Keine Pandemie aus dem Permafrost

Permafrostlandschaft in Island.

Dass die globale Erwärmung tiefgefrorene Krankheitserreger aus dem Permafrost freisetzen könnte, ist eine alte Idee. Interessant wurde es 2014, als sich der Erreger Pithovirus sibericum nach 30.000 Jahren im Permafrost als noch ansteckend erwies. Seither sind weitere Viren aufgetaucht, die seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit im gefrorenen Boden gefangen waren – zuletzt eine ganze Sammlung von Krankheitserregern verschiedener Gattungen.

Die Grundidee der Klimawandel-Pandemie erscheint erst einmal plausibel: irgendein Virus, das einst Menschen infizierte, wurde in der Arktis tiefgefroren. Über die Jahrzehntausende verschwand die Immunerinnerung an dieses spezielle Virus. Und wenn es nun dank der globalen Erwärmung wieder aus dem Eis hervorkommt, bekommen wir eine fiese Eiszeit-Pandemie. Quasi das Säbelzahnvirus.

Allerdings hat die Geschichte bisher einen kleinen Schönheitsfehler: alle aus dem Permafrost aufgeweckten Viren infizieren ausschließlich Amöben. Das ist natürlich auch so gedacht. Zum einen ist es sicherer, erst einmal möglichst weit weg von potenziellen menschlichen Krankheitserregern zu bleiben. Zum anderen ist es vergleichsweise einfach, solche Amöbenviren zu finden. Man gibt ein Extrakt der Probe auf virenfreie Amöben und guckt, was da so infiziert. Und schon hat man 30.000 Jahre alte Viren.[1]

Viren liegen nicht einfach irgendwo rum

Der Schritt von der Amöbe zum Menschen ist allerdings größer als es auf den ersten Blick erscheint. Das erste Problem: Viren liegen gemeinhin nicht so einfach in der Gegend rum – zumindest nicht in relevanten Mengen. Ein infizierter Wirt muss in der Nähe sein, oder gewesen sein. Und während Amöben auch in der Arktis ziemlich weit verbreitet waren und sind, machen Menschen sich in Permafrostgebieten eher rar – zumal vor 30.000 Jahren. Und für interessante Viren, geschweige denn eine Pandemie, müsste man schon menschliche Behausungen, Friedhöfe oder sogar eine Leiche finden.

Denn damit sich Menschen anstecken, braucht man Punkte hoher Viruskonzentration. Einerseits weil ein großer Teil der ursprünglichen Viren über die Zeit kaputt geht – ähnlich dem zufallsgesteuerten, aber regelhaften radioaktiven Zerfall -, andererseits weil bei den allermeisten Viren ein einzelner Zufallstreffer von Virus und Mensch nicht ausreichen dürfte. Während eine Amöbe ohne Weiteres von einem einzelnen Viruspartikel infiziert werden kann, haben wir Schleimbarrieren, Enzyme, Immunzellen und andere Abwehrfunktionen.

Hinzu kommt, dass die Chancen für Viren noch einmal schlechter werden, wenn der Permafrost erst einmal getaut ist. Dann fällt nicht nur die konservierende Wirkung des Eises weg, die Viren werden außerdem verteilt und verdünnt – was die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine infektiöse Dosis des Virus zusammenkommt.

Warum Eiszeit-Bakterien kein echtes Problem sind

Anders sieht das übrigens mit Bakterien aus, die sich ja meist auch in der Umwelt vermehren können. Zum Beispiel kann der Erreger der Cholera mit Abwasser in einen Fluss gelangen und entlang der Ufer Menschen noch in Dutzenden Kilometern Entfernung krank machen. So geschehen vermutlich in Haiti 2010, als Abwasser einer UN-Friedenstruppe in den Artibonite River floss und eine verheerende Cholera-Epidemie auslöste. Und wir wissen, dass Milzbrand im Permafrost steckt.

Allerdings sind 30.000 Jahre alte Killerbakterien – im Gegensatz zu Viren – keine wirkliche Bedrohung. Im Gegenteil. Ein solcher Keim wäre, anders als seine modernen Verwandten, für die Mehrzahl der verfügbaren Antibiotika empfänglich[2] und damit leicht zu besiegen. Da es keine vergleichbaren Breitband-Virustatika gibt, die gegen Dutzende oder gar hunderte Virengruppen wirken, gäbe es gegen ein neues Pandemievirus keine simple Gegenwehr. Und gegen ein vor 30.000 Jahren eingefrorenes Virus gäbe es keine Immunität in der Bevölkerung.

Man wird aber ziemlich sicher kein Virus wie Sars-CoV-2 oder Masern in 30.000 Jahre altem Permafrost finden wird. Für diese Art von Krankheitserregern war die menschliche Lebensweise damals schlicht ungeeignet. Die Trupps von Menschen, die damals umherzogen, waren relativ klein und isoliert – und erst recht in so unwirtlicher Umgebung.[3]

Wenn jetzt ein ansteckendes Virus wie Sars-CoV-2 in so einer Truppe von vielleicht 30 Leuten ausbricht, dann werden die alle binnen kurzer Zeit nacheinander krank. Nach ein, zwei Monaten sind alle entweder tot oder Immun, das Virus verschwindet. Die gleiche Logik gilt für nahezu alle anderen akuten, hochansteckenden Viruserkrankungen, die man dieser Tage mit dem Begriff “Pandemie” verbindet.[4] Es gab in diesen Wildbeuterkulturen schlicht zu wenig Menschen mit zu wenig Kontakten, als dass sich Grippe, Masern oder Noro dauerhaft hätten halten können.

Wie ein Virus zehntausende Jahre im Permafrost überlebt

Vermutlich haben außerdem nur wenige Viren überhaupt eine Chance, 30.000 Jahre stabil zu bleiben. Darauf deutet schon die Auswahl der bisher gefundenen Amöbenviren hin. Sie alle haben eine Gemeinsamkeit: eine stabile Kapsel mit dicker Außenwand. Pandoraviren und Pithoviren umgeben sich mit einer flaschenförmigen Hülle aus Protein oder Zellulose, die sich nur an einer einzigen Stelle öffnen kann, und auch das Pacmanvirus, das immerhin eine äußere Membran trägt, hat direkt darunter eine stabile ikosaedrische Proteinwand. All diese Viren besitzen – natürlich, könnte man denken – Erbgut aus doppelsträngiger DNA, die stabiler ist als Einzelstrang-DNA oder gar RNA.

Ein Pithovirus. Sichtbar ist die dicke Hülle, womöglich entscheidend für die Stabilität im Permafrost, und der “Stöpsel” in der einzigen Öffnung des Virus.
Quelle: Clara Rolland et al. Viruses 201911(4), 312; https://doi.org/10.3390/v11040312, CC BY 4.0

Dagegen erscheinen einfache behüllte RNA-Viren wie Sars-CoV oder Influenza sehr fragil. Auf Oberflächen bleiben sie ein paar Stunden ansteckend, und ob sie das Einfrieren unter natürlichen Bedingungen besser überstehen, ist mindestens fraglich. Eiskristalle zerreißen leicht die äußere Membran, und die nahezu überall vorhandenen RNAsen zerlegen das Erbgut. Bei Pocken und Influenza, die in historischer Zeit in Permafrost-Regionen grassierten, hat man ein paar mal versucht, aktive Viren aus gefrorenen Leichen zu bekommen – ohne Erfolg. Und das, obwohl man da quasi das günstigste denkbare Szenario hat und Pockenviren sogar eine Reihe Ähnlichkeiten mit den Riesenviren der Amöben haben.

Vermutlich liegen die Unterschiede in der Stabilität einfach daran, dass Menschen sich gemeinhin direkt gegenseitig anstecken. Amöben dagegen husten sich nicht gegenseitig ins Gesicht. So ein Viruspartikel kann schon mal ne Weile in der Gegend rumliegen, bis die nächste Amöbe vorbei kommt. Schlimmer noch, die Amöben können Sporen bilden, wenn die Bedingungen schlechter werden. In dieser inaktiven Form überdauern die Amöben über Jahre, vielleicht Jahrzehnte, bis die Bedingungen wieder günstig sind. Und ihre Viren müssen natürlich auch so lange durchhalten, sonst sterben sie einfach aus.

Natürlich gibt es auch bei Menschen relativ umweltstabile Viren. Das sind meistens solche, die über die Fäkal-oral-Route übertragen werden – also durch Leute, die sich nicht die Pfoten waschen. Solche Viren sind gemeinhin unbehüllt und haben eine stabile Proteinkapsel, dank der sie für längere Zeiträume in Lebensmitteln, im Boden oder sonstwo überstehen können. Allerdings ist deren Kapsel nicht mit den dicken Behältern der Riesenviren vergleichbar, die Amöben infizieren. Und auch bei ihnen ist die (relativ) direkte Übertragung von Mensch zu Mensch ungleich effektiver als jahrelang im Boden auf der Lauer zu liegen, bis zufällig jemand vorbei kommt.

Latente Infektionen statt gefrorene Viren?

Dennoch ist bei solchen Viren vorstellbar, dass sie im Permafrost überlebt haben, wenn zum Beispiel durchfallgeplagte Eiszeitmenschen sie einst in der Tundra hinterließen. Das wäre eine andere Art von Bedrohung; wenn es wirklich drauf ankommt, kann man die fäkal-orale Übertragung ja relativ einfach unterbinden. Möglicherweise wäre so eine Eiszeit-Seuche dann keine Pandemie nach dem Muster von Sars-CoV-2, sondern eher eine Krankheit des globalen Südens, die sich vor allem dort verbreitet, wo die Leute keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.[5]

Aber vielleicht ist all das ohnehin etwas voreilig. Aus meiner Sicht ist nämlich nicht ganz klar, ob da überhaupt isolierte Viruspartikel zehntausende Jahre im Eis überlebten. Viren können ja Zellen latent infizieren. Und Amöben bilden dauerhafte Zysten mit einer Doppelwand auf Protein und Zellulose, die Säure, Hitze und hochenergetische Strahlung verkraften und über Jahrzehnte überleben. Und so wie ich die Veröffentlichungen verstehe, können neben Viren auch Amöbenzysten in die Proben gelangen.

Ich bin nicht völlig sicher, ob diese Zysten tatsächlich latente Virusinfektionen tragen können; aber zumindest findet man anscheinend virale Gene all dieser Viren im Amöbenerbgut, was dafür spräche. Bei den Amöbenviren ist natürlich egal, ob nun die Viruspartikel selbst überlebt haben oder die latenten Infektionen. Aber für ein potenzielles menschliches Pandemievirus macht das natürlich einen erheblichen Unterschied. Denn dass jemand eine Pandemie auslöst, indem er eine 30.000 Jahre alte tiefgefrorene Leiche aus Sibirien wieder aufweckt, ist dann doch eher unwahrscheinlich.

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[1] Vorausgesetzt, die Viren sind keine Kontamination mit jüngerem Material. Das ist bei sowas natürlich immer schwer auszuschließen.
[2] Viele Gene für Antibiotikaresistenzen sind älter als der medizinische Einsatz von Antibiotika. Das liegt daran, dass Mikroorganismen solche Stoffe von Natur aus produzieren, besonders im Boden. Aber ein Eiszeitbakterium wäre, anders als moderne Krankenhauskeime, nicht gegen mehrere oder gar alle verwendeten Antibiotikaklassen resistent.
[3] Mal ganz abgesehen von der Frage, wie oft Menschen überhaupt auf dem Höhepunkt der letzten Vereisung in einer Region aufgetaucht wären, die selbst in der aktuellen Warmzeit noch bis in die Tiefe gefroren ist.
[4] Wobei natürlich auch chronische, über Jahre ablaufende Infektionen wie HIV oder Hepatitis pandemisch werden können. Eine solche Pandemie würde aber wohl keinen vergleichbaren Wirbel mehr auslösen.
[5] Wobei ich ja den Verdacht hab, dass beträchtliche Teile der deutschen Bevölkerung bei so ner Pandemie aus purem Trotz mit ihrer eigenen Scheiße unter den Fingernägeln rumlaufen würden.

4 Kommentare

  1. Nun , wenigstens eine gute Story fuer ein Steven King Buch , oder ?
    “The Last Stand 2 ”
    Gruss
    Jürgen Schöfer, Ph.D.

  2. Ja das wird eine spannende Sache… Wenn nicht nur Viren von damals uns das Leben schwer machen sondern auch Bakterien können wir uns warm anziehen,denn die aktuellen Entwicklungen in der Pharmaindustrie laufen gegen dieser “Viecher”. Ganz böse neue oder sollte man eher sagen uralte Feinde. Ich habe da echten Respekt vor und würde den Kontakt eher meiden wollen. Auch läuft das Ausgraben oder Freilegen wohl nicht unter kontrollierten Bedingungen. So dass die Verbreitung ebenso laufen könnte. Ein toller Beitrag Herr Fischer!

  3. Danke für diesen Beitrag, gut zu wissen das man sich wenigstens um das nicht den Kopf zerbrechen sollte. Es ist aber wichtig zu wissen, dass der Permafrost nur ein kleiner Teil des globalen Klimas ist – und selbst wenn er große Mengen an CO2 freisetzt, würde er wahrscheinlich nur einen winzigen Teil zur globalen Erwärmung beitragen. Auch wenn wir uns dessen bewusst sein und es überwachen müssen, besteht also noch kein Grund zur Panik vor möglichen Pandemien!

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