Wozu Sex?

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Weshalb sich nahezu alle mehrzelligen Organismen geschlechtlich fortpflanzen ist Gegenstand vieler plausibler Theorien. Inzwischen gibt es auch experimentelle Daten.

Warum Sex, wenn man es auch bleiben lassen kann? Viele Tiere müssten sich die Mühe mit dem leidigen Boy-meets-Girl eigentlich gar nicht machen, sie sind ohne weiteres in der Lage, auch ohne Befruchtung Nachwuchs zu produzieren. Die Palette reicht von millimetergroßen Rädertierchen und Milben, denen es schon seit Jahrmillionen niemand mehr besorgt, bis hin zu großen Wirbeltieren.

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Letztere verzichten nur im Notfall auf Sex, aber eigentlich liegen die Vorteile der Jungfernzeugung auf der Hand: Jedes Individuum der Spezies bringt Nachkommen zur Welt und eine gegebene Population wächst automatisch schneller als bei sexueller Fortpflanzung, bei der ein Teil der Population nur Samenzellen hervorbringt[1]. Der ganze Ärger mit der Partnerwahl entfällt völlig (wie viel Energie das spart, dürfte für jeden Leser einsichtig sein).

Es bedarf also dringend einer Erklärung, warum Organismen Energie für die Paarung aufwenden, um dann nur die Hälfte ihrer Gene an die Nachkommen weiterzugeben, von denen außerdem noch einige nicht mal selbst wieder Nachkommen haben. Das ergibt alles keinen Sinn.

Tut es natürlich doch. Sogar sehr, wie wir bald sehen werden. Sex hat für die beteiligten Individuen theoretisch eine ganze Reihe Vorteile (neben den offensichtlichen). Zum einen bewirkt regelmäßiger Geschlechtsverkehr, dass die Mitglieder einer Abstammungsreihe genetisch divers sind, statt aus identischen Klonen zu bestehen. Praktisch ist das, wenn ein Individuum sich einen Krankheitserreger einfängt und daran stirbt. In diesem Fall nämlich findet der Gegner anschließend eben keine nahezu identischen Opfer aus der gleichen Linie vor: Die Nachkommen aus sexueller Vermehrung bringen alle unterschiedliche Veranlagungen mit – zum Beispiel die, an einem bestimmten Krankheitserreger nicht zu sterben.

Der entscheidende Punkt allerdings ist, dass Sex die Evolution ganz erheblich beschleunigt. Das ist der Kern der Parasitentheorie der Sexualität, auch unter der Bezeichnung Red Queen Effect[2] bekannt, nach der Figur aus “Alice im Wunderland”. Diese 1973 von Leigh Van Valen aufgestellte These besagt, dass Lebewesen konstant mit hoher Geschwindigkeit evolvieren müssen, um nicht von speziell angepassten Parasiten aufgefressen zu werden. Parasiten sind kleiner und haben eine kürzere Generationszeit als ihre Wirte, die deswegen im ständigen Rüstungswettlauf mit den Pathogenen jeden Vorteil gebrauchen können.

Klonale Interferenz: Bei asexuellen Arten (unten) dauert es ungleich länger, einen vorteilhaften Genotyp AB in einer Population zu erzeugen: Beide günstigen Mutationen müssen in der gleichen Abstammungslinie auftreten, um sich gemeinsam zu etablieren. Sexuelle Fortpflanzung erlaubt es, Gene aus verschiedenen linien zu kombinieren. Bild: MykReeve/Sonarpulse, public domain.

Grundsätzlich mutieren asexuelle Organismen natürlich genauso schnell wie sich sexuell vermehrende. Bei ihnen bremst allerdings ein spezifischer Effekt die Geschwindigkeit der Evolution: Günstige Mutationen verdrängen sich gegenseitig aus der Population, so dass nur wenige von ihnen langfristig fixiert werden. Das liegt einfach daran, dass unterschiedliche Abstammungslinien sich nicht vermischen können – Mutation A und Mutation B kämpfen um die Vorherrschaft, bis eine der Abstammungslinien verschwindet. In einer sexuellen Population dagegen bildet sich quasi sofort der noch überlegeneren Genotyp AB, und sowohl Mutation A und Mutation B bleiben dauerhaft in der Population.

Soweit die Theorie. Der erste mir bekannte experimentelle Befund stammt allerdings erst aus dem Jahr 2002, als Nick Colegrave von der University of Edinburgh an Hefen demonstrierte, dass Sex die Anpassung tatsächlich beschleunigt. Erfreulicherweise wies er dabei gleich noch einen Effekt nach, der theoretisch direkt aus dem oben beschriebenen Modell folgt: Nur wenn die Population so groß ist, dass mehrere günstige Mutationen gleichzeitig in ihr herumwesen, bringt Sex irgendwem irgendetwas. Bei einzelnen Mutationen in vergleichsweise großen Abständen ist die Art mit Jungfernzeugung besser bedient.

Das beweist natürlich nur, dass Sex tatsächlich potentiell nützlich ist. Es ist allerdings eine andere und nicht ganz triviale Frage, ob der Nutzen von Sex entscheidend oder im Vergleich zu den Kosten nur marginal ist. Angesichts der Dominanz geschlechtlicher Fortpflanzung liegt die Antwort nahe, aber auf einen echten Beleg musste die Welt ziemlich lange warten.

Brachionus calyciflorus. Bild: Robinson R, PLoS Biol 5(9): e255. doi:10.1371/journal.pbio.0050255, CC BY 2.5

Mit dem Wappen-Rädertierchen Brachionus calyciflorus können Forscher jetzt einen Organismus vorweisen, der als Reaktion auf einen definierten Selektionsdruck Sexualität bevorzugt. Brachionus ist ein millimetergroßer unauffälliger Wasserorganismus, der sich allerdings sowohl sexuell als auch asexuell vermehren kann. Normalerweise erzeugt das Tierchen Eier, aus denen nur Weibchen schlüpfen, gelegentlich jedoch wechseln Brachionus-Arten den Fortpflanzungsmodus und beginnen, Männchen zu produzieren. Was dann passiert, könnt ihr euch ja denken.

Diese Neigung, trotz Jungfernzeugung gelegentlich mal einen wegzustecken, macht die Rädertierchen natürlich zu einem idealen Modellorganismus für Fortpflanzungsstrategien. Man kann zum Beispiel, wie jetzt geschehen, mit Hilfe der Nahrungsversorgung einen Selektionsdruck erzeugen und gucken, ob dadurch der Anteil geschlechtlicher Nachkommen steigt.

Becks und Agarwal arbeiten mit Populationen von etwa 10 000 der Tiere, die sie jeweils mit guter oder schlechter Nahrung fütterten und pro Generation der Tiere (etwa ein Tag) einen Teil der jeweiligen Population ins andere Becken verfrachten. Da die Rädertierchen sich unter diesen Umständen mehrere Generationen lang an die Bedingungen anpassen können, bekommt ihnen der jeweils andere Typ Nahrung naturgemäß schlechter. Der Versuch selektiert also auf schnellere Anpassung an widrige Bedingungen.

Ich habe das Experiment bei Spektrumdirekt schon ausführlich besprochen, deswegen hier nur das Ergebnis: Bei wechselnden Umweltbedingungen hatte Brachionus doppelt so häufig Sex wie bei gleichbleibender Fütterung. In den Kontrollexperimenten stammten etwa sieben Prozent des Nachwuchses aus geschlechtlicher Vereinigung. Bei den Rädertierchen, die unfreiwillig zwischen verschiedenen Bedingungen wechselten, war ihr Anteil mit 15 Prozent glatt doppelt so hoch.

Die Ursache dafür ist tatsächlich ein allgemeiner Selektionsdruck hin zu mehr Sex, denn der Lustgewinn betrifftf keinesfalls nur die aktiven paar Prozent. Auch die weiterhin asexuellen Klone dieses Experiments ließen sich von den Wissenschaftlern wesentlich leichter mit chemischen Signalen zur Zweisamkeit animieren. Mit einem kleinen Unterschied in der Nahrungsqualität kann man demnach eine ganze Population von insgesamt 20.000 Rädertierchen willig machen. Williger als vorher jedenfalls.

Das ist schon ganz bemerkenswert, wenn man sich klar macht, wie günstig die Bedingungen im Labor eigentlich sind – keine Fressfeinde, regelmäßiges Futter, angenehm warmes Wasser und jeden Abend liest ein Diplomand ihnen was aus dem Märchenbuch vor[3]. Eigentlich eine Steilvorlage für einen Organismus, der so schnell wie möglich so viel Nachwuchs wie möglich produziert. Unter den Bedingungen des Versuchs kann die sexuelle Strategie kaum mehr als einen winzigen Vorteil erzeugen, bei dem nur schwer vorstellbar ist, dass er die beträchtlichen Sex-Kosten aufwiegt. Trotzdem ist der Effekt groß genug um die Zusammensetzung der Population erheblich zu verändern. Wenn man betrachtet, welche massiven Selektionsdrücke im echten Freiland herrschen, dann ist es kaum verwunderlich, dass eigentlich kaum ein mehrzelligen Lebewesen auf diesem Planeten allein schlafen will.
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[1] Es gibt natürlich Zwitter, aber bei denen müssen die Individuen beide Arten von Keimdrüsen bilden und unterhalten.

[2] Streng genommen gibt es zwei Varianten des Red Queen Effects: Den klassischen innerhalb der Art, bei dem jedes Individuum rennen muss, um weiter im Genpool zu bleiben, und einen innerhalb einer Gruppe von Tierarten, die alle strampeln müssen um nicht als ganzes auf der Strecke zu bleiben.

[3] Ich gebe zu, das habe ich mir ausgedacht, aber so abwegig ist das gar nicht.

Becks, L., & Agrawal, A. (2010). Higher rates of sex evolve in spatially heterogeneous environments Nature DOI: 10.1038/nature09449