Was sind Quasikristalle?

BLOG: Fischblog

Wissenschaft für alle
Fischblog

Kennt ihr das Gefühl, wenn man plötzlich merkt, dass man etwas Wichtiges übersehen hat? Wenn die Flugtickets nicht mit ihrem Besitzer in der Schlange am Check-in stehen, sondern hoch und trocken auf dem Schreibtisch liegen und die Aussicht genießen, so in der Art. Das ist mir neulich passiert, als Daniel Shechtman den Nobelpreis für Chemie bekommen hat.

Daniel Shechtman. Bild: Nobel Foundation

Der Punkt ist, dass ich qua Ausbildung ein Molekül-Typ bin, also das was man sich unter einem Chemiker so vorstellt, mit Additionen, Substitutionen und Lösungsmittel abrotieren und am Ende hab ich dann ein Molekül. Dass ich ganz konkret in der Größenordnung von 1021 Exemplaren davon in Form eines glitzernden Pulvers habe, ist schön für die Ausbeute, aber im Grunde geht es um das Abstraktum, die definierte Struktur aus einer Handvoll Atomen, die ich mir vorher schön zurechtgemalt habe.

Andere interessieren sich für das Pulver. Also nicht so sehr dafür, ein Molekül mit einem anderen reagieren zu lassen, sondern was passiert, wenn sich 1021 gleichartige Bausteine unter dem Einfluss ihrer gegenseitigen Anziehungskräfte zu einem Objekt zusammenfinden, zum Beispiel einem staubkorngroßen Kriställchen. Verglichen mit meinen Molekülen ist das unvorstellbar groß. Es ist eine andere Welt, die nach anderen Regeln funktioniert. Mir war bis vor ein paar Wochen nicht klar, dass Shechtman diese Welt 1984 sauber in Trümmern gelegt hat.

Die grundlegende Theorie über die Ordnung in Festkörpern stammt aus dem 18. Jahrhundert, damals leitete ein französischer Priester aus ein paar Beobachtungen und Überlegungen den grundsätzlichen Aufbau der Kristalle ab. Kristalle können beliebig komplizierte Bestandteile enthalten – zum Beispiel ganze Proteine – aber sie bestehen aus einer einfachen, sich wiederholenden Grundstruktur. Diese Grundstruktur bezeichnet man als Elementarzelle, und ein Kristall besteht aus unzähligen solcher aneinandergereihten Elementarzellen.

Beugungsbild eines Quasikristalls. Bild: Nobel Foundation

Diese extrem hohe Ordnung bedingt nicht nur die verschiedenen geometrischen Kristallformen (aus denen dieses Ordnungsprinzip einst abgeleitet wurde), sondern bestimmt auch die Eigenschaften moderner Spezialkeramiken, Halb- und Supraleitern, Flüssigkristallen und der großen Vielfalt der metallischen Werkstoffe. Sie führt auch dazu, dass Kristalle Röntgenstrahlung in regelmäßiger, berechenbarer Weise streuen.

Durch die regelmäßigen Atomlagen, die dank der kristallinen Struktur den ganzen Kristall durchziehen, wird ein Röntgenstrahl in viele verschiedene Richtungen gestreut und erzeugt ein regelmäßiges Interferenzmuster, aus dem man die Positionen der Atome und Bindungslängen ableiten kann. Das ist ausgesprochen praktisch, denn ohne diese kleine Feinheit wüssten wir heute ungleich viel weniger über diese zweite Hälfte der Chemie, die großräumige Ordnung in Feststoffen.

Auch für die konventionelle Chemie ist die Röntgenstrukturaufklärung heute unverzichtbar, denn mit ein paar Tricks bilden auch große Biomoleküle Kristalle, die man auf diese Weise durchleuchten kann. Die Strukturaufklärung des Ribosoms, für den Ada Yonath und zwei Kollegen vor zwei Jahren den Chemie-Nobelpreis bekamen, basierte auf dieser Methode. Dass auch dieses Jahr eine Entdeckung prämiert wurde, die auf der Röntgenbeugung beruht, spricht Bände über die herausragende Bedeutung des Verfahrens.

Die Ironie der Sache ist, dass die Entdeckung von Shechtman ein ganz grundlegendes Element der Theorie hinter der Röntgenbeugung glatt zerlegt hat, und die 250 Jahre alte Theorie der Kristallstruktur gleich mit. Wir haben hier den Fall einer Entdeckung, die eigentlich schlicht nicht sein kann, und der glückliche Finder hat sich seinen Nobelpreis weniger damit verdient, dass er durch Zufall auf eine neue Art von Fernordnung gestoßen ist, sondern dass er seine Ergebnisse so lange beharrlich verteidigt hat, bis sie anerkannt wurden. Und sie wurden anerkannt, als Sonderbonus noch zu seinen Lebzeiten (dass der abfällige Spruch “Es gibt keine Quasikristalle, nur Quasi-Wissenschaftler” der Überlieferung nach von Linus “Vitamin C” Pauling stammt entbehrt nicht einer gewissen Ironie, aber das nur nebenbei). Das Glück haben nicht alle Forscher, die sich mit neuen Ideen gegen den wissenschaftlichen Konsens ihrer Zeit stellen.

Der springende Punkt hier ist ein Verbot, das direkt aus der Geometrie der Kristalle folgt: Die Forderung nach Translationssymmetrie führt dazu, dass bestimmte andere Symmetrien in Kristallen grundsätzlich nicht möglich sind. Zum Beispiel kann so ein Kristall nur vier verschiedene Rotationssymmetrien haben: zweizählige (Drehung um 180 Grad), dreizählige (120 Grad), vierzählige (90 Grad) und sechszählige (60 Grad). Eine fünfzählige, siebenzählige oder achtzählige Rotationssymmetrie ist mit Translationssymmetrie nicht vereinbar. Das lässt sich ziemlich einfach zeigen:

Wenn man um einen beliebigen Punkt ein Punktmuster mit der gewünschten Rotationssymmetrie bastelt und den Mittelpunkt dann auf einen dieser Punkte verschiebt, erkennt man leicht, dass man mit bestimmten Symmetrien ein regelmäßiges Gitter bauen kann, mit anderen aber nicht – letztere sind in Kristallen verboten. Das heißt, man sollte diese Symmetrien nie in der Röntgenstrukturanalyse sehen – denn ohne regelmäßige Gitter keine Interferenz und keine klaren Reflexe im Beugungsbild.

Dank Shechtman wissen wir heute, dass das nicht stimmt. Am 8. April 1982 untersuchte er in seinem Labor einen Festkörper aus Mangan und Aluminium, die er zusammengeschmolzen und schnell abgekühlt hatte. Mangan und Aluminium bilden intermetallische Phasen, Mischungen aus Metallen, die ein eigenständiges Kristallgitter bilden, das sich von den Gittern der Ausgangselemente unterscheidet[1]. Das verleiht ihnen neue, spezielle Eigenschaften und macht sie für die Materialforschung interessant.

Was Shechtman aber im Röntgenbeugungsbild fand, war ein ganzes Stück bemerkenswerter als ein neuer Werkstoff: Das Beugungsbildzeigte eine verbotene Rotationssymmetrie. Nun ist eine verbotene Rotationssymmetrie in der Kristallografie per se nicht so ganz ungewöhnlich, sie zeigt normalerweise an, dass ein Zwilling vorliegt – ein Doppelkristall aus zwei miteinander verwachsenen Kristallen.

Das weiß natürlich auch ein erfahrener Kristallograph, und so einer war Shechtman zu der Zeit bereits. Dass er zwei Jahre später sein Resultat veröffentlichen konnte, verdankt er denn auch nicht so sehr seiner ersten Zufallsentdeckung, sondern dem Umstand, dass er in der weiteren Folge Kristalle und Beugungsbilder extrem hoher Qualität nachschieben konnte, mit denen er dann seine Kollegen sowie die Gutachter der Physical Review Letters von seiner “unmöglichen” Entdeckung überzeugte.[2]

 

Das Wesen der Quasikristalle ist erst einmal schwer zu fassen – die Reflexe der Röntgenbeugung kommen durch konstruktive Interferenz zustande, und für die braucht man großräumig regelmäßig angeordnete Strukturen wie eben die Atomlagen, die durch die Abfolge immergleicher Elementarzellen im Kristall zustande kommen. Welche regelmäßigen Strukturen erzeugen die Interferenzmuster, wenn es diese Atomlagen nicht gibt? Ehrlich gesagt fällt es mir persönlich eher schwer, mir das für einen Quasikristall vorzustellen.

Tatsache ist, dass es funktioniert. Quasikristalle enthalten eine Ordnung, aber eine Ordnung von atemberaubender Fremdartigkeit. Ihre Struktur ist nicht nur regelmäßig, sondern über viele Größenskalen selbstähnlich, was man im Beugungsdiagramm auch sehen kann. Der Begriff Fraktal drängt sich auf, eine weitere schwer fassbare Merkwürdigkeit aus der Geometrie. Die Festkörperchemiker jedenfalls haben die Quasikristalle Demut gelehrt: Von der Vorstellung, über die Ordnungsprinzipien im Festkörper Bescheid zu wissen, hat sich das Fach bis auf weiteres verabschiedet.

Niemand weiß, ob irgendwo da draußen nicht noch andere, noch fremdartigere Strukturen auf die Forschung warten und welche Eigenschaften sie haben. Die Welt der großräumigen Strukturen ist wieder eine offene, mit großen weißen Flecken und vielen noch unbekannten Überraschungen – auf Augenhöhe mit der unüberschaubaren Vielfalt der Moleküle.
.
.
.
[1] Im Gegensatz zu Legierungen, die auf dem Kristallgitter der Hauptkomponente basieren.

[2] Die Geschichte enthält durchaus eine Lektion darüber, wie man unkonventionelle Ergebnisse in der Forscherwelt anerkannt bekommt. Die Wissenschaft ist im Grunde gar nicht allzu offen für wirklich neue und ungewöhnliche Ideen, und sollte es auch nicht sein. Schließlich zeigt die Erfahrung, dass neun von zehn neuen und ungewöhnlichen Ideen schlicht Quatsch sind. Es ist schon ganz gut, dass es immer wieder Wissenschaftler gibt, die sich gegen den Mainstream für unerprobte und ungewöhnliche Thesen einsetzen. Die Quasikristalle sind ein Beispiel, Steinmans dendritische Zellen ein anderes. Aber wer mit dem Verweis auf diese Beispiele mehr Offenheit für Außenseiterthesen fordert, verkennt die Gründe für den Erfolg des Systems.

4 Kommentare

  1. 2 Sorten von Underdogs

    Wenn man was überraschendes entdeckt und Gegenwind von der Wissenschaftsgemeinde erhält, kann man auf 2 Arten darauf reagieren. Man kann wie Shechtman noch mehr Versuche machen und den Kritikern zeigen dass sie falsch liegen und man recht hat. Dann bekommt man evtl. später als Belohnung verdientermaßen den Nobelpreis.
    Oder man stampft mit dem Fuß auf und behauptet, dass man halt einfach recht hat und das gefälligst alle glauben sollen und die Kritiker halt bloß neidisch sind. Dann zieht man durch die Lande und verdient sein Geld mit Medienauftritten in denen man sein Leid erzählt anstatt Wissenschaft zu machen.

    Einige werden es sich schon denken um was es mir geht: diese nervige Arsenic Life Geschichte vom letzten Dezember. Das ging mir jedenfalls durch den Kopf, als ich vor 2 Wochen Shechtmans Geschichte gehört habe. Und damit bin ich wohl nicht allein…

  2. Die Geschichte

    mit #arseniclife drängt sich dabei in der Tat auf. Vor allem durch den Kontrast zu Shechtman. Der ist 1982 nämlich nicht von der Presse als großes Thema rumgereicht worden wie Wolfe-Simon jetzt.

  3. Quasikristalle

    Vielen Dank für diesen äußerst spannenden Artikel.
    Beim ‘nachgoogeln’ über Quasikristalle erfährt man, dass ein gewisser Roger Penrose in jungen Jahren bereits 1973 das 2-dimensionale Schnittmuster von Quasikristallen mathematisch beschrieben hat.
    Man findet die sog. Penrose-Parkettierung auch in alten arabischen Ornamenten.
    Leider war alles ganz anders, aber man stelle sich Daniel Shechtman kurz nach seinem experimentellen Befund vor, von den Fachkollegen noch nicht ganz ernst genommen. Er traut seinen Ergebnissen, kann sie aber noch nicht einordnen. Er schlendert zufällig im Urlaub durch die Alhambra. Staunend betrachtet er ein kompliziertes Ornament. Plötzlich wird ihm klar, dass ‘sein Kristall’ auf eine Art geordnet sein könnte, die der des Ornaments – um die dritte Dimension erweitert – entspricht!

  4. Mich hat besonders gefreut, dass hier nicht nur ein guter Wissenschaftler geehrt wurde, der sich auch von der kritik seiner Kollegen nicht irritieren liess, sondern dass die Geschichte auch zeigt, wie spannend Kristallographie sein kann.

Schreibe einen Kommentar