Wie die Affenpocken tödlicher werden könnten

Klischee-Wikinger-Ausrüstung und ein Schädel. Der Schädel gehört dazu seit Hamlet.

Willkommen zurück, Pocken. Der Name sollte Warnung genug sein. Die Affenpocken sind nicht die tödliche Seuche, an der noch im 20. Jahrhundert hunderte Millionen Menschen starben. Doch es gibt keine Garantie, dass das langfristig so bleibt. Im Gegenteil. Genanalysen legen nahe, dass auch die echten Pocken einst eine harmlose Krankheit waren – bis eine neue, extrem aggressive Variante entstand.

Ursprung der Idee ist ein altes Rätsel. Einerseits deuten archäologische und historische Hinweise darauf hin, dass die Pocken Jahrtausende alt sind. Andererseits gibt es noch im Mittelalter keine Hinweise auf die für die Krankheit typischen, verheerenden Epidemien. Erst seit dem 17. Jahrhundert etwa kennt man die Pocken als großen epidemischen Killer, der ganze Regionen verheert und einen von drei Kranken tötet.

Die Vermutung liegt nahe, dass eine neue Variante der alten Pocken aufgetreten ist.[1] Die älteren Indizien könnten sich schlicht auf eine andere Krankheit beziehen. Krankheiten aus alten Beschreibungen sicher zu identifizieren, ist schwierig. Die modernen Pocken wären dann zum Beispiel eine über den Seehandel importierte Krankheit oder eine neue Zoonose. Beispiele wie die ebenfalls bis in die Neuzeit unbekannten oder bedeutungslosen Seuchen Syphilis und Typhus lassen das absolut denkbar erscheinen.

Die Pocken im Mittelalter

Allerdings stimmt das nicht, wie eine Arbeitsgruppe um Barbara Mühlemann 2020 nachgewiesen hat. Die Pocken gibt es in Europa seit weit über 1000 Jahren. Das Team isolierte Erbgut des Virus aus elf menschlichen Überresten der Wikingerzeit, dem 7. bis 11. Jahrhundert. Die Toten waren zweifelsfrei mit den echten Pocken infiziert – von Pockenepidemien aus jener Zeit gibt es aber keine klaren Berichte. Angesichts der bekannten Vernichtungskraft der Pocken ist das mindestens kurios.

Seit der Entdeckung macht also die Hypothese die Runde, dass die Pocken einst eine milde, verbreitete Erkrankung waren. Die Idee ist absolut nicht neu. Aufgeschrieben haben sie bereits im Jahr 1987 die Historikerin Ann G. Carmichael und der Medizinhistoriker Arthur M. Silverstein. Die haben Pocken-Beschreibungen aus dem Mittelalter ausgewertet und beschreiben ein aus heutiger Sicht seltsames Muster. Man kannte die Pocken nämlich durchaus.

Schon in der ersten bekannten Beschreibung durch den persischen Arzt Abu Bakr ar-Razi im 10. Jahrhundert kommen die Pocken eher als verbreitete, milde Kinderkrankheit rüber. Diese Bewertung zieht sich auch durchs europäische Mittelalter. Das geht so weit, dass Autoren die Pocken als physiologischen Prozess im Rahmen des Säftelehre interpretieren. Bei dem wird entweder das heiße Blut der Jugend umgewandelt, oder noch kurioser, der Körper stößt Reste des mütterlichen Menstruationsblutes ab.

Konsens ist bis weit ins Mittelalter hinein jedenfalls, dass die spätere Superseuche kein Grund zur Sorge sei. Irgendwann im 16. Jahrhundert änderte sich das aber allmählich. In Italien nahm die Zahl der Erwähnungen der Pocken ab dem Jahr 1550 sprunghaft zu, es gibt Berichte über erste gefährliche Epidemien. Auch in Nordeuropa stiegen die Todesfälle durch die Pocken im Laufe des 17. Jahrhunderts nach und nach an.[2]

Was für eine neue Variante spricht

Es gibt eine Reihe von Argumenten, dass es sich um eine neue Variante der Pocken handelte, die sich langsam durchsetzte. Zeitgenossen jedenfalls berichten genau das – so kannte man im 18. Jahrhundert in England ausdrücklich zwei Versionen der Pocken. In den Worten eines Zeitgenossen, zitiert bei Carmichael und Silverstein: eine, bei der man sich getrost einer einfachen Pflegerin überlassen kann, und eine andere, bei der jeder Arzt machtlos ist.[3]

Das wichtigste Argument für eine gefährliche neue Variante, die im 17. Jahrhundert auftrat, sind allerdings die Genomdaten. 2016 nämlich isolierte ein Team der Anthropologin Ana T. Duggan das Genom der Pocken aus einer Kindermumie aus den Jahren um 1660, also den ersten Jahrzehnten der modernen epidemischen Pocken. Die Erbgutanalyse deutet tatsächlich darauf hin, dass dieses in Litauen gefundene Virus nahe dem Ursprung der Abstammungslinien aller moderner Pockenvarianten sitzt.

Diesen Befund stützt auch eine weitere Analyse in dem Paper. Die Arbeitsgruppe zeigt nämlich, dass das Pockengenom mit einer stabilen, regelmäßigen Rate mutiert. Das heißt, man kann die Zahl der genetischen Veränderungen als “molekulare Uhr” benutzen, die zeigt, wie viel Zeit seit der ursprünglichen Version eines bestimmten Gens verstrichen ist. Demnach entstand der letzte gemeinsame Vorfahr aller epidemischer Pockenlinien irgendwann in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Das stützt auch die Vermutung, dass die Pocken der Wikingerzeit etwas ganz anderes waren als die moderne Krankheit. Die 2020 entdeckten Viren repräsentieren demnach die milde Kinderkrankheit, von der ar-Razi und andere berichten. Und tatsächlich gibt es auch genetische Hinweise darauf, dass die Viren aus dem 7. bis 11. Jahrhundert eine deutlich mildere Erkrankung verursachten. Sie unterscheiden sich nämlich überraschend deutlich von den modernen Pockenviren.

Pocken verlieren Gene

Andererseits gibt es auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die einen Blick auf die Evolution von Pockenviren bei Menschen erlauben. Die Wikingerpocken sind keine direkten Vorfahren der modernen Pocken. Die beiden Gruppen bilden Schwesterlinien, die sich vor rund 1700 Jahren trennten. Danach evolvierten sie unterschiedlich, aber in mehreren wichtigen Punkten parallel. [4]

So sind bei beiden Linien im Laufe der Zeit Gene verloren gegangen oder inaktiv geworden. Das passt ganz gut zu dem, was man über Pockenviren allgemein, also auch Affenpocken, weiß. Weniger aktive Gene sprechen für eine stärkere Spezialisierung auf einen Wirtsorganismus. Die Vorläufer der modernen Pocken als auch die der Wikingerpocken folgten seit ihrer Trennung diesem evolutionären Trend der Anpassung an den Menschen – zum Teil bis auf das Gen genau. Diverse Gene, die in beiden Linien inaktiviert sind, sind es auf unterschiedliche Weise. Sie waren im gemeinsamen Vorfahr aktiv, sind aber anscheinend bei der Übertragung zwischen Menschen hinderlich.

Es gibt hier aber auch einen überraschend deutlichen Unterschied zwischen alten Pocken und den modernen Viren. Die Wikingerpocken hatten eine ganze Reihe funktionierender Gene, die bei der modernen Variante inaktiv sind. Ganz besonders interessant ist eine Gruppe von acht Genen. Sie manipulieren das menschliche Immunsystem und dämpfen die Immunreaktion. Warum gerade diese Gene während der Evolution der epidemischen Pocken verloren gingen, ist unklar – eigentlich begünstigen sie ja das Virus.

Man weiß aber von Pocken allgemein, dass solche immununterdrückenden Gene einen Effekt auf die Schwere der Krankheit haben. Sie mildern den Krankheitsverlauf. Fehlen sie, ist ein Pockenvirus tendenziell tödlicher. Bei den modernen Pocken ist ein großer Teil dieser Gene inaktiv. Die Genomdaten aus der Wikingerzeit zeigen, dass das bei den Pocken des Mittelalters noch anders war, was für ein milderes Virus sprechen könnte.

Wie wenig wir wirklich wissen

Es gibt also gleich mehrere Argumente, die für das Szenario milder, endemischer Pocken sprechen, aus denen dann eine verheerende neue Variante hervorging. Die Hypothese ist so einleuchtend und verlockend, dass man leicht vergisst, wie spekulativ all das noch ist. Wir wissen nichts darüber, wie verbreitet und tödlich die Pocken im Nordeuropa der Wikingerzeit wirklich waren. Außerdem sind die Funde keineswegs repräsentativ – die Genanalysen bilden nur einen Bruchteil der genetischen Diversität der Pocken im Mittelalter ab.

Auch dass die mittelalterlichen Quellen keine Pockenepidemien erwähnen, können wir nicht mit letzter Sicherheit behaupten. Welche Krankheit im europäischen Mittelalter tatsächlich eine bestimmte Epidemie auslöste, ist oft den zeitgenössischen Aussagen nicht sicher zu entnehmen. Es sind also sowohl historisch als auch genetisch noch völlig andere Interpretationen denkbar. Ich verweise da noch mal ausdrücklich auf Fußnote 1.

Was wir aber wohl ziemlich sicher aus den vorhandenen Daten ablesen können ist, dass Pockenviren im Laufe der Zeit Gene verloren und sich dadurch besser an den Menschen anpassten. Und es ist absolut plausibel, dass auch die Affenpocken diesen Weg gehen werden, wenn wir sie lassen. Tatsächlich ähnelt das Genom der Affenpocken in dieser Hinsicht eher den Wikingerpocken. Die meisten der dort gefundenen Immundämpfungs-Gene sind bei ihnen noch aktiv, dazu kommen eine Reihe anderer bei den modernen Pocken verschwundener Gene.

Dass ein dauerhaft unter Menschen zirkulierendes Virus im Laufe der Zeit ansteckender wird, liegt nahe. Das gilt ganz besonders für ein bisher relativ wenig ansteckendes Virus, bei dem der Selektionsdruck wegen der vielen abbrechenden Infektionsketten besonders hoch sein dürfte. Insofern dürften auch die Affenpocken im Laufe der Zeit Gene verlieren – womöglich ganz parallel zu den Evolutionspfaden der beiden Pockenlinien.

Spannend ist natürlich, ob die Affenpocken im Verlauf dieser Evolution durch Genverluste aggressiver werden könnten. Die Hypothese über die neue epidemische Pocken-Variante des 17. Jahrhunderts scheint das nahezulegen – aber es ist eben auch nicht zwangsläufig. Vielleicht sind die modernen Pocken ein unwahrscheinlicher genetischer Zufall[5], schließlich scheinen die Pocken durch das gesamte Mittelalter hindurch eine milde endemische Erkrankung unter vielen gewesen zu sein. Und ganz davon abgesehen, was das womöglich bedeuten könnte oder nicht: wir reden hier über Trends, die sich über Jahrhunderte abspielten.

.

[1] Man muss mit “neuen Varianten” bei historischen Krankheiten ein bisschen vorsichtig sein. Das ist so ein bisschen der Deus ex Machina, wenn es darum geht, rätselhafte Unterschiede und Veränderungen im Krankheitsregime zu erklären. Ein Beispiel wäre auch, warum die Pest in der Neuzeit in Italien so viel verheerender wütete als in Nordeuropa. Es gibt aber viele andere Faktoren, die das Krankheitsregime ebenfalls beeinflussen können. Insofern ist es keineswegs abwegig, bei den Pocken eine andere Erklärung zu vermuten. Zum Beispiel, dass größere Städte oder größere Armeen das Verhalten der Pocken von endemisch zu epidemisch gedreht haben.
[2] Diese graduelle Entwicklung ist ein weiteres Argument, dass es sich um eine neue Variante einer vorhandenen Infektion handelte. Wären die Pocken als neu auftretende Infektionskrankheit auf eine immunnaive Bevölkerung getroffen, hätten sie sich rasant ausgebreitet. Angesichts der enormen Sterblichkeit durch moderne Pocken hätte so eine Epidemie womöglich an die Verheerungen des Schwarzen Todes herangereicht.
[3] Das könnte übrigens auch erklären, wie man auf sowas wie Variolation kommt. Sich gezielt mit einer potenziell verheerenden Seuche zu infizieren leuchtet natürlich viel mehr ein, wenn für die Zeitgenossen einfach Alltagserfahrung war, dass es eine milde Verlaufsform der Pocken gab.
[4] Wo sich die Vorfahren der modernen Pocken in den folgenden 1300 Jahren herumtrieben, ist unklar. Aber wir haben ja ohnehin nur ganz wenig Daten, und schon die wenigen Genome aus der Wikingerzeit deuten auf eine hohe Diversität der Pocken zu dieser Zeit. Insofern ist es wahrscheinlich, dass sie einfach als eine von vielen unterschiedlichen Pockenlinien in Europa zirkulierten.
[5] es gibt natürlich auch Möglichkeit B, dass die Evolution aggressiver Versionen mit weniger Immungenen durch das Mittelalter hindurch immer wieder passierte, sich die Ausbrüche aber totliefen, weil zu aggressiv. In der frühen Neuzeit begannen Städte und Armeen allerdings, so viele Menschen auf einem Haufen zusammenzubringen, dass auch superaggressive Pockenversionen sich halten konnten. Einen ähnlichen Effekt vermutet man zum Beispiel bei Typhus.

7 Kommentare

  1. Sehr interessant, vielen Dank für diesen Bericht und Einschätzung, Herr Fischer.
    ‘Gene verlieren’ meint wohl einen Verlust der Schädigungswirkung bei Menschen, einen funktionalen Verlust sozusagen; es ist wohl so, dass sich Krankheitserreger mit dem Menschen sozusagen zu arrangieren suchen, weniger letal werden, um sich so – indirekt, das so gemeinte Virus kennt keine Intention – zu erhalten.
    Richtig ist auch, dass wie gemeint wenig gewusst wird.

    Mit freundlichen Grüßen + weiterhin viel Erfolg
    Dr. Webbaer

    • “es ist wohl so, dass sich Krankheitserreger mit dem Menschen sozusagen zu arrangieren suchen, weniger letal werden”
      Das ist leider ein weit verbreiteter Irrtum. Es gibt keinen generellen Trend. Krankheitserreger können im Laufe der Anpassung auch gefährlicher werden, wie man zum Beispiel auch beim Wildtyp von Sars-CoV-2 gesehen hat.

      • Aha, danke für Ihre Ergänzung, Herr Fischer.
        Dr. Webbaer schloss aus dem durchschnittlichen Vorhandensein von mehr als 500 Gramm Mikroorganismen im menschlichen Körper, auch von Viren, die bekanntlich zur Mutation neigen, dass sich oft sozusagen arrangiert wird.
        Coronaviridae und Grippeviren haben in der Vergangenheit oft an Gefährlichkeit verloren?

  2. Vielen Dank für diesen anregenden Beitrag. Auch Viren scheinen den jeweils größten Markt zu erschließen. Gibt es Viren bei Ameisen??? Andererseits scheint die “freie Weglänge” zwischen Ameisenstaaten relativ und absolut größer als zwischen menschlichen Siedlungen.

  3. Bedauerlicherweise werden bei der Bewertung der Gefährlichkeit von Keimen im Zuge von Epidemien nur selten die Lebensbedingung in der jeweiligen Epoche mit genannt.
    Denn logischerweise nimmt die Vulnerabilität für Keime mit steigender Qualität der Lebensbedingungen ab und umgekehrt.
    Denn das Immunsystem wird auch durch Ernährung und damit durch die durch Wetterbedingungen bestimmte Nahrungsmittelverfügbarkeit bestimmt.

  4. Die Pocken eine “harmlose” Erkrankung bis ins 17. Jahrhundert? Eher nicht, wenn man zeitgenössischen medizinischen Quellen trauen darf. Die Medizinschule von Salerno empfiehlt im 10.-11. Jahrhundert die Inokulation der Pocken “damit die Pocken nicht den Tod der Kinder bewirken”. Zudem werden strikte Hygiene und Isolation empfohlen. Die Impfung mit echten Menschenpocken kam im 18. Jahrhundert aus dem Orient durch Lady Montagu nach Europa. In der arabischen Welt war die Pockenimpfung wohl seit Ibn Sina Avicenna (10. Jhrdt.) tradiert worden. In China gab es um diese Zeit eine Pockenimpfung über die Nase, mittels langem Blasrohr. All das spricht doch wohl eher gegen eine harmlose Erkrankung.

Schreibe einen Kommentar