Douglas Engelbart und “die Mutter aller Demos”

In meinem ersten Posting vor einigen Tagen hatte ich versprochen, bald auch das Geheimnis zu lüften, warum ich dieses Blog “Die Engelbart-Galaxis” getauft habe. Zwar ist der Name Engelbart vielen im Zusammenhang mit der Computer-Maus ein Begriff, weniger bekannt ist allerdings, worum es Engelbart mit seiner Arbeit eigentlich gegangen ist und was für Entwicklungen er damit angestoßen hat. Ins Bewusstsein der Fachöffentlichkeit trat er 1968 mit einer System-Demonstration, die seit einigen Jahren oft auch als die “Mutter aller Demos” bezeichnet wird. Von dieser Demo möchte ich nun erzählen.[i]

Auf der gemeinsamen Herbsttagung der amerikanischen Informatiker im Jahr 1968, der Fall Joint Computer Conference in San Francisco, ist für den Nachmittag des ersten Tages, den 9. Dezember, etwas Besonderes vorgesehen. Dr. Douglas C. Engelbart vom Stanford Research Center in Menlo Park, knapp 50 Kilometer vom Tagungsort entfernt, soll anderthalb Stunden über sein „Forschungszentrum zur Erweiterung des menschlichen Geistes“ reden. Auch wenn dieser Titel perfekt zur damals in Kalifornien gerade entstehenden Hippie-Kultur zu passen scheint, erwartet die etwa 2.000 Zuschauer in der verdunkelten Brooks Hall, einem der größten Säle des die Tagung beherbergenden Convention Center, eine High-Tech-Show, wie man sie noch nicht gesehen hat.

An der Stirnseite des Saals gibt es eine sechseinhalb Meter breite Video-Projektion und statt eines Rednerpults rechts auf der Bühne einen Stuhl, vor den eine Art Kontrollpult geschwenkt werden kann, ausgestattet mit einigen merkwürdigen Geräten: Die Schreibmaschinen-Tastatur kennen die an der Tagung teilnehmenden Computerwissenschaftler von ihren eigenen Rechnern. Die Geräte rechts und links daneben sind ihnen dagegen fremd. Das Teil auf der linken Seite besteht aus fünf Tasten und nennt sich „Akkord-Tastatur“ (Chord Keyset). Die Tasten sind sowohl einzeln mit Zeichen belegt als auch untereinander verknüpft, so dass sich eine Vielzahl von Eingabemöglichkeiten ergibt – wie Akkorde auf dem Klavier. Auf der rechten Seite befindet sich ein kleines Kästchen mit drei Tasten, das hin- und hergeschoben werden kann. „Ich weiß nicht, warum wir es ‚Maus‘ nennen. Es fing einfach so an, und wir änderten es nicht mehr”, sagt Engelbart dazu etwas später.

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Beide Eingabegeräte lassen sich gut miteinander kombinieren: die linke Hand auf den Tasten der Akkord-Tastatur, die rechte auf der Maus, der Blick auf den Fernsehmonitor davor gerichtet. In der hundert Minuten dauernden Demonstration ist der Leiter des 17-köpfigen Forschungsteams immer wieder in dieser Haltung zu sehen, in weißem Hemd mit dunkler Krawatte und mit einem erstaunlich modern wirkenden Headset auf dem Kopf. Hin und wieder blickt er nach rechts oben, um die korrekte Funktion der Videoprojektion zu überprüfen. Ganz ähnliche Bilder aus dem Kontrollzentrum der ersten Mondlandung, der Mission Control, sollten nur wenige Monate später auf der ganzen Welt zu sehen sein.

Screenshots Engelbart-2

Engelbart hatte nach seiner Zeit als Marinetechniker im Zweiten Weltkrieg die Idee verfolgt, einen Radarbildschirm mit einem Computer zu verbinden, um darauf Schriftzeichen und Liniengrafiken anzeigen und den Computer interaktiv, ohne das langwierige Einlesen von Lochkarten, nutzen zu können. 1968 gab es zwar schon Computer, die den interaktiven Betrieb mehrerer Benutzer ermöglichten, allerdings erfolgte die Ausgabe des Computers dabei ausschließlich über Drucker. Engelbart und sein Team „druckten“ die Ausgabe stattdessen auf einen Radarbildschirm, wo sie zudem veränderlich war – Fernsehbildschirme erlaubten noch keine Textdarstellung. Leider waren Radarbildschirme ausreichender Größe immens teuer und flackerten sehr, da sie nach einem anderen Prinzip arbeiten als Fernsehmonitore. Die Lösung, die auch bei der Demonstration 1968 schließlich angewandt wurde, war die: Man verwendete einen kleinen, billigeren Radarbildschirm und ließ dessen Bild von einer Fernsehkamera aufnehmen. Das Bild konnte dann auf einen oder mehrere größere Fernsehmonitore oder eben auf die Großleinwand übertragen werden. Dabei wurde es farblich umgedreht, so dass schwarzer Text auf weißem Grund erschien, und auch das Flackern war verschwunden.

Staunend erleben die Zuschauer an jenem Dezembernachmittag, wie ein Text auf dem Bildschirm durch Löschen, Einfügen und Verschieben von Wörtern verändert wird, wie zwischen verschiedenen Darstellungsarten hin- und hergeschaltet und mit der Maus ein Wort angeklickt werden kann, um eine andere Textdatei zu öffnen, die dann auf dem Bildschirm erscheint – das Anklicken eines Hyperlinks. Engelbart demonstriert mit seinem wichtigsten Mitarbeiter William K. English sogar, wie man gemeinsam einen Text bearbeiten kann – gleichzeitig! English sitzt dabei im Labor des Teams in Menlo Park, von wo aus er nicht nur per Video- und Audioleitung live in das Convention Center zugeschaltet ist, sondern auch über eine eigens eingerichtete Funkdatenleitung. Die Demonstration zeigt somit erstmals auch die kooperative Nutzung des Computers und eine Videokonferenz. All das war mit ungeheurem technischem Aufwand umgesetzt und sollte die Ergebnisse von fast zehn Jahren Entwicklungsarbeit dokumentieren. Engelbarts Demonstration kann zugleich als die erste computerbasierte Präsentation gelten, da er das vorgestellte Textverarbeitungs- und Hypertextsystem namens „Online-System“, kurz NLS, wiederum zur Unterstützung seiner Ausführungen verwendet. Überhaupt verfolgt das ganze Projekt einen evolutionären Ansatz: NLS selbst wird für die Präsentation, für die technische Weiterentwicklung und für das Management des Projekts eingesetzt. So demonstrieren Engelbart und seine per Video zugeschalteten Mitarbeiter auch, wie sie mit Hilfe des Systems Textnachrichten verschicken, verschiedene Programmversionen verwalten und eine Hypertext-Dokumentation pflegen. Man hofft, das System durch den Einsatz im eigenen Team und die Nutzungserfahrungen, die dadurch gewonnen werden, nach und nach immer besser an die Arbeitsvorgänge anpassen zu können.

Nachdem Engelbart am Ende seinen Mitarbeitern und schließlich seiner Frau und den Töchtern gedankt hat – ihnen widmet er die Demonstration –, erhebt sich der Applaus. Es ist der Höhepunkt seiner Tätigkeit als Computerentwickler, vielleicht seines Lebens überhaupt. Nur wenige Zeit später ziehen sich einige Geldgeber aus seinem Forschungszentrum zurück, eine breitere Nutzung von NLS im entstehenden Internet wie auch die Kommerzialisierung gelingen nicht. Engelbarts Ideen aber wirken fort. Einige Mitarbeiter des zerfallenden Teams wechseln zur Firma Xerox, die sich in einem Forschungszentrum in der Nähe mit Büroautomation befasst. Von ihnen wird in Fortführung des Engelbart-Projekts 1973 der erste Personal Computer vorgestellt, der eine grafische Benutzeroberfläche besitzt, der Alto. Eines der wenigen Exemplare, die nie in den Handel gelangt waren, bekommt dort ein junger Firmengründer zu sehen, dessen Vision es ist, billige und vor allem leicht bedienbare Computer für normale Menschen herzustellen, Steve Jobs. Er ist fasziniert von dieser ganz anderen Art, einen Computer zu bedienen. 1983 bringt seine Firma Apple den ersten kommerziellen Computer mit grafischer Benutzersteuerung auf den Markt, zu der auch eine Maus gehört, den Lisa. Ein Jahr später erscheint der wesentlich günstigere Macintosh und macht Jobs zum Milliardär.

Marshall McLuhan hat für die Ära des Buchdrucks mit beweglichen Lettern den Ausdruck “Gutenberg-Galaxis” geprägt. Dass das Lesen und Schreiben ein anderes wird, wenn es im digitalen Medium erfolgt, hat, wie ich meine, erstmals Douglas Engelbart in ganzer Konsequenz erkannt. Wenn wir heute computerunterstützt lesen und schreiben, dann hat Engelbart dafür die Grundlagen geschaffen, und daran soll durch den Namen dieses Blogs erinnert werden.

 

[i] Engelbarts Demo ist in kommentierter Fassung unter http://sloan.stanford.edu/MouseSite/1968Demo.html zu finden, in höherer Auflösung, aber unkommentiert unter http://youtu.be/yJDv-zdhzMY. Weitere Informationen zum Online-System und der Demonstration 1968 finden sich unter http://sloan.stanford.edu/MouseSite/. Das ursprüngliche Konzept des Systems ist in Engelbart (1962) beschrieben. Zu den Ideen von Engelbart vgl. auch Heilmann (2010: 155–168)  und vor allem Bardini (2000). Engelbarts eigene Aussagen zu der Demo sind hier ebenfalls zu finden (Bardini (2000: 138–142)

Bardini, Thierry (2000). Bootstrapping. Douglas Engelbart, Coevolution, and the Origins of Personal Computing. Stanford, Calif: Stanford University Press.

Engelbart, Douglas C. (1962). Augmenting Human Intellect: A Conceptual Framework. AFOSR. Menlo Park, CA.

Heilmann, Till A. (2010). Textverarbeitung. Eine Mediengeschichte des Computers als Schreibmaschine. Bielefeld: Transcript.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

8 Kommentare

  1. Ein Ereignis 1968 entwirft eine Vision einer veränderten Arbeitsweise und diese Vision wird später fast exakt so wie vorgestellt Wirklichkeit. Das kommt selten vor – dass sich eine Vision fast “wörtlich” realisiert. Nicht selten braucht es einen weiteren Katalysator um einen Durchbruch zu erreichen. Ein Beispiel sind die Smartphones, welche es schon seit den 1990er-Jahren in Form von tastaturbestückten Handys gab. Doch erst der berührungsempfindliche Bildschrim verhalf den Smartphones zum Durchbruch. Es scheint sogar die Regel zu sein, dass vielversprechende Ideen sich erst durchsetzen, wenn noch etwas anderes dazukommt. Auch Google-Glass gehört wohl zu dieser Kategorie. Unter den heutigen Bedingungen kann sich Google-Glass nicht durchsetzen obwohl die Idee, IT-Dienste direkt auf die erlebte Wirklichkeit anzwenden, etwas betörendes hat. Wie beim Smartphone, kann eine weitere Entwicklung der Vision Google-Glass dann zum Durchbruch verhelfen.

    • Doch erst der berührungsempfindliche Bildschrim verhalf den Smartphones zum Durchbruch.

      Der Schreiber dieser Zeilen war so um 1987 bei einer HP-Präsentation, da gab es schon diese Monitore. Hier hat sich etwas kombiniert, korrekt.

      Es scheint sogar die Regel zu sein, dass vielversprechende Ideen sich erst durchsetzen, wenn noch etwas anderes dazukommt. Auch Google-Glass gehört wohl zu dieser Kategorie.

      Hier gibt es wohl keine funktionelle Eingabe, gell?

      MFG
      Dr. W

  2. Das Faszinierende am Eingabegerät Maus ist auch, dass die Konsole (witzig auch die Etymologie) oder die sogenannte Kommandozeile ergonomisch (das Fachwort) unübertreffbar scheint.
    GUIs standen lange Zeit nicht im besten Ruf.

    MFG
    Dr. W

    • Mit der Kommanodzeile kann man alles machen, aber nicht alle können damit alles machen. Das ist das Problem.

      • Zum einen dies, so ein GUI kapselt Funktionalität, GUIs sind zudem deutlich intuitiver und in vielen Gebrauchsfällen schneller, dank Maus, diesem herrlichen Eingabegerät.
        Auch der Name scheint fein gewählt.

        • Die Maus ist ja einfach ein Mittel zum Zweck. Es ist naheliegend die Maus als notwendigen aber unbefriedigenden Ersatz für Gedankensteuerung zu sehen.
          Das gleiche gälte dann auch für Eingabe über die Tastatur.

          Andererseits ist der Mensch richtiggehend dafür gebaut, seine Gedanken über Muskelaktivierungen in Aktionen umzusetzen. Die Gedankensteuerung, die ohne die Umsetzung von Gedanken und Absichten in Muskelkontraktionen auskommt, würde wohl gerade durch die Direktheit ganz neue Probleme schafffen.

  3. Vielleicht wird die Engelbart-Galaxie bald von der YouTube-Galaxie eingeholt, ganz nach altgriechischem Ideal, dass man nur dem Glauben schenken könne, dem man ins Gesicht sehen kann bzw. dass nur diejenigen Worte interessant sind, die sichtbar aus dem Mund des anderen fließen.

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