernetzten Denken, parallel zum zeitaufwendigen Studium einschlägiger Texte und Ideen, sind unter den gegebenen Vorgaben nicht zu erwarten.
    Zwei- oder mehrstufige Abstimmungen, wie beim Brexit vorgeschlagen, sind selbstverständlich sinnvoll, können aber nur Bausteine ausgefeilterer Konzepte sein. Alles oder Nichts Entscheidungen ( ohne Fallback) könnte man doch leicht vermeiden, da gibt es sehr viele andere Möglichkeiten. Alles oder Nichts Entscheidungen provozieren einfaches Denken und Populismus geradezu.

    • Zitat:

      Alles oder Nichts Entscheidungen provozieren einfaches Denken und Populismus geradezu.

      Entweder/Oder (binäre) Entscheidungen lassen sich aber häufig nicht vermeiden, sie werden einen oft durch die Umstände oder die Reaktion einer Gegenpartei aufgedrängt. Für Grossbritannien beispielsweise hätte eine vorübergehende Einschränkung der Personenfreizügigkeit eine Alternative zum Brexit sein können, denn die als ungebremst empfundene Immigration war mit ein Grund für die erfolgreichen Parolen Take back control und drawbridges up

      Die Alternative zu Ja oder Nein ist das, was man Kompromiss nennt. Die EU scheint in Bezug auf die 4 Freiheiten ( zu denen die Personenfreizügigkeit gehört) wenig kompromissbereit, denn sie betrachtet sie als nicht verhandelbare Essentialien. Praktisch alle anderen Abmachungen, die es in der EU gibt (z.b. bezüglich Budgetdefizit, Verschuldung oder finanz. Beistand), wurden dagegen schon mehrfach nicht eingehalten. Gefährlich für die EU wird es letzlich immer dann, wenn die Bindung durch EU-Gesetze und Regularien den Freiheits- und Aktionsspielraum eines Mitglieds so stark einschränkt, dass es destabilisierenden Entwicklungen nichts entgegensetzen kann. Ein Beispiel dafür ist das Bankenproblem (Verschuldung) im Italien, wo nach neuen EU-Regeln zuerst die Anleger bluten müssen – also Sparer/Pensionäre/Kleinanleger. Werden diese Regeln eingehalten, schadet das der gegenwärtigen italienischen Regierung, denn mit dem Guthaben verlieren die Wähler auch das Vertrauen in die Regierung. Ein weiteres Beispiel wo EU-Bindungen Lösungen verunmöglichen ist die Eurokrise und die Zwänge, die sich durch die gemeinsame Währung ergeben. Der Euro verunmöglicht Abwertungen und beraubt damit die ökonomisch schwächeren Länder einer traditionellen Antwort auf Wirtschaftskrisen: der Abwertung.
      Bis ein EU-Mitglied aber aus solchen Nachteilen einer EU-Mitgliedschaft die Konsequenzen zieht und austritt – bis dahin braucht es Einiges. Je schlechter such aber die EU entwickelt, je weniger Vorteile eine Mitgliedschaft bringt und je stärker die EU-Mitgliedschaft ein Land daran hindert sein eigenes Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, desto eher passiert ein Austritt.

  6. Vor vielen vielen Jahren gab es einmal eine Umfrage wohl beim Spiegel-Online, in der unter anderem gefragt wurde, ob die Wissenschaft mehr an der Politik beteiligt werden soll. Oder ob die Wissenschaft Politik machen soll (den genauen Wortlaut hab ich vergesen).

    Ich habe damals die Mitwirkung der Wissenschaft abgelehnt. All die Jahre hatte ich Gewissensbisse deswegen, weil man doch bei einer so auf Erkenntnis basierten Wissernschaft deren Wahrheiten politisch nicht ignorieren kann.

    Ihr Beitrag könnte mich jetzt wohl von den Gewissensbissen freisprechen – oder nicht?

    • Wissenschaftler sind nicht unbedingt bessere Menschen, und sie können auch keine Patentlösungen für die politischen Probleme der Welt aus dem Ärmel schütteln. Sie können sicherlich überprüfen, ob bestimmte politische Ziele überhaupt erreichbar sind, und wenn ja, wie dafür am besten vorgehen sollte. Die Vorstellungen über die ideale Gesellschaft sind unter Wissenschaftlern genauso heterogen wie im Rest der Gesellschaft. Die Widrigkeiten des Alltags bleiben auch einem Nobelpreisträger nicht erspart. Wissenschaftler sind oft stolz darauf, keine Vorurteile zu haben. Wenn man aber länger mit ihnen redet, bleibt davon oft nicht viel übrig. Ihre Vorurteile sind lediglich anderer Natur. Das ist nur menschlich, und sollte Wissenschaftler nicht daran hindern, sich genau wie jeder andere Mensch an der Politik zu beteiligen. Eine VIP-Behandlung dürfen sie aber nicht erwarten.
      “Die Wissenschaft” als einheitlicher Block, der Politik beeinflussen könnte, existiert nicht. Die Fragestellung bei Spiegel Online war also unsinnig. Das sollte eigentlich schon reichen, um Ihr Gewissen zu entlasten. Die schwachen Beiträge der fünf Wissenschaftler in Nature beweisen übrigens kein politisches Versagen “der Wissenschaft”. sie zeigen lediglich, dass fünf in ihrem Fachgebiet anerkannte Wissenschaftler kein Rezept dafür haben, wie man nationalistischen Aufwallungen am besten begegnet.

  7. Gesellschaft, Politik und Ökonomie verstehen ist heute immer noch eine Kunst und keine Wissenschaft. Diese Diagnose lässt sich an ganz vielen Themen festmachen.
    Beispielsweise bei der Einschätzung betreffend Zukunft der Eurozone wo es wiederholt Kommentare gibt, die die Eurozone gefährdet sehen durch die schlechten ökonomischen Aussichten von Ländern wie Italien oder sogar Frankreich unter dem Euro-Rahmen. Ein anderes Meinungslager dagegen sieht in der Eurozone die Chance für die langfristige Angleichung der ökonomischen Verhältnisse. Welches Lager richtig hat hängt von sehr vielen Faktoren ab. Beispielsweise von der Reformfähigkeit der ökonomisch schwächeren Länder. Denn diese Reformfähigkeit entscheide darüber ob die heute ökonomisch Schwächeren unter dem Euro überhaupt wieder eine Wachstumsdynamik entwickeln können (Italiens Pro-Kop-BIP ist seit Eintritt in die Eurozone gesunken). Letztlich enden wir bei anthropologischen und kulturellen Faktoren, die über die Zukunft bestimmen. Dabei wollen wir “nur” Aussagen über die wahrscheinlichste Politik- oder Ökonomieentwicklung machen .