Das Walisische – eine uralte Sprache auf dem Weg in die digitale Zukunft

Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch” – das ist laut dem Guiness-Buch der Rekorde der längste Ortsname in einem Wort. Der Ort liegt im Norden von Wales, der Name aber wirkt so fremdartig, als ob er aus einem ganz anderen Teil der Welt stammen würde. Wie ist das zu erklären?

scilogs_em2016-300x119In Wales wird neben dem Englischen das Walisische gesprochen, das zur Gruppe der keltischen Sprachen gehört. Weitere keltische Sprachen gibt es heute noch in Irland, Schottland, Cornwall und in der Bretagne. Die keltischen Sprachen gehören zu der Familie der indogermanischen Sprachen, in der auch die germanischen, die romanischen oder die slawischen Sprachen einzelne Zweige bilden. Diese drei großen Zweige überdecken Europa fast lückenlos, so dass man sich fragen muss, wie diese merkwürdig zerrissene Verbreitung der keltischen Sprachen entstanden ist.

Stationsschild von Llanfair PG (Wales, UK) https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11409833 Credit: Raphael Frey – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0,

Die Beantwortung dieser Frage führt uns weit zurück in die Frühgeschichte Europas. Die Ur-Kelten gelten als das erste indogermanische Volk, das sich in Europa niedergelassen hat. Das Indogermanische hat sich, folgt man den zwei fundiertesten Theorien, aus der Region des Schwarzen Meeres verbreitet, und zwar sowohl Richtung Osten und Südosten (bis nach Indien) als auch Richtung Westen. Die Rekonstruktion der Dynamik dieser Ausbreitung wird dadurch erschwert, dass die Sprecher früher indogermanischer Sprachen nicht zwangsläufig auch im ethnischen Sinne miteinander verwandt waren. Darüber hinaus hat es gleich mehrere Ausbreitungswellen gegeben. Einigermaßen gesichert ist jedoch die Erkenntnis, dass der Ursitz der Kelten in Europa im sechsten Jahrhundert vor Christus mit der Hallstatt-Kultur im Alpenraum gleichzusetzen ist. Von dort aus aus erschlossen sie ein riesiges Siedlungsgebiet, das ganz Mittel- und Westeuropa, die britischen Inseln und die iberische Halbinsel umfasste. Erst die Römer und die Germanen ließen dieses Gebiet nach und nach zusammenschmelzen. Die Eroberung des keltischen Siedlungsraums mit der nachfolgenden Unterwerfung der keltischsprachigen Bevölkerung war so “erfolgreich”, dass bis auf Spuren in der Benennung von Orten oder Flüssen und einige wenige Inschriften aus römischer Zeit nichts von diesen Sprachen erhalten geblieben ist – die Kelten hatten noch keine eigene Schriftkultur entwickelt. Nur in den unwirtlichen und militärisch uninteressanten Randgebieten Europas wie der Bretagne, Cornwall, Wales und dem Norden Britanniens mit Irland, in die keltische Stämme zurückgedrängt worden waren, konnten sie sich behaupten und entwickelte sich ihre Sprachen bis heute relativ ungestört. Das Walisische hat sich deshalb vom Inselkeltischen bereits im Frühmittelalter abgetrennt. Sprachen wie das Walisische bilden also noch heute den Nachhall einer uralten gesamteuropäischen Besiedlung.

Sprecher des Walisischen nach dem Zensus von 2011 https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32013000 Credit: SkateTier – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0,

Das Walisische, das auch als Kymrisch bezeichnet wird, besitzt heute mit etwa 600.000 Sprechern von den keltischen Sprachen die zweitgrößte Sprecherzahl nach dem Irischen. Seitdem Wales 1535 dem Vereinigten Königreich einverleibt wurde, geriet das Walisische zwar in Konkurrenz mit der Sprache der Eroberer, doch konnte sich die Zweisprachigkeit im Land bis heute einigermaßen halten. Langfristig in Bedrängnis ist die Sprache trotzdem, denn mehr als 70 Prozent der Waliser geben heute an, nicht Walisisch sprechen zu können. In einigen wenigen Regionen im Norden und Westen jedoch erreicht die aktive Sprachbeherrschung einen Anteil von mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung (s. 2011 Census for Wales). Damit gehört das Walische – anders als die “moribunden” keltischen Sprachen Manx (auf der Isle of Man) oder Kornisch (in Cornwall) – zwar nicht zur UNESCO-Liste der bedrohten Sprachen, doch handelt es sich um eine der kleineren Sprachen der EU, die zudem nur in einem Teil des Vereinigten Königreichs als Amtssprache fungiert.

Das Walisische ist eine flektierende Sprache wie das Lateinische oder das Deutsche und weist in seiner Verschriftlichung als eine deutliche Besonderheit die Verwendung von “Digraphen” auf. Damit sind Kombinationen von zwei Buchstaben gemeint, die nur einen Laut bezeichnen – im Deutschen haben wir als Bi- und Trigraphen vor allem “ch”, “ng” und “sch”. Das Walisische ist sehr reich an Digraphen, es hat gleich zehn davon: ch, dd, ff, ng, ll, mh, nh, ph, rh und th. Das ist der Grund, warum in dem oben aufgeführten Ortsnamen das L an einer Stelle gleich viermal hintereinander vorkommt: am Ende einer Silbe und am Anfang der nächsten. Ein anderes Merkmal ist die Veränderung des Anlauts von Wörtern in Abhängigkeit vom Auslaut des vorherigen Wortes. Das macht die maschinelle Verarbeitung recht schwierig, da die einzelnen Wörter im Wörterbuch nicht so erscheinen, wie sie im Satz verwendet werden. In grammatischer Hinsicht ist das Walisische allerdings weniger “exotisch” – schließlich weisen die Mitglieder der indogermanischen Sprachfamilie bis heute viele strukturelle Gemeinsamkeiten auf. Ungewöhnlich aus der Perspektive des Deutschen oder des Englischen ist jedoch die Möglichkeit, Präpositionen zu flektieren, damit sie zur nachfolgenden Substantivgruppe passen, oder auch die Grundstruktur des Satzes im Walisischen. Es handelt sich nämlich um eine sogenannte VSO-Sprache, bei der das Prädikat am Satzanfang erscheint, dem dann Subjekt und Objekt folgen. Klingt gewöhnungsbedürftig, kennen wir aber auch im Deutschen: Ein Fragesatz wie “Trinkt Hans auch ein Bier?” ist nicht anders aufgebaut.

Automatische Deutsch-Walisische Übersetzung mit dem Google-Übersetzer
Automatische Deutsch-Walisische Übersetzung mit dem Google-Übersetzer

Mit der Digitalisierung und dem Internet stellen sich für viele kleinere Sprachen neue Fragen: Bietet das Web eine Möglichkeit die Verbreitung der Sprache zu festigen und vielleicht sogar auszuweiten? Oder wächst durch die größere Internationalität sogar noch der Druck auf die Sprache, etwa durch die zunehmende Verwendung des Englischen als Lingua franca in der internationalen Kommunikation? Eine wichtige Rolle dürften bei der Beantwortung dieser Frage zukünftig sprachtechnologische Werkzeuge wie etwa Maschinelle Übersetzungssysteme spielen, weshalb im Rahmen des EU-Projekts META-NET seit einigen Jahren der Entwicklungsstand in den Sprachen Europas dokumentiert und weitere Entwicklungen koordiniert werden. Das entsprechende White Paper zum Walisischen verzeichnet allerdings bislang keine besonders vielversprechende Situation: In allen betrachteten Kategorien – Verarbeitung gesprochener Sprache, Maschinelle Übersetzung, Textanalyse, Sprachressourcen – wird für das Walisische keine oder nur eine sehr schwache Unterstützung festgestellt. Um von den Segnungen der maschinellen Sprachverarbeitung zu profitieren, müssen zunächst Voraussetzungen erfüllt werden, die in vielen kleineren Sprachen Europas bislang nicht gegeben sind.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

11 Kommentare

  1. Google Translate bspw. unterstützt zurzeit 103 Sprachen:
    -> https://en.wikipedia.org/wiki/Google_Translate#Supported_languages
    … wobei walisisch dabei ist, sorbisch dagegen bspw. nicht und es auf diesem Planeten ca. 6.500 Sprachen gibt, manche meinen auch 7.472 Sprachen.
    Insofern gibt es hier womöglich keinen besonderen Grund zur Klage.
    Zudem genießt Walisisch in Wales, ca. 3 Mio. Einwohner, einen besonderen rechtlichen Status.

    So richtig cool ist an so etwas – ‘Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch’ v ‘Digraphen, es hat gleich zehn davon: ch, dd, ff, ng, ll, mh, nh, ph, rh und th’ womöglich nichts.

    MFG
    Dr. Webbaer

    • PS:
      Keine Ahnung, warum das da weiter oben im Fettdruck zur Austragung gelangte, womöglich ist im WebLog-Artikel selbst, ganz unten, etwas verbockt.

      • Vielen Dank für den Hinweis. Der Scilogs-Herausgeber hat den letzten Passus ergänzt und ihn auf “strong” gesetzt – ich wusste bislang noch nicht, dass sich das dann auf die ganze Seite auswirkt.

    • Was wollen Sie mit Ihrem Kommentar sagen? Dass es sich beim Walisischen um eine bedrohte Sprache handelt, habe ich ja nicht behauptet. Und die herausragende Coolness der Sprache ebensowenig. Gleichwohl werden bestimmte onomastische Muster bei der Ortsnamenbildung im Walisischen angewandt, was dann auch mal in einen Guiness-Buch-Eintrag mündet. Das Interessanteste dieser Sprache ist eben, dass wir mit ihr in unserer germanisch-romanisch-slawisch geprägten Sprachsituation hier in in Europa auch eine Sprache vertreten haben, die anders als das Baskische zu den Indogermanischen Sprachen gehört, nicht aber zu den dominierenden Gruppen und sich vor allem, im Unterschied zum Englischen oder Deutschen, weitgehend frei von diversen Überlagerungen entwickelt konnte.

      • Lieber Herr Lobin,
        natürlich vielen Dank für diese WebLog-Nachricht wie für viele andere auch.

        Was wollen Sie mit Ihrem Kommentar sagen?

        Der letzte Absatz Ihrer Nachricht klang für Ihren Kommentatorenfreund ein wenig griesgrämig, er fängt mit ‘Mit der Digitalisierung und dem Internet stellen sich für viele kleinere Sprachen neue Fragen’ an.
        Das Walisische, vielleicht 700.000 Sprecher, wird recht gut unterstützt, politisch und auch von den gemeinten Web-Diensten.

        MFG
        Dr. Webbaer (der grundsätzlich Diversität gut findet, aber nicht als anleitend für politische Ziele annehmen möchte, dies als Meta-Bemerkung und im Abgang)

    • Duolingo berücksichtigt Sprachen, bei denen mit Übersetzungen Geld zu verdienen ist (den Lernenden werden ja Übungstexte zum Übersetzen vorgelegt, und die Übersetzung wird von Duolingo an zahlende Kunden verkauft. Nicht ohne Grund ist mit Luis von Ahn der Recaptcha-Erfinder der Gründer von Duolingo.). Für das Walisische ist das also offensichtlich der Fall – schließlich gibt es in Wales in öffentlichen Bereichen eine verpflichtende Zweisprachigkeit.

      • Das ist inzwischen nicht mehr der Fall, Duolingo ist von diesem Geschäftsmodell abgerückt. Der neue Plan ist es wohl die Plattform durch das Anbieten billiger Sprachzertifikate zu finanzieren.

        Aber davon abgesehen hat Duolingo auch schon früher Sprachkurse ins Leben gerufen, von denen wenig bis kein Profit (außer im Sinne von Publicity) zu erwarten war. Den Irisch-Kurs gibt es ja schon ewig, und auch Klingonisch ist in Entwicklung. 😉

        (Man sollte anmerken, dass Duolingo neue Sprachkurse nicht mehr selbst entwickelt, sondern von engagierten Nutzern auf freiwilliger Basis entwickeln lässt. Der Mehraufwand pro Kurs ist also auf Seiten von Duolingo überschaubar.)

        • Vielen Dank für diese Information! Die Crowdsourcing-Idee scheint also auf die Erstellung der Kurse verlagert worden zu sein.
          Ich hatte einen Vortrag von Luis von Ahn im Dezember 2013 bei einer Tagung der Volkswagen-Stiftung in Hannover gehört, und da hatte er noch auf die Genialität des Geschäftsmodells mit den Crowdsourcing-Übersetzungen abgehoben. Und noch für Mitte 2015 lassen sich Verweise auf Vorträg von ihm finden, in denen er genau das für Duolingo darstellt. Auch in den AGBs ist diese Verwendung noch enthalten. Möglicherweise wird also das Geschäftsmodell diversifiziert, da jetzt ja angeblich inzwischen 100 Mio. User registriert sein sollen.

  2. Pingback:Auf dem Weg zur digitalen Transformation | Puls der Innovation

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