Neozoen und Biodiversität in der Nordsee

BLOG: Fischblog

Wissenschaft für alle
Fischblog

Der größte Teil aller Waren, die über große Entfernungen gehandelt werden, gelangen per Schiff in alle Welt. Das gilt jedoch nicht nur für Computer und Autoteile, sondern auch für Quallen, Algen und Muschellarven. Im Hamburger Hafen, einem der größten der Welt, werden jährlich 12.000 Schiffe aus allen Teilen der Welt abgefertigt; viele dieser Schiffe haben blinde Passagiere an Bord. Mit dem Ballastwasser moderner Frachtschiffe und dem Bewuchs an ihrem Rumpf wird eine Vielzahl an Tieren aus anderen Erdteilen eingeschleppt. Einige dieser blinden Passagiere überleben und erobern sich einen neuen Lebensraum.

Diese neu etablierten Arten, Neozoen genannt, stehen seit einiger Zeit im Mittelpunkt des Interesses von Biologen, Ökologen, Fischereifachleuten und Umweltschützern. Wegen des starken Schiffsverkehrs ist die Nordsee ein Hotspot dieses modernen Artentransfers. Können sich einige dieser Einwanderer ungehemmt ausbreiten und das gesamte Ökosystem gefährden?

Der Hintergrund derartiger Befürchtungen ist sehr real: Andere Kontinente bieten eine ganze Reihe abschreckender Beispiele für die Einschleppung fremder Arten, die in ihrem neuen Ökosystem gravierende Schäden angerichtet haben.

– Die Agakröte Bufo marinus, ursprünglich aus Südamerika stammend, vernichtet in Australien nach und nach die einheimischen Froschlurche, trotz aller kreativer Versuche, sie loszuwerden.

– In den frühen 80er Jahren tauchte die nordatlantische Rippenqualle Mnemiopsis leidyi im Schwarzen Meer auf und fraß den Fischen das Plankton weg. Die Fischbestände im Schwarzen Meer kollabierten, während die Quallen sich explosionsartig vermehrten. Erst nachdem 1994 ein natürlicher Feind von Mnemiopsis eingeführt wurde, stellte sich wieder ein neues Gleichgewicht ein. Das alte Ökosystem ist jedoch unwiderruflich vernichtet.

– Ein schießwütiger Idiot setzte 1859 Kaninchen in Australien aus. Seitdem haben die Viecher einen beträchtlichen Teil der ursprünglichen Grassteppe dort kahlgefressen und in Wüste verwandelt.

Ähnliche Beispiele gibt es Dutzendfach überall auf der Welt. Direkte Schlussfolgerungen für die Nordsee erlauben diese Beispiele allerdings erst einmal nicht, denn es ist nicht selbstverständlich, dass eine neu eingeführte Art ein Ökosystem einfach überrennt, im Gegenteil, die spezifischen GEgebenheiten einer neuen Umwelt stellen die Einwanderer erst einmal vor große Herausforderungen. Welche Rolle spielen Neozoen in der Nordsee, dem nach dem Mittelmeer wohl am stärksten von Menschen beeinflussten Meer der Welt?

Lebensraum Nordsee
Die Nordsee ist kein wirklicher Ozean, sondern ein flaches Schelfmeer, im Durchschnitt nur 94 Meter tief. Für ein solches Flachmeer ist die Nordsee allerdings sehr alt: Ihre Entstehung und Veränderung kann über 350 Millionen Jahre zurückverfolgt werden. Die Nordsee, wie wir sie heute kennen, ist dagegen jung: Noch vor 11.000 Jahren, am Ende der letzten Vereisungsperiode, lag die Küstenlinie etwa 600 Kilometer weiter nördlich und Großbritannien war mit dem Festland verbunden. Erst vor 7000 Jahren bildete sich der Ärmelkanal.

Auch heute noch verändert sich die Küstenlinie kontinuierlich durch Schwankungen des Meeresspiegels, Erosion und Sandablagerung sowie menschliche Aktivitäten.

Verglichen mit anderen Meeren ist die Nordsee ein extrem uneinheitlicher Lebensraum mit einer großen Vielfalt an Lebensgemeinschaften. Unter anderem findet man an der Nordsee das weltweit einzigartige Wattenmeer, die großen Ästuare von Elbe, Rhein, Weser und Eider, die Felsenküsten der nördlichen Nordsee, Salzwiesen, Tang- und Seegraswälder, Schlick-, Kies- und Sandböden und den Felssockel der Insel Helgoland, um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Der Salzgehalt der Nordsee ist deutlich geringer als der des angrenzenden Nordatlantiks (35.000 ppm), er nimmt grob von Süden nach Norden von 14.500 auf etwa 34.000 ppm zu. Auch die Temperaturen schwanken wegen der geringen Wassertiefe im Jahreslauf drastisch, besonders im Wattenmeer.

Eingewanderte Arten[1]
Im Dezember 2006 waren aus der Deutschen Bucht insgesamt 62 Neozoen-Arten bekannt, von denen insgesamt 49 stabile Populationen bilden, also dauerhaft eingewandert sind. Die meisten von ihnen sind Arten, die mit dem Ballastwasser von Schiffen um die Welt reisen.

Diese fremden Arten können sich auf das Ökosystem in verschiedener Weise auswirken:
– Störung bestehender Nahrungsketten und Räuber/Beute-Interaktionen
– Hybridisierung mit einheimischen Arten
– Großflächige Veränderung von Lebensräumen
– Einführung von Parasiten und Krankheitserregern
– Vollständige Verdrängung einheimischer Spezies

Einige Beispiele:

Der parasitär lebende Nematode Anguillicola Crassus lebt seit den frühen 70er Jahren in der Nordsee. Er stammt ursprünglich aus Asien. Der in der Schwimmblase von Aalen lebende Wurm stellt inzwischen eine Bedrohung für die Population dieser Fische dar.

Der Borstenwurm Marenzelleria wireni wanderte um etwa 1930 aus arktischen Gewässern in die Nordsee ein. Es gibt Hinweise, dass diese Art den einheimischen Wurm Nereis diversicolor verdrängt.

Die Dreikantmuschen Dreissena polymorpha stammt aus dem schwarzen Meer und ist seit etwa 1835 in der Nordsee ansässig. Sie tritt in extrem hohen Populationsdichten auf; durch ihre hohe Filtrierleistung kann sie an ihren Standorten das Wasser enttrüben. Der Meeresboden wird dann von Algen überwuchert.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts lebt die Pazifische Auster Crassostrea gigas in der Nordsee; sie zeugt mit der Europäischen Auster Ostrea edulis Hybride und setzt die ohnehin schon erheblich geschwächten natürlichen Bestände dieser Art weiter unter Druck.

Perspektive
Wie sind derartige Entwicklungen zu bewerten? Zunächst einmal muss man festhalten, dass nur für einen kleinen Anteil der Neozoen in der Nordsee überhaupt schädliche Auswirkungen nachgewiesen sind. Der größte Teil der eingewanderten Arten fügt sich ohne größere Probleme ins Ökosystem ein. Ein Beispiel ist die nordamerikanische Bohrmuschel Petricola pholadiformis, die seit etwa 1890 neben der einheimischen Art Barnea candida existiert, ohne dass es zu einer Verdrängung der einen oder anderen Art käme. Andere Tiere wie die chinesische Wollhandkrabbe Eriocheir sinensis oder einige im Boden lebende Muschelarten besetzten ökologische Nischen, die vorher vakant waren.

Es scheint, stellt auch Greenpeace fest, dass die Nordsee eine beträchtliche Zahl fremder Arten problemlos zu integrieren in der Lage war und ist, ohne dass es zu massiven Schädigungen des Gesamtsystems kommt. Dafür sind wahrscheinlich hauptsächlich drei Gründe verantwortlich: Das relativ geringe Alter der modernen Nordsee, die enorme Vielfalt der verfügbaren Lebensräume und diedie stark schwankenden Lebensbedingungen

Erst seit ein paar Tausend Jahren existiert die Nordsee in ihrer heutigen Form. Es ist sogar denkbar, dass diese Zeit schlicht für die vollständige Besiedelung des Habitats nicht ausgereicht hat. Möglicherweise ist die natürliche Kolonisierung noch im Gange. Deswegen ist bei vielen Arten auch nicht ganz klar, ob es sich bei ihnen um echte, vom Menschen verschleppte Neozoen handelt oder um natürlich eingewanderte Arten. Bei einigen Muschelarten, die vor der Vereisung in der Nordsee ansässig waren, haben möglicherweise einige Restpopulationen überlebt, die sich jetzt ihren Lebensraum wieder zurückholen. Hinzu kommt, dass auf vergleichsweise kleinem Raum eine erhebliche Anzahl sehr unterschiedlicher Lebensräume zur Verfügung steht, die mögliche Artenzahl also deutlich höher ist als in einem homogenen Lebensraum.

Darüber hinaus ist die Nordsee ein sehr anspruchsvoller Lebensraum. Schwankende Temperaturen und Salzgehalte erfordern besondere Anpassungsleistungen, die Vielfalt an Habitaten steht einer großräumigen Ausbreitung eher entgegen. Die klassische Variante der Verdrängung einheimischer Arten, nämlich das Auftauchen einer seit Jahrmillionen auf eine bestimmte Lebensweise spezialisierten Art, die der weniger gut angepassten einheimischen Art den Garaus macht[2], ist unter diesen Umständen nur schwer möglich: Die Bedingungen in der Nordsee sind so speziell, dass die ansässigen Arten einen Heimvorteil haben. Mehrere Neozoen, die in der Nordsee Populationen etabliert hatten, sind dort bereits wieder ausgestorben.

Das Ökosystem Nordsee hat sich jedenfalls gegenüber der großen Zahl eingewanderter Neozoen als erstaunlich resistent erwiesen. Das heißt aber nicht, dass die Verschleppung fremder Arten in unser Hausmeer kein Problem darstellt. In Zukunft wird sich das Problem des stark steigenden Schiffsverkehrs in der Nordsee wohl noch verschärfen. Zum einen sind die Langzeitfolgen dieses Artentransports noch vollkommen ungeklärt, zum anderen sind die besonderen Bedingungen der Nordsee noch lange keine Garantie dafür, dass nicht doch irgendwann eine Art das ganze System aus dem Gleichgewicht bringt.

Schon heute sind strenge Vorschriften in Kraft, die z.B. das Abpumpen von Ballastwasser in der Nordsee stark einschränken. Der Sinn ist, die Zuwanderung soweit zu beschränken, dass das Ökosystem einigermaßen unbeschadet bleibt.

Ob sich diese Hoffnung erfüllt, bleibt abzuwarten.
.
.
.
[1] Der größte Teil dieser Informationen stammt aus Literaturartikeln, die auf der Homepage von Stefan Nehring verfügbar sind: http://www.neozoa.de/

[2] Auf diese Weise hat zum Beispiel der Nilbarsch die Buntbarsche des Victoriasees in Ostafrika binnen weniger Jahre eliminiert.

4 Kommentare

  1. Gut gemacht!

    Guter Artikel. Das Thema hatte ich auch mal als blogwürdig ins Auge gefasst. Da bist Du mir mehr oder weniger zuvor gekommen. Aber ich werde es verschmerzen können^^

Schreibe einen Kommentar