Lieferung ohne Bestellung… und was sonst noch von Amazon zu erwarten ist

Wer „A“ sagt, muss auch „B“ sagen – und wer „Verlag“ sagt, muss auch „Vertrieb“ sagen. Für den Vertrieb physischer Bücher ist der Buchhandel zuständig, und für den Wandel dieses Handels mit Büchern steht heute ein Name wie kein zweiter: Amazon. Auf dem Gebiet des Online-Vertriebs von Büchern betätigen sich bekanntlich auch viele andere Anbieter. Nahezu jede größere Buchhandlung bietet einen Online-Shop an, und zuweilen können diese sogar mit noch günstigeren Serviceangeboten aufwarten. So bietet die Buchhandlung Osiander in Frankfurt am Main und einigen anderen Orten in Deutschland die kurzfristige Zustellung von Büchern per Fahrradkurier an. Besonders weit allerdings ist Amazon bei der Optimierung seiner logistischen Prozesse. Längst profitiert das Unternehmen davon, dass es als weltgrößter Internet-Händler über so umfangreiche und statistisch präzise Bestelldaten verfügt, dass für bestimmte Bücher sogar ermittelt werden kann, wie viele Bestellungen in einer bestimmten Region zukünftig zu erwarten sind. Entsprechend liefert das Unternehmen eine entsprechende Anzahl von Exemplaren dieses Buchs vorab an das regionale Distributionszentrum, von dem aus eine am nächsten Tag dann tatsächlich eingehende Bestellung umso schneller bedient werden kann.[i] Dabei geht es natürlich noch nicht darum, die Order eines einzelnen Kunden zu antizipieren, sondern die Bestellwahrscheinlichkeit in einer ganzen Gruppe von Kunden. Das dürfte besonders gut in Ballungsgebieten funktionieren. Allerdings könnte es früher oder später doch auch so zugehen wie in einem rheinischen Brauhaus, wo man das Kölsch zuweilen auch ohne Bestellung auf den Tisch gestellt bekommt: Werden wir das unverlangt gelieferte Buch nicht vielleicht behalten, wenn es hundertprozentig zu unseren Interessen passt?

Eine solche Distributionsoptimierung ist möglich, weil Internet-Buchhändler über eine unschätzbare Datenquelle verfügen: Ihre Kunden sind ihnen nicht unbekannt, denn sie müssen sich stets persönlich ausweisen und geben so über mehrere Bestellungen hinweg preis, wofür sie sich besonders interessieren. Zusammen mit Vergleichsdaten anderer Käufer können diese Daten zu Benutzerprofilen verdichtet werden, auf deren Grundlage der Kunde mit persönlich auf ihn zugeschnittener Werbung konfrontiert wird. Diese Annahmen über die Interessen des Kunden sind oft erstaunlich – vielleicht sollte man eher sagen: erschreckend – gut; ein Internet-Buchhändler kann sich auf diese Weise für einen Folgekauf empfehlen und so die Kundenbindung erhöhen. Eine andere Verwendung derartiger Profile liegt in der “kundenspezifischen Preisgestaltung”. Dabei wird ein Produkt den Kunden nicht etwa zu einem einheitlichen Preis angeboten, sondern optimiert auf die Erwartung, wieviel ein bestimmter Kunde zum gegenwärtigen Zeitpunkt maximal zu zahlen bereit ist. Auch damit experimentiert Amazon bereits: Stellen Sie sich vor, dass man Ihr Suchverhalten auf der Amazon-Plattform auswertet nach Interessen und Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung. Daraus lässt sich in bestimmten Situationen durchaus ableiten, dass Sie sehr dringend ein bestimmtes Produkt benötigen. Wenn Sie dieses Produkt dann bestellen, kommt es Ihnen vielleicht auf den einen oder anderen Euro nicht an. Genau das möchte Amazon wissen und testet womöglich bei Ihnen nach und nach aus, wo die Schmerzgrenze für Ihren persönlichen Preiszuschlag liegt. Wenn ich mit Leuten rede, denen es noch immer egal ist, was mit ihren Daten im Netz geschieht, sie hätten ja „nichts zu verbergen“, dann erzähle ich immer ein bisschen von der kundenspezifischen Preisgestaltung – das hilft eigentlich immer.

Ein weiterer Weg für eine veränderte Distributionslogistik wird mit Book on Demand-Diensten beschritten. Wird ein Buch, das dafür vorgesehen ist, bei einem Internet-Buchhändler bestellt, erfolgt erst zu diesem Zeitpunkt dessen physische Herstellung. Dies ist möglich durch Hochleistungsdrucker, die mit vollautomatisch arbeitenden Buchbindemaschinen verbunden sind. Die Espresso Book Machine des amerikanischen Herstellers On Demand Books benötigt etwa fünf Minuten für den kompletten Vorgang.[ii] Besonders geeignet ist dieses Herstellungsverfahren für Bücher in kleiner Auflage, die früher im Selbstverlag oder gar nicht erschienen wären. Aber auch urheberrechtsfreie ältere Bücher werden auf diesem Wege gedruckt. Google bietet solche Bücher, da man sie ohnehin für Google Books erfasst hat, auch per Book on Demand an, seitdem es mit dem Hersteller der Espresso Book Machine eine Kooperation eingegangen ist.[iii] Interessant ist das Verfahren aber auch im Hinblick auf die logistische Seite des Buchhandels: On demand produzierte Bücher benötigen keinen Lagerplatz und müssen nicht über weite Strecken transportiert werden. Lokale Buchhandlungen könnten mit solchen Maschinen in Verbindung mit schneller Lieferung, beispielsweise per Fahrradkurier, verlorene Kundschaft zurückgewinnen. Mit der individuellen Buchherstellung wird somit der gleiche Weg beschritten wie beim 3D-Druck – auch hier geht es um die individuelle Herstellung von Gegenständen, sofort und vor Ort. Mit Book on Demand-Diensten wird überdies die Grenze zwischen digitalen und traditionellen, physischen Publikationswegen eingerissen. Ob ein Buch gedruckt oder als E-Book vorliegen soll, ist keine Frage, die vom Verlag vorab und grundsätzlich zu beantworten ist.

 

[i] Vgl. http://www.spiegel.de/netzwelt/web/neues-patent-amazon-will-schon-vor-der-bestellung-liefern-a-944252.html.

[ii] S. http://www.ondemandbooks.com/.

[iii] Vgl. http://www.boersenblatt.net/339783/.

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www.lobin.de

Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

13 Kommentare

  1. Eine Steigerung von Print on Demand wäre die Gestaltung des Druckerzeugnisses nach Kundenwünschen. Die Individualisierung von Büchern und Druckerzeugnissen ist übrigens ein altes Thema, der sich beispielweise im Wunsch nach signierten Werken äussert (Buch signiert vom Autor) oder profaner in der indivuellen Gestaltung von Fotoalben

    • Book on Demand-Dienste betreffen den Vertrieb, die Individualisierung von Büchern eher deren Herstellung als Buchprodukte. Beides muss nicht miteinander verknüpft sein, kann aber.

  2. Ein personalized children book kann das beschenkte Kind zum Helden in der Story machen. Das was früher Eltern bei selbst erfundenen Kindergeschichten gemacht haben, nämlich ihren Srössling als Astronauten oder Abenteurer in die Gechichten einzubauen, das könnte man nun auf eine höhere Ebene heben, indem man Bilder des Kindes im personalisierten Kinderbuch verwendet und auch seinen Name und weitere persönliche Details einbaut.

  3. Heute sprechen alle vom Narrativ, also der sinngebenden Erzählung, die beispielsweise das eigene Schicksal in einen grösseren Rahmen einfliessen lässt oder die so etwas Abstraktes wie den Klimawandel empfindbar macht.

    Wenn der Kunde später einmal als Person mit all seinen Vorlieben, Schwächen und Einstellungen dem “Lieferanten” (Inhaltegeber) bekannt ist und die künstliche Intelligenz im Bereich des Generierens von Texten etwas weiter fortgeschritten als heute mit Narrative Sciences und Automated Insights, dann kann ich mir durchaus vorstellen, dass Bücher speziell für den Kunden generiert werden in der Absicht ihn auf tiefe Weise zu bereichern, ihn direkt und auch indirekt anzusprechen. Vielleicht etabliert sich das sogar als neue Psychotherapieform, in der die Interakttion über generierte Bücher und Erzählungen stattfindet.

  4. “Werden wir das unverlangt gelieferte Buch nicht vielleicht behalten, wenn es hundertprozentig zu unseren Interessen passt?” Ich denke schon. Gerade weil beim Buch Kaufen das Schwierigste oft die richtige Auswahl ist. Einen Gutteil der Attraktifvität von Literaturclubs (im TV) kommt vom Ratgebercharakter. Endlich weiss man welches Buch man kaufen soll und welches vergeudete Zeit ist.

    Wer einem das “richtige”, passende Buch vorschlägt oder gleich ins Haus liefert, der bietete einen sehr wertvollen Service an.

    Ich könnte mir auch vorstellen, dass Verlage wie Amazon später einmal Bücher zum “Anlesen” andbieten.

    • Problem:
      Sollte derartiges Marketing per E-Mail und sich anschließender Webreferenz erfolgen, könnte das Medium lokal persistiert werden – wobei ein Rückgaberecht (vs. “Club”) anzunehmen ist.
      Sofern nicht am Datenträger Papier festgehalten wird.

      D.h. das Vorhaben in der geschilderten Form könnte wirtschaftlich zum Untergang verdammt sein.

      MFG
      Dr. W (der in Bezug auf schriftliche Nachricht, wie immer sie auch erfolgt, nur ein zukünftiges Abschmelzen und Sich-Auflösen feststellen kann; es sei denn es wird für die personenspezifisch gehaltene (“angestossene”) Nachricht selbst bezahlt, in Euro-Cent-Höhe)

  5. Wenn ich mit Leuten rede, den es noch immer egal ist, was mit ihren Daten im Netz geschieht, sie hätten ja „nichts zu verbergen“, dann erzähle ich immer ein bisschen von der kundenspezifischen Preisgestaltung – das hilft eigentlich immer.

    Der war gut.

    MFG
    Dr. W (der für einen weiteren soliden Artikel dankt)

  6. @ Holzherr: “ihn auf tiefe Weise zu bereichern, ihn direkt und auch indirekt anzusprechen. … neue Psychotherapieform,” das kennen wir schon — unter dem Namen Filterblase. Das Therapieziel möchte ich nicht erleben müssen.

    • Wie einfach doch Menschen ausgetrickst werden können
      Personalisierte Bücher als Therapieform können wohl zuerst nur von Psychiatern und Psychologen eingesetzt werden um ihre Glaubwürdigkeit zu behalten.

      Allerdings scheinen Experimente ergeben zu haben, dass Menschen einem Computer mehr persönliche Dinge anvertrauen als ihrem Psychologen. Eigentlich seltsam. Denn wer seine Sorgen dem Computer anvertraut, vertraut sie meist sehr vielen Leuten an. Wie einfach doch Menschen ausgetrickst werden können!

      • Sie beziehen sich wohl auf ELIZA von Joseph Weizenbaum, ein “Computer-Psychiater”. Das war ein rein patternbasiertes Dialogsystem, das schon in den sechziger Jahren “Gespräche” mit Nutzern führen konnte, weil einfach bestimmte Wörter des Nutzer-Statements in eine eigene Frage oder Bemerkung umgesetzt wurden. Es ist sehr leicht, das heute in ein paar Stunden selbst zu programmieren. Das erstaunlich daran war, dass viele von Weizenbaums Versuchspersonen tatsächlich meinten, ein gutes Gespräch geführt zu haben – und das sogar, wenn sie wussten, wie das System funktionierte. Ein gutes Beispiel für eine intentionale Verhaltensinterpretation von Ereignissen, selbst wenn diese keiner Intention folgen.

        • Nein, ich meine nicht ELIZA, obwohl auch ELIZA schon viel Patientenvertrauen erhielt. Ich beziehe mich auf den Economist-Artikel The computer will see you now

          ELLIE is a psychologist, and a damned good one at that. Smile in a certain way, and she knows precisely what your smile means. Develop a nervous tic or tension in an eye, and she instantly picks up on it. She listens to what you say, processes every word, works out the meaning of your pitch, your tone, your posture, everything. She is at the top of her game but, according to a new study, her greatest asset is that she is not human.

          Crucially, the psychologists observing the subjects found that those who thought they were dealing with a human were indeed less forthcoming, averaging 0.56 compared with the other group’s average score of 1.11. The first group also betrayed fewer signs of sadness, averaging 0.08 compared with the other group’s 0.12 sadness score.

          • Hmja, dies betreffend:
            -> http://www.economist.com/news/science-and-technology/21612114-virtual-shrink-may-sometimes-be-better-real-thing-computer-will-see

            Letztlich lassen sich vielleicht einige abfrühstücken, nichts Schlechtes daran, abär, wenn man ehrlich ist, ist ELIZA nicht viel besser oder schlechter als dieser Chat-Bot:
            -> http://www.cleverbot.com/

            Und dies gilt, unabhängig von angeschlossenen Expertensystemen, so wurde dies früher genannt, mal sehen, ob es diese noch gibt, Moment, …., …, …, gleich wieder da.

            Aja, es gibt sie noch, sie waren vor vielleicht 25 Jahren ein größeres Thema, ein wenig blöd blieb halt immer, dass sie nur ergänzend wirken können (weil sie die Welt nicht verstehen und nicht verstehen können).


            Insofern ist, abweichend von der KI, vielleicht aktuell dieser Dissens von Interesse, Lieferungen betreffend, gerade auch Bücher oder Print-Medien betreffend:
            Amazon will gerne propeller-basierte Drohnen zur Lieferung nutzen, Google will abseilen lassen, auch damit niemand verletzt werden kann, womöglich fossile Energiequellen nutzend.

            MFG + ein schönes Wochenende
            Dr. W

        • PS:
          Zu Google und seinem angestrebten Delivery-System vielleicht noch, ‘it’s years from a product’ (Zitat aus dem webverwiesenen Vid), die Musik war natürlich hervorragend gewählt:
          -> http://en.wikipedia.org/wiki/Spirit_in_the_Sky

          Es handelt sich hier um Christian Hard Rock sozusagen, die “Wah-Gitarre” war im Einsatz und – abweichend von Barclay James Harvest, die ebenfalls einstmals als christlich galten – geht es hier, den amerikanischen Markt betreffend, um Konsens, Google will ja immer nett sein.

          MFG
          Dr. W (der hier nur eine Randbemerkung tätigt)

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