Von Kultstellen und Zapfsäulen

BLOG: Edle Einfalt, stille Größe

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Edle Einfalt, stille Größe

Wieder sind es Baupläne, die mich umtreiben. Diesmal die eines mykenischen Palastes, von dem nach 3500 Jahren mit den Grundmauern nur noch der Grundriss übriggeblieben ist. Als er noch in voller Größe und Pracht dastand, residierte in diesen Gemäuern ein (Waffen)Bruder Agamemnons, jenes Kriegstreibers, der zur Invasion von Troja aufrief. Vergessen wir bloß die Geschichte mit Helena! Die ist genauso wahr wie jene Geschichte von den Massenvernichtungswaffen im Irak. Damals wie heute ging es um kostbare Rohstoffe. In der Bronzezeit war es die Bronze, die große Begehrlichkeiten weckte.

Dabei hatten die Mykener schon weit mehr, als sie zum Leben brauchten. Noch als Ruine zeigt der mykenische Palast viel von seiner alten Herrlichkeit. Da ist das Megaron, der große zentrale Saal mit einem riesigen Herd in der Mitte. Dahinter thronte der Wanax, wie Herrscher auf mykenisch heißt, den die Rauchsäulen vom Herd scheinbar erhöhten. Rund um den Hauptraum sind seine Privatgemächer, sofern in den Gründerzeiten der Großfamilie der Gedanke an Privatheit überhaupt aufkam. Sich zurückziehen war damals ein Verhalten, das man allenfalls in einer Schlacht anwandte.

Weiter fallen im Palast die Speisezimmerfluchten aus, erkennbar durch die in die Erde angelassenen Tongefäße in Übergröße, in denen Getreide, Linsen, Honig und Öl aufbewahrt wurden. Dazu finden sich in der mykenischen Residenz noch viele kleine Räume, deren Funktion sich uns nicht erschließt. Wenn Archäologen nicht wissen, wozu ein Raum diente, nennen sie ihn kurzerhand Kultraum. Wie zum Beispiel ein Winzezimmer im mykenischen Palast, in das nicht einmal hochkant das Bett eines durchschnittlich großen Mykeners passte. Agamemnons Mannen maßen im Schnitt gerade mal knapp 1,70 Meter.

Zum nächsten Kultraum: Ein zentrales Becken, das in den Fußboden eingelassen ist, heiligt für die Archäologen dieses Zimmer. Der Gedanke, dass es sich um ein schlichtes Badezimmer handeln könnte, wurde verworfen, weil das Becken viel zu klein ist, um Badewanne zu sein und viel zu zentral liegt, um als Fußwaschbecken gedient zu haben. Und da ist noch der Raum mit der einen Säule in der Mitte. Klar, wir ahnen es schon, auch ein Kultraum, denn die Säule war sicher nicht als Garderobenständer gedacht. Könnte es nicht ein früher Fitness-Raum gewesen sein und die Säule Stange, an der sich die Krieger ertüchtigten? Solch ketzerische Gedanken verbietet die Archäologie, weil damals alles anders und alles sehr viel heiliger war. Weil wir so wenig von den Gedankengebäuden der Mykener wissen – sie haben uns außer ihrer Buchhaltung nichts Schriftliches hinterlassen – geheimnissen wir viel in ihre tatsächlichen Gebäude hinein. Ein Lehrsatz der Archäologen könnte heißen: Wo eine Säule steht, da sind die Götter nahe.

Versetzen wir uns doch mal in das Jahr 5 507 n. Chr. Archäologen dieser Zeit legen gerade an einer breiten Straße ein riesiges Gebäude frei. Sie entdecken die Basen hoher Säulen in Reihe, die einmal ein weit überspannendes Dach getragen haben müssen. Das kann nur ein Tempel, ein riesiger Kultraum gewesen sein, denken die glücklichen Ausgräber. Dafür spricht auch die Prozessionsstraße, die mächtig breit zu dem Tempel führt, ja geradezu in die Hohe Halle hineinführt. Die Archäologen der Zukunft  können in dem seltsamen Gebäude nichts anderes als ein Tempel sehen, weil der Menschheit zu dieser Zeit das Wissen, dass es einmal Autos gegeben hat, abhanden gekommen ist. Diese Undinge, die dann längst vergessen sind, machten ja nur schlappe 100 Jahre die Straßen dieser Erde unsicher. Wegen der drohenden Klimakatastrophe wurden sie schnell abgeschafft und durch Fluggeräte ersetzt. Wie also sollen die Ausgräber 5 507 n. Chr. wissen, dass ihr gerade entdeckter Tempel 2007 n. Chr. eine schlichte Tankstelle gewesen ist?

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Geboren in Deutschland; Vater und Mutter – der eine klassischer Archäologe, die andere Altphilologin – brainwashten ihr einziges Kind bereits im zarten Alter, lasen ihr z. B. als Gute-Nacht-Geschichte die „Odyssee“ vor – auf Altgriechisch. Studium der Vor- und Frühgeschichte und Alter Geschichte in Tübingen, Oxford und Athen. Weil es ihr die alten Griechen angetan haben, zog sie nach ihrem Examen in deren Land; und lebt gern hier, auch wenn die neuen Griechen nichts unversucht lassen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie arbeitet hier als Archäologin; flüchtet mitunter – wenn Abstand von Griechenland angeraten ist – in ihren Blog und zu Grabungen in die Türkei, den Vorderen Orient, Mittleren und Hinteren Orient. Nera Ide

1 Kommentar

  1. Alles Kult…

    Ihr Beitrag ist zugleich ein Kommentar zu der wohl gewöhnlicher Stelle in der Archäologie: Fast jedes Fund – anhanf mangelden Beweise – sollte kultischen Charakters sein…

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