Von der Mönchsregel zur Grammatikregel: Die antike Prägung unserer Sprachauffassung

In meinen letzten Beiträgen in diesem Blog, jedenfalls vor dem EM-Beitrag zum Walisischen, ist es um die Entwicklung der Rhetorik, Logik und Grammatik, des sogenannten Triviums, von der Antike bis ins Mittelalter gegangen. Ich habe mich nicht ohne Grund mit dieser historischen Thematik befasst: Ein Begriff wie “Sprache” erhält nicht einfach deshalb seine Bedeutung, weil er etwas klar Greifbares, Unverrückbares bezeichnet. Vielmehr wird ein solcher abstrakter Begriff erst durch eine lange kulturhistorische Entwicklung geformt, die an entscheidenden Punkten auch eine andere Wendung hätte nehmen können. Die scheinbar klare Auffassung dessen, was “Sprache” überhaupt ist, prägt aber auch die Art und Weise, wie wir uns wissenschaftlich mit ihr auseinandersetzen. Bis heute ist dies klar nachzuweisen, wie ich in zukünftigen Beiträgen noch darlegen möchte.

In der antiken Traditionslinie wird Sprache zunächst als gesprochene Sprache verstanden, als Rede, die im Prozess der Erarbeitung und Vermittlung in schriftlicher Form fixiert wird. In der schriftlichen Fixierung besteht der Text gewissermaßen aus reiner Sprachlichkeit, weil die visuellen Merkmale des Textes für die Eigenschaften der Rede keine Bedeutung haben. Die durch die Rhetorik angeregte Betrachtung der Sprache verzichtet also von vornherein darauf, das Zusammenspiel sprachlicher Einheiten mit Zeichen anderer Art zu berücksichtigen. Diese Verabsolutierung des Sprachlichen blieb selbst dann erhalten, als sich die Rhetorik längst von der gesprochenen Sprache gelöst hatte und sie zu einer Art Philologie geworden war. Es ist also weniger der ursprüngliche Impuls der Mündlichkeit ausschlaggebend für diese Auffassung von Sprache, als vielmehr die durch diesen Impuls fehlende Berücksichtigung des Visuellen, was auch beim Wechsel in die Schriftlichkeit erhalten blieb.

Die Betrachtung reiner Sprachlichkeit wurde auch von der Grammatik aufgenommen. Selbst dann, wenn sie sich mit der normativen Bewertung von schriftsprachlichen Texten befasst, lässt sie die visuelle Seite der Sprache – die Schrift, Textgliederung und –gestaltung, die gerade in mittelalterlichen Texten vielfältigen Text-Bild-Beziehungen – unberücksichtigt. Dass dies keineswegs eine zwangsläufige Entwicklung gewesen ist, kann man sich leicht vergegenwärtigen. Die Entwicklung der Rhetorik hätte völlig anders ausgesehen, wenn sie sich auf schriftliche Texte bezogen hätte. In einer hypothetischen antiken Gesellschaft, in der politische Auseinandersetzungen und Gerichtsverfahren auf schriftlichem Wege durchgeführt werden, hätte sich eine Rhetorik des Textes entwickeln können, in der die visuelle Umsetzung der Inhalte ein ebenso wichtiges Überzeugungsmittel geworden wäre wie die rhetorischen Überzeugungsmittel für die Rede. Über einen längeren Zeitraum betrieben, hätte die Rhetorik des Textes ein komplexes System der sprachlich-textuellen Gestaltung geschriebener Texte hervorgebracht, zu der als Erfahrungswissen auch Regeln für die überzeugende und zielgruppengerechte visuelle Gestaltung von Texten gehört hätten. Eine sich daran anschließende normative Grammatik der Schriftsprache hätte von vornherein wohl die Orthographie als ein Teilgebiet umfasst. Auch die Beschreibung der besonderen Eigenschaften schriftsprachlicher Texte, die sich aus ihrer Visualität und dem Lesen als der Technik ihrer Aneignung ergeben, wäre sicherlich von einer solchen Grammatik berücksichtigt worden.

Ein weiterer Aspekt des in der antiken Tradition entstandenen Bildes der Sprache zeigt sich in der Grammatik. Wir hatten gesehen, dass sie durch ihre didaktische, auf sprachliche Richtigkeit ausgerichtete Funktion vorrangig normativ verstanden wurde. Die Normativität der Grammatikvermittlung war in Gestalt von Regeln ausgeprägt, deren Befolgung zu einem richtigen sprachlichen Ausdruck führte, die Nicht-Befolgung hingegen zu einem Fehler. Dass die grammatische Wirklichkeit sich nicht in dieses simple Schema pressen lässt, ahnten schon die antiken Grammatiker, wenn den berühmten Dichtern oder Rednern Regelverstöße erlaubt waren, die dem Schüler untersagt wurden.[i] Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass es in einer Sprache keine absolut und ausnahmslos gültigen Regeln gibt, stattdessen von mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeiten bestimmter Merkmalskombinationen auszugehen ist.

Die Regelorientierung der Grammatik war allerdings nicht allein durch ihre normative Ausrichtung bedingt, es gab auch eine methodische Ursache dafür. Die Rhetorik und in ihrer Folge die Grammatik waren Erfahrungswissenschaften, die keine empirische Basis im modernen Sinne besaßen. Während die Rhetorik auf eine Art Wirkungsempirie der Rede in öffentlichen Kommunikationssituationen zurückgreifen konnte, bestand die Empirie der Grammatik aus der Intuition der Grammatiker und den Beobachtungen, die in den Texten des Literaturkanons gemacht werden konnten. Heute beginnen wir zu begreifen, in welchem Maße man den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess kognitiven Verzerrungen überlässt, wenn man nicht auf ausgewogen zusammengestellte Textsammlungen, Korpora, zurückgreift. Zwar hätte man schon in der Antike oder im Mittelalter das vorhandene Spektrum in der Ausprägung bestimmter sprachlicher Funktionen selbst bei ein und demselben Autor sehen können. Statt eines solchen empirischen Wissenschaftsverständnisses war insbesondere im Mittelalter jedoch die nicht in Zweifel zu ziehende Orientierung an anerkannten Autoritäten maßgeblich. Dies förderte zweifellos auch die apodiktische Regelorientierung in der Grammatikschreibung.

Der Begriff der Regel geht zurück auf das lateinische Wort „regula“, dass die Bedeutung „Richtschnur“ oder „Maßstab“ hat – ursprünglich in einem ganz konkreten Sinne, später auch übertragen. Im Mittelalter verbreitete sich dieser Begriff insbesondere in der Bezeichnung der „Regula Benedicti“, eine Anleitung und Sammlung von Vorschriften für das klösterliche Leben der Mönche, wie sie der Heilige Benedikt festgelegt hatte. Selbst wenn das Wort „Regel“ in einer nicht normativen, sondern deskriptiven Weise verwendet wird, schwingt der schon hier angelegte normative Klang des Wortes weiterhin mit. Und wie die Regel der Benediktiner eine Richtschnur war für das Leben eines Mönchs, die im Alltag sicherlich oft durchbrochen wurde, so stellt auch eine grammatische Regel, ob normativ oder deskriptiv, eher ein Ideal dar als ein Abbild der sprachlichen Realität.

Die reine Sprachlichkeit und die Regelorientierung sind zwei Ausprägungen einer Tendenz zu Abstraktion und Idealisierung, die auch in der Entwicklung der Logik erkennbar ist. Entstanden aus der Klassifikation von Argumentationsmustern im Gespräch, löste sie sich von diesem kommunikativen Verwendungszusammenhang, um nach der Auffassung antiker und mittelalterlicher Philosophen die Gesetze des Denkens selbst zu beschreiben. Im Zuge dessen wurde die Verbindung zu einer empirischen Basis gekappt, und die Logik wandelte sich zu einer vollständig theoretischen Disziplin. Damit entfiel aber auch die Berücksichtigung solcher Faktoren menschlicher Kommunikation, die sich eben nicht in das System der reinen logischen Rationalität einordnen lassen. Für die Entwicklung der Grundlagen von Mathematik und Naturwissenschaften ist das ein Fortschritt, für das Verständnis des Gesprächsverhaltens von Menschen hingegen ein Problem. Menschen führen Gespräche auch aufgrund von emotionalen Impulsen und nach Interaktionsmustern jenseits rationaler Planung. Mit der Abstraktion des kommunikativen Verhaltens von Menschen in einer formalen Logik war eine Weichenstellung verbunden, die die Sprache und deren Betrachtung zu einer Ausprägung rationalistischen Denkens hat werden lassen, wodurch die zutiefst menschlichen, irrationalen Bereiche der Sprachverwendung für lange Zeit ins Hintertreffen gerieten.

 

Anmerkung:

[i] Vgl. Dammer, Raphael (2006): Sprache im Korsett: Die antike Grammatik. In: Reinhold Glei (Hg.): Die Sieben Freien Künste in Antike und Gegenwart. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium, 72), S. 179–180.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

7 Kommentare

  1. Die Rhetorik begann also als Paradoxon: Es ging ihr um die Wirksamkeit der gesprochenen Sprache – hinterlegt aber in schriftlich ausgearbeiteten und regidierten Texten. Damit war sie ein Zwitterding zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Sie ignorierte die schriftliche Tradition der bebilderten antiken Bücher und Folianten, denn es ging ja um schriftlich fixierte Reden, sie ignorierte aber auch die Ausführungspraxis der Reden – also die Gestik und die Teile der Rede, die das konkrete Publikum und die Umstände der Rede miteinbeziehen (dazu gehört das einleitende “sehr geehrte usw und sofort).
    Die Rhetorik ist also eine Abstraktion und behandelt zudem nur einen Aspekt der Rede – den rein sprachlichen Aspekt.
    Auch die Grammatik ist eine Abstraktion. Anders als bei der Rhetorik muss man aber bei der Grammaik noch fragen, auf was sie abzielt und wer ihr Zielpublikum ist. Es scheint, dass schon in der Antike die Grammatik dem schulmässigen Sprachenlernen diente. Die damaligen Universalsprachen Griechisch und Latein waren schliesslich für viele Menschen in den hellenistischen Städten um das Mittelmeer herum und in den von den Römern neu eroberten Provinzen, Fremdsprachen. Fremdsprachen, deren korrekter Gebrauch ein Studium erforderte, das Studium der Grammatik.
    Rhetorik und Grammatik waren also beides Antworten auf neue Anforderungen – Anforderungen die zu einem neuen nicht agrarischen, sondern städtischen, mit Bildung unterfütterten Lebensstil gehörten. Leicht andere Rahmenbedingungen hätten den Umgang mit Sprache, Schriftlichkeit und Dokumenten ziemlich sicher in andere Bahnen gelenkt. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass man die Kunst des Sprechens und Auftretens auch auf dem antiken Theater hätte aufbauen können – quasi als Dramaturgie für den Hausgebrauch.

    • Ja, das antike Theater hätte auch den Ansatzpunkt für die Entwicklung einer alternativen mündlichkeitsbasierten Sprachtheorie bilden können – oder die Verwaltung. Letzteres ist es nämlich im alten China geschehen, wo die Entwicklung der Sprachauffassung tatsächlich durch die schriftliche Verwaltungspraxis geprägt wurde. Dies wirkte sich, anders als im Abendland, auf die ästhetische Entwicklung der Schrift in Gestalt der Kalligraphie und Dokumentgestaltung aus, auf den schriftsprachlichen Schreib- und Formulierungsstil und schließlich bis heute bei der Prägung der chinesischen Sprachwissenschaft, die in einem viel stärkeren Maße als die westliche Sprachenwissenschaft von der besonderen Grammatik der chinesischen Schrift in ihrem Verhältnis zur gesprochenen chinesischen Sprache geprägt ist.

      • Kalligraphie entwickelte sich also in den Büros der altchinesischen Administration. Ich nehme an um besonders wichtigen Dokumenten etwas Weihevolles zu verleihen.
        Dass einiges was in Büros getan wird gar nicht der Effizienz dient, sondern dem Schmuck und der Präsentation dient, ist auch heute noch zu beobachten.Sogar in der Funktionalität von Office-Programmen wie Word.

        • Kalligraphie galt in China als eine zentrale Kunstform, sie ist nicht nur Schmuck. Zudem hat chinesische Schrift auch eine symbolische Funktion, sie war auch Statussymbol der Gelehrten und Staatsbeamten. Zu den Beamtenprüfungen gehörte auch Kalligraphie.
          In Europa hatte die Kalligraphie nicht denselben Stellenwert.

  2. Mit der Abstraktion des kommunikativen Verhaltens von Menschen in einer formalen Logik war eine Weichenstellung verbunden, die die Sprache und deren Betrachtung zu einer Ausprägung rationalistischen Denkens hat werden lassen, wodurch die zutiefst menschlichen, irrationalen Bereiche der Sprachverwendung für lange Zeit ins Hintertreffen gerieten.

    Sprache ist nicht ‘rationalistisch’, sondern rational.
    Sie folgt der Möglichkeit des (angelernten) Ausdrucks, anfänglich stimmlich und später (angelernt) schriftlich.
    Die Sprache ist, Terry Pratchett folgend -viele hegen hier keinerlei Zweifel- entstanden, weil der Affe auf dem einen Baum dem Affen auf dem anderen mitteilen wollte, dass er ihn nicht gut findet.
    Eine Sprache i.p. Irrationalität gibt es nicht.
    Denn die Sprache benötigt die Ratio.
    Und Emotion ist rational.


    Ansonsten, hier wird Ihr Kommentatorenfreund beispringend, schließt die Sprache auch aus, es gibt wohlbegründete Ausnahmen ihre Freiheit betreffend, bspw. sollen keine Aufrufe zur Gewaltanwendung erfolgen dürfen wie auch zu allgemeinen Gesetzesverstößen nicht.
    Dies sind die allgemein in aufklärerischen Gesellschaftssystemen anerkannten Grenzen.
    (Ansonsten wird bspw. auch i.p. Ehrpusseligkeit ausgebaut, falsche Tatsachenbehauptungen gehen regional auch nicht und gar das Leugnen historischer Tatsachen wird regional mittlerweile gestraft.)


    Insgesamt tendiert die Sprache mittlerweile zu einem Herrschaftsmittel; in vielen aufklärerischen Gesellschaften, die USA oder Teile der USA sind hier noch sehr widerständig.

    Viele können sich insbesondere: bundesdeutsch gar nicht mehr sicher sein, dass das, was sie sagen wollen, nicht irgendwie strafbar ist, hier leiden Debatten, die sogenannte Politische Richtigkeit wird mit ihren Hate Speech-Konzepten mittlerweile sehr gefährlich, vgl. auch mit diesem extralegalen Jokus:
    https://www.theguardian.com/technology/2016/may/31/facebook-youtube-twitter-microsoft-eu-hate-speech-code

    Dies natürlich nur ganz am Rande angemerkt, grundsätzlich gilt, dass alle sprechen (vs. reden – die bekannte bundesdeutsche Dame kann ja nicht reden) dürfen.

    MFG
    Dr. Webbaer

    • Mein Satz lautete:

      Mit der Abstraktion des kommunikativen Verhaltens von Menschen in einer formalen Logik war eine Weichenstellung verbunden, die die Sprache und deren Betrachtung zu einer Ausprägung rationalistischen Denkens hat werden lassen […]

      Ich sage also nicht, dass Sprache an sich rationalistisch ist, sondern das Denken, also die Theoriebildung über Sprache. Und das ist ja genau der Punkt in dem Beitrag: Die kulturelle Konzeption von Sprache hat eine rationalistischen (im Sinne der rationalistischen Philosophie nach Descartes und Leibniz) “Einschlag” erhalten.

  3. Pingback:Chomskys linguistische Revolution – radikal und konservativ zugleich » Die Engelbart-Galaxis » SciLogs - Wissenschaftsblogs

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