Oh mein Gott
BLOG: Edle Einfalt, stille Größe
Die Erde bebt „Nicht der schon wieder!“ schreit Efi auf, die mit ganzem Herzen Griechin, eine gestandene Archäologin und Kollegin von mir ist. Der? Wer? frage ich erst einmal mich. Ein neuerlicher Erdstoß erschüttert das Institut, kippt Bücher aus dem Regal und lässt die Kaffeetassen wackeln. „Pousti!“ gellt Efi. „So ein malaka!“ Sie haut mit der Faust auf den Tisch, was ein Schlag zuviel für die Tassen ist. „Der, der …“ schluchzt sie nun auf. Wer der? frage ich mich abermals. Nun hat seismos, was Erdbeben auf griechisch heißt, zwar einen männlichen Artikel, wird aber kaum als Weichei und Wichser bezeichnet (üble, aber übliche Schimpfworte in Griechenland, die den Stellenwert des deutschen Depps haben).
Efi hangelt sich zum Fernseher, dem wichtigsten Büromöbel in Griechenland. Auf der Mattscheibe öffnen sich acht Fenster, und aus jedem plärrt ein erregter Sprecher den Zuschauer an. Expertenrunde auf griechisch, was bedeutet, dass alle gleichzeitig sprechen und das ausgesprochen laut. Fels in den Redeschwallen ist die Moderatorin, deren Kopf in der Mitte eingeblendet ist. Sie sagt nichts, schaut angelegentlich auf ihre Fingernägel, blickt von rechts nach links, dann von links nach recht, schüttelt dazwischen ihren Kopf, was ihre Haare prächtig zur Geltung bringt. (Nach der Sendung wird sich dann die Staatsanwaltschaft einschalten und zwei Seismologen wegen „Volksverstörung“ anklagen, weil sie vor Nachbeben gewarnt haben).
Aus dem Stimmengewirr höre ich immer wieder Poseidonas heraus, ein älterer Herr mit Philosophenfrisur wiederholt eindringlich diesen Namen, bohrt synchron dazu seinen Zeigefinger in die Kamera. Weil er die Betonung auf das O legt, verstehe ich immer noch nicht ganz. Wer? wende ich mich jetzt an Efi. „Na Poseidon, der große Erderschütterer. Er ist es, der auch die Wellen an Land verursacht!“ Ich sehe sie an. „Ich kann mit dem Typen nicht. Und er nicht mit mir. Wann immer ich ein Schiff besteige, sorgt er schon dafür, dass es keine lustige Seefahrt wird.“ Ha, ha, netter Witz, will ich ihr antworten, sehe aber ihrer ernsten Miene an, dass sie glaubt, was sie sagt. Dass sie tatsächlich an ihn glaubt. Sie glaubt an Poseidon, den griechischen Meeresgott, der auch an Land sein Unwesen treibt.
Wenn ich mit meinem Griechisch am Ende bin, steuere ich die Tankstelle an der Ecke an. Der Tankwart ist mein Retter in allen Nöten; meine Referenzperson, wenn ich wissen will, was in Köpfen und Herzen der Griechen vorgeht. Es trifft sich gut, mein Zapfsäulenheiliger hat heute viel Zeit für mich, weil es kein Benzin gibt. Die Brummis streiken, auch die Fahrer der Tanklastzüge. Das ganze Land ist ohne Treibstoff, was die Athener zu Entdeckungsreisen zwingt. Viele fahren zum ersten Mal mit der Metro, ihrer Untergrundbahn.
„Glaubst du an einen Gott?“ will ich von meinem Tankwart wissen.
„Nö“, sagt er. Ich will schon Efi als Einzelfall abhaken, da fügt er hinzu: „Ich für meinen Teil glaube an eine Göttin.“
Ich sehe ihn groß an.
„Sie ist unsere Schutzherrin. Ich muss an sie glauben!“
„Wer ist SIE? frage ich leise.
„Selbstverständlich Athene!“ sagt er mit Stolz.
„Verstehe, verstehe“, hasple ich. „Die Schutzgöttin von Athen“
„Nein“, widerspricht er vehement. „Die Schutzgöttin aller Tankwarte.“
Nun verstehe ich gar nichts mehr und er sieht mir das an.
„Athene hat doch das Öl erschaffen“, erklärt er mir. Ich kläre ihn darüber auf, dass es sich dabei um Olivenöl handelte
„Na und?“ begehrt er ob meiner Besserwisserei auf. „Öl ist Öl! Und Athene meine gute Göttin.“
Am Abend bin ich zur Feier eines Namenstages in eine Taverne eingeladen. Ich komme zu spät, weil das Fehlen von Benzin zu einem Stau in der U-Bahn geführt hat. Am langen Kneipentisch ist bereits eine wilde Diskussion im Gange.
„Dieser Schönling! Vollkommen affektiert! Unter dieser Schneckerlfrisur kann kein kluger Kopf stecken!“ erregt sich Efi.
„Doch! Einer mit Verstand! Er hat das logische Denken initiiert“, kontert ein Kollege, den eine andere Kollegin sofort niederschreit: „Und? Was hat uns die Ratio gebracht? Seine dämlichen Maßhalteappelle, die er selber nicht eingehalten hat?“
„Immer das rechte Maß! Wenn ich das schon höre!“ äfft nun Efi.
„Wir sind seiner Forever-young-Masche auf den Leim gegangen! Und haben den, der uns den Spaß und das Lachen brachte, in die Wüste geschickt.“
„Ganz schön blöd waren wir! Hätten wir doch bloß auf Verständnis statt auf den Verstand gesetzt. Statt schwerwiegender Gedanken sollten wir Freude haben. Besser das Leben zu feiern, als es pausenlos zu überdenken.“
„Wein wirkt besser als alle Worte. Das ist seine Botschaft. Wie wahr, wie wahr“, stöhnt einer in seinen Retsina.
„Glückliche Menschen sind aber nicht lenkbar. Er hat sehr clever erkannt, das nur Angst und Schwermut sie folgsam machen.“
Ich setze mich auf den freien Stuhl neben Efi und will von ihr wissen, wer die beiden sind, über die so gestritten wird. „Apollonas und Dionysos“, sagt sie so, als hätte ich es wissen müssen. Ich gehe im Geiste die Namen der nicht anwesenden Chefs durch, bis mir dämmert, dass es die Götter sind. In Griechenland diskutiert man über die alten Götter, als seien sie noch unter oder über uns. Apollon, der Erfinder der Ratio, der weiß Gott keinen Spaß verstand. Als nur optischer Strahlegott bootete er Dionysos aus, diesen fröhlichen Gott, der den Wein und die Freuden des Lebens erschaffen hatte.
Im Athener Regierungsviertel befindet sich dicht neben einem Ministerium eine kleine Kapelle. Sie ist tief in das Pflaster eingesunken, was deutlich anzeigt, wie alt sie ist. In den Jahrhunderten ihres Bestehens ist die Stadt um sie herum auch an Höhenmetern gewachsen. Ich passiere sie jeden Morgen auf dem Weg zum Institut und sehe dann vor ihr Trauben nadelgestreifter Männer und Frauen im Business-Outfit, die anstehen, um eine Kerze spenden zu können. Erst jetzt habe ich nachgefragt, wem die Kapelle geweiht ist. Ich habe mich dazu in die Warteschlange gestellt und in die schwarz verräucherte Kapelle schieben lassen. Ein altes Mütterlein entfernte im Akkord die brennenden Kerzen aus den Ständern, um Platz für die neuen zu schaffen, und putzte nebenbei das Heiligenbild, das von den vielen Küssen angelaufen war. Bald hatte ich Klarheit: „Agios Dionysos“ stand da über dem Schutzpatron, der gar nicht düster aus der Ikone guckt. Dionysos, den die Christen wegen seiner großen Beliebtheit kurzerhand zum Heiligen erklärt hatten. Spaß geht über Vernunft, wenigstens im orthodoxen Griechenland.
Ein interessanter Einblick in die Gesellschaft Griechenlands. Nun würde mich nur noch interessieren, wie repräsentativ das ist. Aber darauf wird es wohl keine Antwort geben.
Köstlicher Spass – aber nur ein Spass?
Wir aufgeklärten Freigeister des 21. Jahrhunderts amüsieren uns über Leute die an die alten (!) Götter glauben, wie in diesem Beitrag so gekonnt wie komisch illustriert. Aber ist es nicht ein wenig komplizierter?
Wie steht es denn mit einem Papst Benedikt (ein erwachsener und sicher hochbegabter Hochschulprofessor, dies nur nebenbei), der glaubt, dass ein Gebet zum Apostel Paulus Absolution von ALLEN Sünden verschafft! Auch eine Art Götterglaube, das…
Ist es nicht auch ein wenig komplizierter, als Sigmund Freud es sich gemacht hat, als er die (alten wie neuen) Gottheiten als Relikte unserer allerfrühesten Kindheitserfahrungen entlarvte?. Er hatte damit m.E. auf der psychologischen Ebene völlig recht. Aber ist das wirklich alles?
Die Naturwissenschaftler glauben ja auch an “Götter” – wo wären sie ohne Naturgesetze und Naturkonstanten, Raum und Zeit…
Jedenfalls vielen Dank für diesen wunderbaren Text. Besonders die Göttin Athene als Schutzherrin ALLEN Öls – wunderbar!
@Martin Huhn:”Ein interessanter Einblick in die Gesellschaft Griechenlands. Nun würde mich nur noch interessieren, wie repräsentativ das ist”
– Gar nicht repräsentativ! Keine Sorge…