Blog Action Day: Die Erschließung der Arktis

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Khon, V., Mokhov, I., Latif, M., Semenov, V., & Park, W. (2009). Perspectives of Northern Sea Route and Northwest Passage in the twenty-first century Climatic Change DOI: 10.1007/s10584-009-9683-2

Nördlich des Polarkreises, wo fast jeden Sommer weniger vom nicht mehr ganz so ewigen Eis der Arktis übrig ist, schafft der Klimawandel neue Möglichkeiten. Erstmals seit Menschengedenken sind die beiden legendären Schifffahrtsrouten des Nordpolarmeer gleichzeitig passierbar: Die Nordostpassage um Sibirien herum und die Nordwestpassage von Kanada und Alaska.

Ein Schiff, das diese Strecken von Europa nach Asien nutzt statt durch Suez- oder Panamakanal zu fahren, spart nicht nur sechsstellige Kanalgebühren, sondern auch je nach Route mehrere tausend Kilometer Wegstrecke, und jeder Tag auf See kostet zigtausende Euro. Und nicht nur die Transitstrecke ist interessant, die Nordrouten sind die Tore zur Arktis selbst und zu den enormen Rohstoffvorkommen, die dort noch liegen sollen.

Dafür allerdings muss die Strecke zuverlässig über lange Zeiträume befahrbar sein, und das kann noch eine ganze Weile dauern. Russische und deutsche Forscher haben mit Hilfe von Computersimulationen ermittelt, dass sich die eisfreie Periode bis zum Ende des 21. Jahrhunderts für beide Strecken verdoppeln wird. Die Frage ist: Was bedeuten solche Klimainformationen für die Erschließung der Arktis?

Laut Studie verlängert sich unter der Annahme eines mittleren Szenarios für den Klimawandel (A1B) die (weitgehend) eisfreie Periode auf beiden Strecken im nächsten Jahrhundert kontinuierlich, mit potentiell erheblichen ökonomischen und ökologischen Konsequenzen. Derzeit ist die Nordostpassage lediglich knapp 60 Tage im Jahr ohne Eisbrecher  befahrbar, viel zu wenig für kommerzielle Zwecke, abgesehen von speziellen Anlässen wie zum Beispiel Schwergutlieferungen in sibirische Häfen. Im Jahr 2100 werden es nach diesen Modellen schon über vier Monate sein. In der Nordwestpassage, die ökonomisch sogar noch interessanter ist, hält sich das Eis laut Vorhersage hartnäckiger. Die Strecke führt durch die Inseln der Kanadischen Arktis, zwischen denen das Eis wesentlich schwerer abgetrieben oder vom Wind aufgebrochen werden kann. Dort kann man derzeit etwa anderthalb Monate passieren,  ein Wert, der sich nach den Modellen bis 2100 etwa verdoppeln wird.

Eisverlust unterschätzt?
Diese Vorhersagen sind wahrscheinlich zu konservativ, und das liegt zum einen an den Modellen: Die zukünftige Entwicklung des Meereises zu simulieren ist keine leichte Übung. Die Verbindung zwischen Klima und Meereisverteilung ist ziemlich komplex, weil Meeresströmungen einerseits Wärme transportieren, andererseits aber eben auch Eis. Und dann kommt natürlich noch das Problem hinzu, dass die Eisdicke für die zukünftige Entwicklung mindestens genau so relevant ist wie die Fläche.

Die beteiligten Wissenschaftler haben nun die Güte des Modells durch den Vergleich mit Satellitendaten der Meereisbedeckung im Zeitraum von 1979  bis 2007 ermittelt. Derartige Klimamodelle haben in der Vergangenheit den Rückgang der sommerlichen Eisbedeckung eher unterschätzt. Auch in dieser Untersuchung stellen die Autoren fest, dass der Schwund der vergangenen Jahrzehnte in den Modellen tendenziell geringer ist als in den Daten. Aktuelle Studien, die neben der Eisfläche auch die Eisdicke und sein Alter in die Kalkulationen einbeziehen, zeichnen ein wesentlich drastischeres Bild vom Eisverlust.

Rohstoffabbau als Wegbereiter
Neben diesen Überlegungen gibt es auch gewichtige ökonomische Gründe, die Prognose der Studie zu konservativ zu finden. Mit dem Rückgang des Eises kommt eine Dynamik in Gang, die über das bloße Klimageschehen weit hinausgeht. Sobald die Bedingungen den Zugang zu den Rohstoffen der Arktis ermöglichen, ändern sich auch die Spielregeln für die Handelsschifffahrt. Die Rohstoffexploration wird die am leichtesten zugänglichen Bereiche als erstes erschließen, ohne darauf angewiesen zu sein, dass die ganze Strecke komplett befahrbar ist.

Die Erschließung der Arktis ist nicht davon abhängig, wie lange die Routen offen sind. Der Zusammenhang ist genau umgekehrt: Die Handelsschifffahrt wird quasi durch die Rohstoffexploration subventioniert und damit wesentlich schneller voranschreiten als der bisherige Zusammenhang mit dem Meereis vermuten lässt – selbst wenn man davon ausgeht, dass die Modelle den Eisrückgang korrekt vorhersagen. Das betrifft besonders die Nordwestpassage, die zwei kritische Teilstücke mit dickem, mehrjährigem Eis aufweist, ansonsten aber nicht schlechter zugänglich ist als der Rest der Arktis auch.

Langfristige Prognosen sind hier natürlich mit äußerster Vorsicht zu genießen. Zu viele Unterschiedliche Faktoren spielen hier neben dem Klimawandel eine Rolle, unter anderem auch die Auslastung der Kanalkapazitäten und natürlich die Gesamtentwicklung des Welthandels. Trotzdem bin ich ziemlich sicher, dass die vorliegende Studie die Dynamik der Ereignisse in der Arktis in jeder Hinsicht erheblich unterschätzt. Die Erschließung der Arktis ist ein sich selbst beschleunigender Prozess mit gravierenden Konsequenzen für Wirtschaft, Politik und Umweltschutz. Die Welt sollte sich hier nicht überrumpeln lassen.

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