Von “privacy paradox” zu “professional paradigm”

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Wie sozial man im Digitalen ist, ist keine private Entscheidung mehr, sondern eine beruflich relevante Frage

Nicht erst in Zeiten des facebook-Desasters wägen viele den Nutzen und die Kosten sozialer Medien ab. Meistens sind die Meinungen dabei sehr eindeutig – positiv oder negativ. Doch wie immer im Leben: Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Soziale Medien haben beide Seiten. Was also tun? Im Folgenden einige Überlegungen hauptsächlich zu twitter [1], die aber auch auf andere Anbieter übertragen werden können.

1. Twitter ist toll!

(Mehr oder weniger) Kluge, witzige, interessante Gedanken aufschreiben und sie spontan mit einer großen community teilen, wenn man auf englisch schreibt sogar international. Ebensolche Gedanken von anderen Leuten lesen, Fotos ansehen usw. Twitter ist inspirierend, unterhaltend und bietet die Möglichkeit, sich über Kilometer hinweg in Echtzeit mit Gleichgesinnten auszutauschen oder mit Nicht-Gleichgesinnten zu diskutieren. Beruflich oder privat. Wer Filter klug zu nutzen weiß, bekommt auch nur Informationen von denjenigen Personen/ Institutionen, denen man folgt und damit potenziell auch nur Informationen, die interessant und relevant sind oder aus anderen Gründen geschätzt werden.

2. Problem: Viel Uninteressantes

Doch hier ist schon das erste Problem: Selbst wenn man nur den Leuten folgt, die man persönlich kennt oder die (laut Portfolio, das sehr kurz ist) in den eigenen Interessensgebieten unterwegs sind, liest und sieht man viel, das einen partout nicht interessiert. Das liegt zum einen daran, das manche eben doch nicht nur in ihrem Fachgebiet posten oder solche posts von anderen retweeten [2]. Manche sehen ja gerade den Reiz darin, twitter als vollständige Personen zu benutzen. Und genau so, wie man im Büro im Idealfall eben nicht nur arbeitet, sondern zwischendrin auch mal auf dem Gang mit einer Kollegin quatscht oder beim Mittagessen zusammen scherzt, wollen viele eben auch persönliche(re) Inhalte teilen. Nicht umsonst heißt es soziale Medien. Hier geht es nicht nur um Fakten. Das reicht von einem flapsigen Kommentar, über berüchtigte Aufzugselfies bis hin zum prototypischen Bild des Mittagessens [3]. Je nach Person und persönlichen Vorlieben können solche posts interessant sein – oder einfach nur nerven. Das ist ebenso unberechenbar wie die Tatsache unvermeidbar ist, das man beim Durchsehen der tweets mit solchen Inhalten konfrontiert wird. [4]

3. In twitter denken

Ich habe persönlich twitter selbst nicht ausschließlich beruflich – wenngleich sehr moderat privat – genutzt. Und ich habe es geliebt! Eine tolle Entdeckung, die mir viel Spaß gemacht hat, da ich gern fotografiere, sind zum Beispiel die #staTTgesichter. Unter diesem hashtag werden Bilder von Gegenständen gepostet (Autos, Häuser etc.), die so aussehen als haben sie ein Gesicht. Oder ich habe an einem lustigen Spiel teilgenommen, bei dem Fotos gepostet wurden, anhand derer man den Titel eines berühmten/ bekannten Liedes erraten sollte (bspw. das Foto einer Backsteinmauer: „Another brick in the wall“ etc.). Sogar jetzt, wo ich (schon lange) nicht mehr bei der Plattform angemeldet bin, erwische ich mich immer wieder, wie ich in twitter-posts denke: Mein Fahrrad wird samt massivem Eisen-Ständer von den Stadtwerken zwecks Bohrungen ausgegraben und drei Meter zur Seite gestellt. Ich denke: „Hallo @Stadtwerke. Habt Ihr sie noch alle?“ und verschicke das Foto in Gedanken an meine imaginären follower. Ich gehe in ein Café, in dem Rollstuhlfahrer einmal um das gesamte Gebäude fahren müssen, um hinein zu gelangen. Ich denke „So barrierefrei ist …“ und mache in Gedanken ein Bild von dem Schild, auf dem das Symbol eines Rollstuhlfahrers und ein Pfeil abgebildet ist, der um drei Ecken geht. Das passiert mir ungefähr einmal pro Woche, also nicht sehr oft, aber regelmäßig.

4. Stichwort: Authentizität

Sowohl bei den Verfassern als auch bei den Rezipienten gibt es verschiedene Nutzer-Typen und Erwartungshaltungen: Es gibt diejenigen, die die Plattform rein beruflich nutzen (Studien weiterleiten, Artikel professionell kommentieren, Pressemitteilungen verlinken etc.) und solche, die sich keine inhaltlichen Grenzen auferlegen. Und ebenso gibt es Nutzer, die als Rezipienten von der twitter-community entweder nur mit weitgehend beruflich relevanten Inhalten gefüttert oder aber auch unterhalten werden wollen. Ein bunter Mix also. Die Frage ist: Ist das schlimm? In einer Hinsicht: nein. Denn man kann sogar die These aufstellen, wie ich es auch schon in Vorträgen von @fischblog gehört habe, dass twitter erst dann richtig funktioniert [5], wenn man authentisch ist; das heißt also, wenn man nicht drei Mal pro Tag zu festen Zeiten emotionslose Standard-Sätze publiziert, sondern auch kommentiert, retweetet und auch mal etwas schreibt, was nur am Rande mit der professionellen twitter-Identität zu tun hat. Nicht optimal ist jener Nutzer-Rezipienten-Mix, wenn man bestimmte Erwartungen an die Plattform hat, beispielsweise nur beruflich relevante Informationen zu bekommen. [s. auch 4]

5. Wikipedia-Effekt bei twitter

Bestimmt steht und fällt der persönliche Nutzwert von twitter auch mit den Erwartungen bezüglich der Effektivität, gewiss aber auch mit dem Nutzerverhalten. Und hier ist ein weiteres Problem: Viele sehen sich bei twitter regelmäßig einem Phänomen ausgesetzt, das auch als Wikipedia-Effekt bekannt ist. Von einer Seite zur nächsten, von einem Link zum nächsten, ach und das hier könnte ja auch noch interessant sein… Selbst Menschen, die sich sonst als einigermaßen disziplinierte Personen einschätzen, passiert das. Eine Möglichkeit dies abzuwenden: Twitter nicht mobil auf dem Handy nutzen. Dann macht es aber keinen Spaß mehr und die Authentizität geht flöten.

6. Die lieben Daten oder: Nichts ist umsonst

Nichts ist umsonst, hört man im Zusammenhang mit sozialen Medien immer wieder. Und tatsächlich ist die Erhebung und Auswertung der Daten ein wichtiger Punkt – sowohl für die Anbieter als auch für die Nutzer. Soziale Medien sind, wie oben dargelegt, prädestiniert dafür, dass man zumindest in einem gewissen Grad auch persönliche Inhalte teilt. Es ist schwer, sozial bzw. authentisch zu sein, wenn man seine Persönlichkeit komplett verbirgt. Dies erfordert manchmal auch das Teilen privater Informationen, worunter ich den Standort [6] zähle, warum man sich dort befindet und mit wem. Aus vielen posts (siehe meine Beispiele oben unter Punkt 3) gehen diese Informationen hervor. Darüber sollte man sich im Klaren sein.

Man kann auch mit bestimmten Einstellungen den Grad der Öffentlichkeit regulieren, in dem posts getweetet werden. Allerdings macht es keinen Spaß, die die Inhalte nur denen zugänglich zu machen, denen es explizit erlaubt wird. Denn gerade die unbekannten Nutzer, die einem auf einmal folgen oder die eigenen tweets favorisieren, zeigen einem doch, dass die eigenen Gedanken und Inhalte bei anderen Resonanz [7] erzeugen. Und das wiederum kann motivieren, weitere Kommentare und posts zu schreiben oder auf Reaktionen anderer zurück zu reagieren, also sozial zu sein.

7. Von privacy paradox zu professional paradigm

Wenn man all dies nicht möchte, bleibt einem nur, sich von der Plattform abzumelden oder sie gar nicht erst zu nutzen. Und dann wiederum stellt sich die Frage, ob einem Nachteile aus der Abwesenheit in einem sozialen Medium entstehen, insbesondere in Branchen, die maßgeblich über die digitale Kommunikation funktionieren.

Das in den Medienwissenschaften unter dem Stichwort privacy paradox bekannte Phänomen – einerseits möchte ich sozial sein und mich mit Leuten vernetzen, andererseits möchte ich nicht sämtliche Informationen an einen potenziell sehr großen Kreis, teils mir völlig unbekannter Leute, weitergeben, geschweige denn an den Plattformbetreiber, der alle Daten in großem Stil sammelt und auswertet – wird somit zum professional paradigm: Die Frage, ob ich sozialen Medien beitreten und darin kommunizieren möchte, ist nicht mehr nur eine private Frage, sondern ggf. eine beruflich relevante: Entgehen mir wichtige Informationen? Werden manche Informationen nur digital geteilt? Verpasse ich den Anschluss? Dies gilt im Analogen sicherlich genauso, aber im Digitalen sind die Bedingungen andere.

7. Fazit

Beunruhigend ist also nicht nur die Tatsache, sich „so unconnected“ zu fühlen, wie Eva Wolfangel in ihrem sagenhaften Artikel Die Spione, die ich liebte beschreibt, wenn man nicht an jener schönen digitalen Welt teilhat. Beunruhigend ist viel mehr, dass es mittlerweile keine freie Entscheidung mehr zu sein scheint, ob man sozialen Medien beitritt oder nicht. Zumindest in Branchen, die hauptsächlich über diese kommunizieren. Natürlich kann man tweets auch einsehen, ohne Mitglied bei twitter zu sein, aber selbst mitzureden ist eben doch etwas anderes.

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[1] Kurz für diejenigen, die twitter nicht kennen: Man kann (meist kurze) Inhalte (Text, Videos, Bilder, Links etc.) verfassen und beliebig vielen Leuten folgen, die ebendies tun. Alles, was man verfasst, bekommen diejenigen zu sehen, die den eigenen Kanal abonniert haben. Und man kann die Kanäle anderer Personen/ Institutionen abonnieren, die einen interessieren. Alles, was diese Leute verfassen, bekommt man wie in einer Art Live-Ticker zugespielt. Vielleicht ist das tool deshalb so beliebt bei Journalisten? Einzelne Wörter oder Kürzel können außerdem mit einem Hashtag verschlagwortet werden, sodass man durch eine Suche nach bestimmten Hashtags den Inhalt auch filtern kann – allerdings, so weit ich weiß, nur chronologisch ab jetzt rückwärts. Außerdem kann man Listen zu einem bestimmten Thema abonnieren oder selbst dort posten, sofern man von dem/ der Initiator/ in der Liste aufgenommen wird.

[2] Retweets sind Weiterleitungen von Inhalten anderer, die ich bekommen habe.

[3] Interessante Frage: Warum posten Menschen so gern Bilder von ihrem Essen (Stichwort #foodporn)? Selbst in Deutschland, wo für Essen im internationalen Vergleich wesentlich weniger ausgegeben wird. Das ist vermutlich eher eine Frage der optischen Ästhetik denn eine Frage der gustatorischen Wertschätzung.

[4] Man kann natürlich einwenden, dass es prinzipiell in jedem Medium passieren kann, dass Erwartungen nicht erfüllt werden und Inhalte langweilen. Bei redaktionell publizierten Inhalten oder von (dem Rezipienten) bekannten Autoren ist aber die Wahrscheinlichkeit größer, dass ein Inhalt dem eigenen Geschmack entspricht bzw. die Erwartungen erfüllt.

[5] Mit richtig funktioniert meine ich hier 1., dass es der twitternden Person Spaß macht, zu twittern und 2., dass sie erfolgreich ist, was sich bei twitter auf drei verschiedene Weisen äußern kann: Viele retweets, viele Herzen (ehemals Sternchen) oder viele follower.

[6] Laut www.fr.de kann man inzwischen wohl steuern, „ob Twitter […] Standorte und die von ihnen genutzten Geräte zu Werbezwecken auswerten darf“. Allerdings ist es laut dem Artikel nicht sicher, ob sich das Unternehmen auch an diese Vorgaben halte. Außerdem ist demnach die Möglichkeit weggefallen, dem Unternehmen mitzuteilen, dass das eigene Browser-Verhalten nicht aufgezeichnet werden darf (die sog. Do-not-track-Option). Und natürlich gilt auch hier, wie so oft, opt-out: Das heißt, nach der Registrierung sind erst einmal alle Tore offen und müssen, sofern gewünscht, aktiv in den Einstellungen geändert werden.

[7] Der Resonanz-Begriff in der Soziologie geht auf Hartmut Rosa zurück, der unter anderem die These vertritt, dass das Erzeugen von Resonanz bei anderen ein wichtiger Faktor dafür ist, ob wir uns in ein soziales Gefüge eingebunden fühlen oder nicht.

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Bachelor-Studium "Philosophie, Neurowissenschaften und Kognition" in Magdeburg. Master-Studium "Philosophie" und "Ethik der Textkulturen" in Erlangen. Freie Kultur- und Wissenschaftsjournalistin: Hörfunk, Print, Online. Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung Philosophie, Fachbereich Medienethik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

3 Kommentare

  1. Man muss also authentisch wirken um viele oder wichtige Twitter-Follower zu gewinnen und zugleich kann Twitter zum beruflich/sozialen Erfolg beitragen. Wenn das so ist, dann überlegt sich ein professioneller Twitterer wohl, was er tun muss, um authentisch zu wirken. Nur ist er dann noch authentisch?

  2. Die sozialen Netzwerke schaffen Kleinstadtatmosphäre. Jeder kennt jeden, man kann sich mit jeden austauschen und ist nicht allein. Dass da Privates verloren geht, das wird hingenommen, man hat ja was zu bieten.
    Facit: Positiv

  3. Beunruhigend ist viel mehr, dass es mittlerweile keine freie Entscheidung mehr zu sein scheint, ob man sozialen Medien beitritt oder nicht.

    Wenn die sogenannte Sozialen Medien als Instrument genutzt werden, um für sich und seine Einstellungen oder seine Arbeit zu werben, scheinen sie mittlerweile alternativlos zu sein.
    Ansonsten dürfen sie auch gerne gemieden werden, auch um Zensur(ierung) zu meiden, denn es wird sich ja AGBs unterworfen, die alles mögliche i.p. Säglichkeit meinen können.
    Dr. Webbaer hat bspw. -von Experimenten abgesehen- Social Media streng gemieden, auch weil er deren Folgen sofort erkannt hat (und nicht besonders zu werben hatte, ansonsten wäre die Entscheidung wohl anders ausgefallen, korrekt).

    Natürlich kann man tweets auch einsehen, ohne Mitglied bei twitter zu sein, aber selbst mitzureden ist eben doch etwas anderes.

    ‘Selbst mitlesen’ genügt vielen i.p. sog. Social Media.

    MFG + gute Analyse!
    Dr. Webbaer

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