Wie nah H5N1 einer Pandemie wirklich ist

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Zwei neue Mutationen bei der Vogelgrippe H5N1, die neulich bei einem schwer erkrankten jungen Menschen in Kanada gefunden wurden, machen Fachleuten Sorgen. Und das durchaus zu Recht, wie eine aktuelle Studie zeigt. Der Subtyp H5N1 kann sich an menschentypische Zellrezeptoren anpassen und hat das wohl auch schon getan – ein wichtiger und notwendiger Schritt hin zum Pandemievirus. Damit hat der Fall in Kanada eine neue Qualität. Deswegen will ich hier kurz zusammenfassen, warum die dort aufgetretenen Mutationen einerseits gefährlich sind – aber andererseits eben nicht der letzte Schritt vor einer Pandemie. Das Virus muss mehrere wichtige genetische Hürden überwinden, um uns gefährlich zu werden. Allerdings kann das unter bestimmten Umständen sehr schnell passieren. Und das Risiko dafür steigt gerade ganz erheblich.

In diesem Artikel:
Rezeptor-Anpassung macht das kanadische H5N1 besonders gefährlich
Die Epidemie bei Kühen ist etwas ganz anderes
Warum die Körpertemperatur wichtig ist
H5N1 muss sich erst noch an Aerosol-Übertragung anpassen
Die Virus-Polymerase muss auch im Menschen funktionieren
Warum die Grippesaison 2024 gefährlich wird

Rezeptor-Anpassung macht das kanadische H5N1 besonders gefährlich

Was wir in Kanada gesehen haben, ist die womöglich entscheidende Veränderung hin zu einem potenziellen Pandemievirus. Der Knackpunkt ist, dass ein Atemwegserreger sich in den oberen Atemwegen gut vermehren muss, um ansteckende Aerosole zu bilden und auf andere Wirte überzuspringen. Vögel und Menschen präsentieren in den oberen Atemwegen unterschiedliche Bindungsstellen für Grippeviren. Influenza bindet an einen Zuckerbaustein namens Neuraminsäure, der über den Zucker Galaktose mit Proteinen der Zelloberfläche verbunden ist – allerdings anders. Bei Vögeln sind sie über eine α2-3-Bindung verbunden, bei Säugetieren über eine α2-6-Bindung. Ein Virus, das an das eine gut bindet, bindet an das andere eher schlecht.

Die beiden bei dem Teenager in Kanada gefundenen Mutationen betreffen die Positionen 190 und 226 im Hämagglutinin, jenem Protein an der Virusoberfläche, mit dem der Erreger an Zellen andockt. Frühere Studien haben gezeigt, dass die Mutationen in diesen Positionen verändern, an welchen Typ von Rezeptor das Hämagglutinin bevorzugt bindet. Es ist also gut möglich, dass das veränderte Virus ansteckender ist. Das könnte auch erklären, weshalb die infizierte Person in Kanada so schwer krank geworden ist. Ein besser an Menschen angepasstes Virus verbreitet sich auch im Körper stärker.

Dass das wohl tatsächlich passiert ist, zeigt jetzt eine aktuelle Studie. In der haben Fachleute das Hämagglutinin des in Rindern zirkulierenden Virus gezielt verändert, um zu testen, wann es – wenn überhaupt – gut an den Menschen-Rezeptor binden. Das Ergebnis: ein Austausch in Position 226 lässt das Protein von der α2-3-gebundenen Neuraminsäure der Vögel zur α2-6-Bindung der Säugetiere wechseln. Zusätzliche Mutationen in anderen Positionen stärken das noch weiter. Und damit ist eben auch wahrscheinlich, dass die Mutationen in Kanada genau diesen Effekt hatten.

 Warum die Epidemie bei Kühen außergewöhnlich ist

Was die Sache verkompliziert ist, dass der Fall in Kanada unabhängig von der H5N1-Epidemie in Milchkühen ist, bei der sich auch über 50 Menschen angesteckt haben. Bei den Milchkühen scheint etwas sehr ungewöhnliches passiert zu sein. Eigentlich nämlich sind Infektionen in Nutztieren so gefährlich, weil diese Tiere dem Virus eine bessere Gelegenheit bieten, sich an Säugetiere anzupassen und auch direkt auf Menschen überzuspringen. Außerdem beherbergen sie oft auch menschliche Grippeviren, mit denen die Vogelgrippe genetisches Material austauschen kann. Deswegen gelten besonders Schweine als entscheidender Zwischenwirt für Pandemieviren. Doch bei den Rindern hat das Virus anscheinend durch Zufall eine Nische gefunden, die ein Vogelvirus besetzen kann, ohne sich besonders anpassen zu müssen.

Auch Säugetiere nämlich besitzen Neuraminsäure-Bindungen vom α2-3-Typ, zum Beispiel haben Menschen relativ viel α2-3-Neuraminsäuren in der Bindehaut des Auges. Vogelgrippeviren verursachen deswegen bei Menschen immer wieder Bindehautentzündungen. Auch der auf ganz anderem Wege infizierte Teenager hatte ursprünglich eine Entzündung im Auge, die womöglich erst mit den neu entdeckten Mutationen den Weg in den Rest des Körpers fand.

Solche Rezeptoren kommen nun auch auch in großer Menge in den Milchdrüsen des Kuheuters vor. Ende 2023 gelangte das Virus auf unbekanntem Weg in den Euter einer Milchkuh und konnte sich dort auch mit seinem Vogel-typischen Hämagglutinin vermehren. Eigentlich ist das die totale Sackgasse für das Virus – es trifft ansonsten praktisch nur auf Gewebe mit α2-6-Neuraminsäuren. Doch dank technischer Hilfe durch die Melkanlagen kann es sich in diesem Fall von Euter zu Euter verbreiten, ohne sich an den menschlichen Rezeptor anpassen zu müssen.

Es gibt allerdings Hinweise, dass das Hämagglutinin durch die Übertragung in Rindern immerhin flexibler wird, was die Bindung angeht. Ob das eine Rolle bei den alarmierenden Ergebnissen der neuen Studie spielt, ist unsicher. Unklar ist auch, warum sich das Virus sich bei den bisher infizierten Arbeitern in den Milchbetrieben nicht weiter veränderte, wenn das doch nur eine Mutation erfordert. War es Glück – oder hindern andere Faktoren das Virus vielleicht, die Anpassung an den Menschen-Rezeptor zu nutzen? Tatsächlich ist das absolut möglich.

Warum die Körpertemperatur wichtig ist

Dass sich das Virus im Euter der Kühe im Gegensatz dazu ganz exzellent vermehrt, hat wahrscheinlich mit einer weiteren biologischen Schwelle zu tun, die das Virus auf dem Weg zum Menschen überwinden muss: die Temperatur. Atemwegserreger wie Grippe haben ein relativ enges optimales Temperaturfenster, in dem sie sich am besten vermehren. Vögel haben eine deutlich höhere Körpertemperatur als Säugetiere, oft über 40 Grad. Vogelgrippeviren vermehren sich außerdem normalerweise im Darm, sind also an die Kerntemperatur des Vogelkörpers angepasst.

Säugetiere dagegen sind deutlich kühler, besonders unsere nur rund 33 Grad warmen oberen Atemwege. Das ist für ein wärmeliebendes Vogelgrippevirus schlicht zu kalt, um sich effektiv zu vermehren. Entsprechend muss sich H5N1, um Säugetiere effektiv zu infizieren, an deutlich kältere Temperaturen anpassen – eigentlich jedenfalls. Der Witz ist jetzt, dass Kühe nicht nur eine mit rund 38,5 Grad etwas höhere Körpertemperatur haben als wir – der Euter ist auch, anders als die oberen Atemwege, ähnlich warm wie der Körperkern. Das heißt, der Kuheuter bietet dem Vogelgrippevirus nicht nur den richtigen Rezeptor, sondern auch eine Temperatur, die näher am Optimum für H5N1 ist.

H5N1 muss sich an Aerosole anpassen

So befällt H5N1 entgegen jeder Erwartung als erstes Nutztier ausgerechnet die – für Influenza A eigentlich nicht empfänglichen – Rinder, und tut sich bei Menschen zum Glück trotzdem noch schwer. Bei Milchkühen fallen einfach zwei Faktoren weg, die Infektionen bei Nutztieren besonders gefährlich machen. Zum einen nämlich ist der Druck auf das Virus, sich anzupassen, nicht allzu hoch, und zum anderen bekommen Rinder keine menschliche Grippe, mit der H5N1 rekombinieren könnte, um ein ansteckenderes Virus zu bilden.

Außerdem bietet die Euter-zu-Euter-Übertragung dem Virus keine Möglichkeit, eine weitere wichtige Hürde auf dem Weg zur Grippepandemie zu überwinden. Bei Vögeln spielt die Übertragung über kontaminierte Oberflächen – Vogelscheiße – eine bedeutende Rolle. Bei Menschen scheint das aber kaum der Fall zu sein. Wir infizieren uns primär über Aerosole. Und die Bedingungen in diesen schwebenden, schnell austrocknenden und immer saurer werdenden Tropfen sind sehr speziell. Entsprechend muss das Virus, insbesondere sein Hämagglutinin, stabiler werden, um sich auf diesem Weg zu verbreiten.

Die Virus-Polymerase muss auch im Menschen funktionieren

Die vierte Anpassungshürde dagegen scheint bei H5N1 nicht besonders hoch zu sein. Das Virus nutzt weit überwiegend die Proteine der Wirtszelle um sich fortzupflanzen, aber eine entscheidende Komponente bringt es selbst mit: die Polymerase. Die vervielfältigt das Viruserbgut, muss aber dazu mit vielen weiteren Komponenten der Wirtszelle wechselwirken. Die Zellen von Vögeln und Säugetieren ähneln sich zwar, aber um sich effektiv in Menschen zu vermehren, muss eine Vogelgrippe ihre aus drei Proteinen (PB2, PB1 und PA) bestehende Polymerase verändern.

In den letzten Jahren haben Fachleute diverse Mutationen identifiziert, die dazu beitragen. Keine davon ist bei dem infizierten Jugendlichen in Kanada aufgetaucht. Doch anders als Anpassungen an menschliche Rezeptoren sind solche Veränderungen keineswegs rar. Man hat sie bereits in Meeressäugern, Musteliden und eben auch bei Rindern gefunden. Und eine solche Säugetieranpassung hat man auch bei infizierten Seevögeln gefunden, möglicherweise durch Rückübertragung aus Meeressäugern. Diese Hürde scheint also vergleichsweise niedrig zu sein.

Zusammen aber bilden diese notwendigen Anpassungen eine erhebliche Barriere für H5N1 auf dem Weg zur effektiven Mensch-zu-Mensch-Übertragung. Es ist sogar durchaus möglich, dass H5N1 gar keine Pandemie auslösen kann. Deswegen sind zum Beispiel auch die Infektionen bei Rindern und auch die Menschen, die sich bei ihnen anstecken, noch keine Alarmzeichen für eine unmittelbar bevorstehende Pandemie. Dagegen sind Anpassungen an den menschlichen Rezeptor, wie sie bei dem Fall in Kanada gefunden wurden, weitaus gefährlicher. Denn sie zeigen, dass das Virus sich dauerhaft in solchen Zellen zumindest einigermaßen gut vermehren kann – was den Weg zu wirklich guten Anpassungen in den anderen Punkten frei macht.

Warum die Grippesaison 2024 gefährlich wird

Es scheint zum Glück so, als sei dieses Virus ein Einzelfall gewesen. Sein direkter Vorgänger scheint die Mutationen nicht besessen zu haben, und die direkten Kontakte hatten sich auch nicht infiziert. Das Virus ist vermutlich wieder ausgestorben. Es zeigt aber, dass solche Anpassungen jederzeit möglich sind – nicht nur im Labor, sondern auch draußen in der Realität.

Und jetzt wird es erst richtig gefährlich. Denn auf der Nordhalbkugel beginnt die Grippesaison. Bisher zirkulierten in den USA kaum menschliche Influenzaviren, und so hätte das Virus jede einzelne der genetischen Hürden einzeln überspringen müssen. Der Unterschied zur letzten Grippesaison ist diesmal, dass wir nicht nur ganz seltene menschliche Infektionen mit H5N1 haben, sondern wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer infizierter Menschen in den Milchviehbetrieben. Je mehr Menschen nun während der Grippewelle ein klassisches Virus einfangen, um so höher ist die Chance, dass H5N1 sich in der gleichen Zelle wiederfindet wie ein menschliches Virus. Das wäre dann die letzte Eskalationsstufe vor der Pandemie.

Das Genom des Influenzavirus besteht aus mehreren getrennten Gensegmenten. Wenn zwei verschiedene Viren die gleiche Zelle befallen, werden ihre Gensegmente in den neu entstehenden Viren zufällig kombiniert. Dabei kann alles mögliche herauskommen – insbesondere weil solche Rekombinationen auch das Hämagglutinin schneller mutieren lassen können. So könnte ein Virus entstehen, das dem menschlichen Immunsystem dank seines H5-Anteils völlig unbekannt ist, dank der Gene einer menschlichen Grippe jedoch weit besser mit dem menschlichen Körper klarkommt. Und das wäre womöglich wirklich ein Pandemievirus.

 

2 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr @Fischer,

    Halleluja, beim Beginn des Artikels ist mir tatsächlich das Herz etwas stehen geblieben, puhhh. Es zeigt sich aber etwas was leider die Landwirtschaft enorm vor Probleme stellt, die großangelgte Tierhaltung ist eine wunderbare Viren reproduktionsanlage.

    Das und die permamente Reiselust des Menschen ist da eine sehr schlechte Kombi.

    Danke für den Informativen Artikel!

  2. Oh das ist ein toller Artikel, danke Lars Fischer. Nicht der Inhalt ist toll aber die Darstellung der aktuellen Situation mit den verschieden Bedingungen… Nein es muss nicht gefallen…tut es mir auch gar nicht.

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