Kick it like Einstein: Kreta zeigt Archäologen die rote Karte

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Edle Einfalt, stille Größe

Eine Insel im östlichen Mittelmeer, die sich wie ein Riegel vor Europa schiebt. Die aber ins Zentrum der Betrachtung rückt, wenn es um die Anfänge Europas geht. Als Wiege Europas wird Kreta tituliert, da hier auf diesem Außenposten in der Ägäis die erste Hochkultur unseres Kontinents entstand. Eine Kultur, die viel bewirkte und bis heute nachwirkt. So erkor die moderne Frauenbewegung das alte Kreta zu ihrer Trauminsel und wählte ein Kennzeichen der Ur-Europäer zu ihrem Abzeichen: die Doppelaxt. Weiter lassen sich viele Zeitgenossen gern von ureuropäischen (Denk)Mustern leiten, wie zum Beispiel der geschätzte Labyrinth-Blogger Jürgen vom Scheidt.

Wenn einem Anfang je ein ganz besonderer Zauber innewohnte, dann diesem Beginn Europas. Dabei sind die Anfänge des Anfangs völlig unspektakulär: Um 3000 v. Chr. werden auf der Insel erste einfache Siedlungen errichtet, wird hier grobes Geschirr gewulstet wie anderswo in der Frühen Bronzezeit. Tausend Jahre verharren die Ur-Kreter in dieser Unkultiviertheit, um dann plötzlich mit nie dagewesener Keramik, revolutionärer Malerei und einer Baukunst aufzutrumpfen, die in den Palästen von Knossos, Phaistos und Mallia gipfelt.

Nicht nur Archäologen staunen über die feinen Tongefäße made im alten Kreta, die sie Eierschalenware nennen, da Schalen und Schüsseln so dünnwandig sind wie zartes Porzellan. Ein Wunder ist nicht allein deren Herstellung, sondern auch die Bemalung. Tintenfische ringeln sich, Muscheln reihen sich, Delphine springen auf Bechern, Vasen und Amphoren. Die Künstler des alten Kreta nahmen noch weit Größeres in Angriff: Die Wände der Villen und Paläste, die sie mit einmaligen Bildern versahen. Mit Fresken, die herzustellen eine besondere Kunst-fertigkeit erfordert, da Linien und Farben rasch auf den nassen Putz aufgetragen werden müssen. Mit genialem Schwung zeichneten die frühen Maler, und so entstanden Momentaufnahmen aus einer schönen Bronzezeit: Selbstbewusste Frauen tragen ihre ondulierten Köpfe hoch, stecken sie bei Partys zusammen und sind ganz Auge, wenn wohlgestaltete Jünglinge paradieren.

Die Kreter genossen ein hohes Ansehen in der Alten Welt. Die Ägypter schrieben es in ihren Hieroglyphen fest, wie sehr sie die „Keftiu“ – übersetzt: die Kreter –  schätzten. Die Männer von der Insel waren gesuchte Einbalsamierer im Land der Pharaonen, was auch an den Materialien lag, die sie mit sich führten. Honig aus den kretischen Bergen war einer der Exportschlager, die Kreta reich und reicher machten. Die Lagerhäuser der Paläste füllten sich, sicher nicht allein der Grund, eine Schrift einzuführen: Die Linear A, eine Silbenschrift, die aus Keilen und Symbolen besteht.

Was aber war das für ein Völkchen, das so viel Farbe, so viel Finesse in die Frühgeschichte brachte? Die Archäologen nennen sie Minoer, nach dem König Minos, der laut Mythologie die Insel in bunten Vorzeiten regierte. Homer bezeichnet sie in seiner Ilias als Eteokreter, also die „wahren Kreter“. Kannte er etwa „unwahre“ Kreter? Er konnte noch nichts vom Alle-Kreter-lügen-Denkspiel wissen, da Epeminides, dem die Erfindung des Paradoxons zugeschrieben wird, lang nach Homer geboren wurde. Aber waren die ersten Kreter überhaupt Kreter, das heißt Griechen?

Als gesichert gilt, dass die nachweisbar ersten Griechen Kreta eroberten, die erste kretische Hochkultur aber nicht niedermachten, sondern adaptierten. Die Mykener waren es, Homers Helden vom Peloponnes, die sich um 1400 v. Chr. die Insel und deren Kultur aneigneten. Bald malten sie wie die Minoer, versuchten so fein zu töpfern wie diese und bauten in Mykene, Tiryns und Pylos ganz wie in Knossos. Die Mykener übernahmen wohl auch minoische Gedankengebäude, wie die altkretische Religion samt allen Göttern. Und die Eroberer bemächtigten sich der minoischen Schrift, schrieben alsbald ihr Idiom mit den Zeichen der Minoer. Linear B wird die Schrift der Mykener genannt.

Linear B können wir lesen, zumindest die, die sie lesen können. Ein Fachfremder schaffte es 1952, diese Schrift zu entziffern. Der Brite Michael Ventris, ein Architekt, hatte eine Idee, die den Altertumswissenschaftlern gar nicht in den Sinn gekommen war: Vielleicht waren es bereits Griechen, die in Linear schrieben? Er hatte recht, was Linear B betrifft. Die Mykener sind die bisher nachweisbar ersten Griechen, deren einfaches Griechisch sich in der Linear B wiederfindet.

Anders Linear A. Die Schrifttafeln der Minoer blieben bis heute Bücher mit sieben Siegeln; ganze Generationen von Schriftgelehrten versuchten die Schrift der ersten Kreter zu entziffern – bis dato ohne Erfolg. Sicher ist nur, dass es sich bei der Linear A nicht um Griechisch handelt, wahrscheinlich um keine der indoeuropäischen Sprachen. Waren die ersten Kreter dann überhaupt Europäer? Wer waren die Minoer? Woher kamen sie?

Diese Kardinalsfragen der Archäologie standen mal wieder zur Debatte eines schönen Tages im letzten Jahr auf Kreta. Metaxia Tsipopoulou, die Direktorin des Nationalen Archivs der Monumente beim Kultusministerium in Athen, will das neue Werk ihres Kollegen Kostis Christakis vorstellen, das seine Theorie zu Minoas Genesis zum Inhalt hat.

Die ganze lokale Prominenz ist zu der Buchvorstellung geladen worden und hat sich tatsächlich eingefunden. Der Saal ist voll. Metaxia Tsipopoulou ist beglückt. Noch. Sie schaut in den Mienen der vielen Gäste, die sich plötzlich versteinern, als sie Christakis’ These vorträgt, die keineswegs neu ist: Die Minoer waren keine Griechen. Sie kamen aus dem Osten. Wahrscheinlich aus der Levante.

Unmut im Auditorium. Murren. Füßescharren.

Der Autor Kostis Christakis meldet sich zu Wort „Ob es nun einigen gefällt oder nicht, die Minoer sind ein semitischer Stamm gewesen“, sagt er selbstbewusst.

Tumultartige Szenen im Saal. Der frühere Präfekt von Heraklion, Dimitris Sarris, springt auf. „Sie wollen uns sagen, dass die Minoer Juden gewesen sind?“ schreit er mit überschnappender Stimme.

Das will Christakis sicher nicht, denn zu jener Zeit, als die Paläste auf der Insel entstanden und die feine Keramik gefertigt wurde, setzte man überall in der Alten Welt noch auf viele Götter. Das Eingott-Modell war noch nicht erdacht, der ewig zürnende Jahwe noch nicht geschaffen worden.

Im Saal ist die Hölle los. Die Gäste gellen, ballen die Fäuste. Sarris packt nun die Kraft seines früheren Amtes in seine Stimme: „Wir einfachen Griechen können und wollen die These von Christakis nicht akzeptieren.“

Er schaut sich triumphierend um, breitet die Arme aus. „Wir waren die Minoer. Die Minoer waren Kreter. Punktum.“

Einer aus dem Auditorium tritt nach vorn, schlägt sich theatralisch an die Brust: „Hier drinnen fühle ich, dass die Minoer Kreter waren. So wie du und du und du.“ Er zeigt mit spitzem Finger in die Menge. Bevor er auf mich deuten kann, ducke ich mich weg, auf dass er nicht lügt.

Gefühle lügen nicht, auch wenn alle Kreter lügen – aber halt, wir wollen ja nicht ins Paradoxe abdriften, die Wortbeiträge bei dieser Buchvorstellung sind paradox genug.

„Das ist doch zionistische Propaganda, dass das alte Kreta jüdisch gewesen ist.“ Das sagt einer, der keineswegs dem rechten Rand des politischen Spektrums zuzurechnen ist, sondern ein Abgeordneter der PASOK, der sozialistischen Partei Griechenlands.

Das „jüdische Kreta“ wird in den nächsten Wochen zum Topthema der Insel-Medien. Keine der vielen Verschwörungstheorien kommt zu kurz, man spricht und schreibt gar von einem „Feldzug der Juden, Kreta wenigstens in der Antike in ihren Besitz zu bringen“.

Als die Anschuldigungen bizarrer werden, die Vorwürfe gegen Tsipopoulou und Christakis immer lauter, sieht sich der Verband der griechischen Archäologen gezwungen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen. Die Archäologen zeigen sich besonders darüber beunruhigt, dass die Angriffe auf die Vertreter ihrer Zunft von lokalen Politikern ausgegangen sind. Der Verband verweist auf die Freiheit von Lehre und Forschung und sichert seinen Mitgliedern die volle Unterstützung zu. Einige Forscher der Insel geben aber zu verstehen, dass sie sich als kretische und nicht als griechische Wissenschaftler betrachten.

Kreta war, ist und bleibt auch eine Märcheninsel. Auf dieser Insel spielte sich die namensgebende Begebenheit ab, jene Zwangsheirat zwischen Zeus und Europa, einer Königstochter aus Phönizien. (Das sei ein reines Märchen, betonen die Kreter. Beileibe kein Hinweis auf die Herkunft der kretischen Urmutter!) Europas Schwiegertochter Pasiphae trieb’s ebenfalls mit einem Stier, einem tatsächlichen. Dieser Verbindung entsprang ein Ungeheuer, der Minotauros. Und weil Böses stets Gutes gebiert, bekam ein gewisser Dädalos die Chance, das Labyrinth zu erfinden, da der Minotauros versteckt werden musste.

Wenn die Kreter schon nicht lügen, erzählen sie doch weiter Märchen. Von den aufrechten Ur-Kretern, die Griechen wie sie waren. Und von bösen Archäologen, die nun ihre Vorfahren verleumden, sie gar zu Juden machen wollen.

Ihr Kreta muss immer verteidigt werden, und sei es das der Frühgeschichte!

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Geboren in Deutschland; Vater und Mutter – der eine klassischer Archäologe, die andere Altphilologin – brainwashten ihr einziges Kind bereits im zarten Alter, lasen ihr z. B. als Gute-Nacht-Geschichte die „Odyssee“ vor – auf Altgriechisch. Studium der Vor- und Frühgeschichte und Alter Geschichte in Tübingen, Oxford und Athen. Weil es ihr die alten Griechen angetan haben, zog sie nach ihrem Examen in deren Land; und lebt gern hier, auch wenn die neuen Griechen nichts unversucht lassen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie arbeitet hier als Archäologin; flüchtet mitunter – wenn Abstand von Griechenland angeraten ist – in ihren Blog und zu Grabungen in die Türkei, den Vorderen Orient, Mittleren und Hinteren Orient. Nera Ide

5 Kommentare

  1. Kreta…

    Ah die Kreter, die sind ein lustiges Völkchen! Die sagen von sich selbst, sie seien erst Kreter und dann Griechen! Und viele davon träumen vom Austretten der Insel aus der griechischen Republik – ganz nach dem Modus des Bundesstaates Bayern!

    Ein link zu dem berüchtigten Vortrag und seine Folgen: http://gkav.wordpress.com/…83%ce%bc%cf%8c%cf%82/

    So was kann passieren, wenn man vor nicht-Wissenschaftlern wissenschaftliche Vorträge hält…

  2. @Lars Fischer: Kein Problem; ich bedanke mich meinerseits, daß Sie den Link zugänglich für diejenigen gemacht haben, die des griechischen nicht mächtig sind!
    Es gibt auch in Griechenland Menschen, die gegen solche Vorurteile sind.
    Ansonsten denk´ich, daß die beste Publikation zum minoischen Kreta dieser Ausstellungskatalog des BLM Karlsruheist: H. Siebenmorgen (Hrsg.), Im Labyrinth des Minos…

  3. Nichts Besonderes

    Die Karawane zieht weiter. Es wird immer der Fall sein, dass sich einige unbedeutende Sesselpupser aufblasen und den Aufstand proben. Lassen wir sie an der Tränke der Wichtigtuer zurück. Glücklicherweise haben sie auch in Kreta nicht mehr die Macht, die Karawane nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Schwieriger ist es, wenn man auf ihr Goodwill angewiesen ist. Man hat das Plazet der Ephorie, irgendwelche Stücke sehen zu dürfen, aber der Verantwortliche vor Ort hat keine Zeit, sich darum zu kümmern, weil er während der Arbeitszeit seinem Hobby nachgehen muss …

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