Homer zwischen den Stühlen

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Passender müsste es heißen: Homer zwischen den Liegestühlen. Diese Klinen avancieren zu seiner Zeit zum angesagten Mobiliar, seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. liegt man überall da, wo Griechen zu Hause sind, bevorzugt zu Tische, gibt sich auf diesem Prototyp des Fernsehsessels der Abendunterhaltung hin.

Steht aber Homer auf dem Programm und der Heimbühne, hält es keinen lang in der Horizontalen. Dabei kennt jeder längst diese Geschichte, von der er abendfüllend singt. Weiß um den Ausgang des Großen Krieges. Weiß, wer in den Schlachten fällt und wer die Gemetzel überlebt.

Die Spannung ist raus, eigentlich, und doch gelingt diesem Magier der Worte immer wieder das Kunststück, einen per Vers direkt aufs Schlachtfeld zu versetzen, mitten hinein ins Getümmel zu stürzen; einem das Gefühl zu vermitteln – ist‘s der Hexameter oder Hexerei? – selbst das Schwert zu schwingen. Auch die Sinne geschärft, meinen die, die da an seinen Lippen hängen, die Schreie der Kämpfenden zu hören. Meinen sogar, den Schweiß und die blutgetränkte Erde zu riechen.

Die, die da mitfühlen und mitfiebern, sind Griechen im antiken Übersee. Nachfahren jener Auswanderer, die vom Mutterland aus den Sprung über die Ägäis gen Osten wagten. Dass sie sich zu neuen Ufern aufmachten, aufmachen mussten, lag auch an dem Großen Krieg, den Homer so mitreißend nacherzählt. Ihre Vorfahren sind Kriegspartei gewesen, hatten sich an dem Feldzug gegen Troja beteiligt. Ob aus Attika, Böotien, Thessalien, den Fürstentümern des Peloponnes – sie alle waren zu Waffen und Schlachtschiffen gerufen worden, um mit und für den König von Mykene in den Kampf zu ziehen, getreu der geflügelten Worte,  dass allein ein Krieg es vermag, die Griechen zu einen.

In der Schlacht um Troja, die mutmaßlich um 1200 v. Chr. herum stattgefunden hat, behielten die Griechen letztlich die Oberhand, doch war ihr Triumph ein Pyrrhussieg, In den zehn Jahren, in denen die gesamte griechische Elite vor Troja stand, brachen in ihren Reichen daheim Recht und Ordnung weg, es kam zu Unruhen und in den Umwälzungen gingen nicht nur die Paläste verschütt – den Griechen kam ihre Kultur abhanden. Wo man bereits über tausend Jahre zuvor mit der Eierschalenware eine Keramik fein wie Porzellan geschaffen hatte, wulstete man plötzlich wieder Gefäße auf, als hätte es nie eine Töpferscheibe gegeben. Und vom schöner Wohnen wie zu Helenas Zeiten findet sich keine Spur mehr – wie auch, wenn jetzt nurmehr in Katen gehaust wird.

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 It’s not easy being greek… (Credit: fotolia / Michael Rosskothen)

Letztlich verlor man sogar das Hauptmerkmal einer Hochkultur: die Schrift. Nicht unbedingt eine ureigene Kulturleistung der frühen Griechen, denn die Mykener hatten sie wie so vieles von den Minoern übernommen, sie förmlich abgeschrieben. Aus der Linear A der Kreter – die bis heute nicht entziffert werden konnte – bastelten sie sich Linear B zusammen, um ihre Sprache zu fassen – das älteste Griechisch, das wir kennen.

Linear A war schon lang vor 1200 v. Chr. vergessen, nun fiel auch Linear B weg, und so blieb das frühe Griechenland 400 Jahre ohne Schrift; ein Zeitraum, den die Altertumswissenschaftler, die nicht gerade zu poetischen Labels neigen, als die Dunklen Jahrhunderte bezeichnen.

Kriegsgewinner werden Kriegsflüchtlinge

Der Trojanische Krieg kennt nur Verlierer. Nicht nur die Trojaner werden vertrieben – auch aus den nun nicht nur geistig verarmten Reichen der Siegermächte fliehen die Menschen. Flüchten sich in die Boote und in die Idee von einem besseren Leben jenseits von Griechenland. Neben ihren letzten Preziosen ist auch der Sagenschatz der alten Heimat mit im Gepäck, an ihm halten sie fest, auch als sie an den Küsten Kleinasiens Fuß gefasst haben. Erzählen weiter und weiter von vergangenen Zeiten, die so golden waren im Vergleich zu den jetzigen. Zeiten, als noch Könige herrschten, die Menschen von Adel waren und kongenial edle Gesinnungen an den Tag legten, klammert man deren Gebaren auf den Schlachtfeldern aus.

Die Einwanderer, die in den Anfängen gerade mal das Nötigste hatten, labten sich an diesen Berichten über nie gekannten Luxus. Allein, was da in den Palästen von Mykene, Sparta und Pylos aufgetischt wurde! Bei Königs wurde noch richtig getafelt, der “fette gebratene Rücken eines ganzen Rindes” stand auf dem Menü, wann immer gefeiert wurde, und das scheint alle Tage der Fall gewesen zu sein. Jeder Besucher war da Anlass genug, der Schlossküche Dampf zu machen.

Sie wussten zu leben, wenn sich nicht gerade starben. Diese ältesten Griechen wie Agamemnon, Menelaos und Nestor. Und wie sich die Mykener erst stylten! Wie aufwendig gewandet sie in den Kampf zogen. Äonen entfernt von Camouflage blinken da die Rüstungen, ein Gott selbst schmiedet die Schilde und Krönung der Uniform ist ein Helm aus Eberzähnen. So eine Pickelhaube sei doch aus dem Hut gezaubert, befanden dann all jene, die den Trojanischen Krieg für ein Märchen halten. Dass es sich bei der Ilias um eine reine Erfindung handelt, beweise doch dieser dubiose Kopfputz!  Ein Kriegshelm aus Eberzähnen – dass sie nicht lachten! Das Lachen verging den Spöttern, als die Archäologen dann in mykenischen Gräbern tatsächlich solche Helme entdeckten.

Auf der Seite Trojas

Die Einwanderer in Kleinasien sind im Zwiespalt. Zwar Griechen, werden sie nun auf dieser Seite der Ägäis heimisch, wo die Trojaner einst zu Hause waren. Ob es bewusst geschah oder sich unbewusst einschlich –  in der Geschichte vom großen Krieg verschieben sich nun von Generation zu Generation die Sympathien. Troja liegt den griechischen Siedlern näher, und das schließlich nicht nur geographisch gesehen. Bei der mündlichen Weitergabe des Geschehens ändert sich der Tenor der Kriegsberichterstattung: In der Version, die in der Neuen Welt der Antike kursiert, sind die Griechen zwar weiterhin die Sieger, doch nicht länger die Helden im Kampf um Troja.

Auch Homer, der diesen allerersten Weltkrieg in der Ilias schlussendlich fixiert, ist ein Kind der griechischen Kolonien in Kleinasien. Ob er in Smyrna, Kolophon oder auf Chios im 8. Jahrhundert v. Chr. zur Welt gekommen ist – seine Heimat liegt östlich der Ägäis, da wo zu seiner Zeit nur noch die Ruinen des einstmals so großen und mächtigen Trojas zu sehen sind. Die Trojaner empfindet Homer als Landsleute, er fühlt sich ihnen mehr verbunden als diesen ihm so fremden Griechen, die sich da fast ein halbes Jahrtausend zuvor aufgemacht hatten, die kleinasiatische Metropole an den Dardanellen zu erobern. Er schlägt sich nicht auf die Seite Trojas – er ist als einer von ihnen wohl und gern auf Seiten der Trojaner.

So sind es dann Priamos, Andromache und Kassandra, die in seiner Ilias zumindest die Herzen gewinnen. Die Feinde der Griechen kommen, selbst wenn sie fallen, weit besser weg als die Hellenen; sie triumphieren im Tod wie beispielsweise Hektor. (Homers Sicht auf die Kombattanten wirkt nach. So nennt denn die Schriftstellerin Christa Wolf den Bezwinger Hektors “Achill, das Vieh”.) Auch lässt Homer die netteren Götter des Olymps Partei für die Trojaner ergreifen. Troja geht letztlich unter, weil die Pflicht zum Göttinnendienst über das Misstrauen siegt.

Homer ist parteiisch, das liegt in der Natur von Zuwanderern. Der Geschichte vom Krieg der Griechen gegen Troja verpasst er seine Handschrift – die Handschrift eines Wahltrojaners und Neukleinasiaten.

Die rosenfingrige Morgenröte

Apropos Handschrift. Dazu braucht es eine Schrift, Glück für Homer, dass die Griechen just zur Zeit seiner Geburt das Alphabet der Phönizier abkupfern, um endlich nach 400 Jahren wieder eine Schrift zu haben. Nun konnte sie endlich festgehalten werden, diese alte Geschichte vom Großen Krieg der Griechen gegen die Trojaner; mit Alpha und Beta und Abstrichen – geschuldet dem Annäherungsprozess der Siedler – zu Holz und Tierhaut gebracht werden. Um das Epos vollkommen zu machen, brauchte es noch die Wortgewalt eines Dichters. Einer Ausnahmeerscheinung, der die Morgenröte als rosenfingrige zu sehen vermochte. (Anmerkung zum letzten Beitrag “Das Schloss der schönen Helena”: Wenn Homer Lakonien als „hohl“ – κητωεσσαν – beschrieb, dann meinte er es so. Nicht ein hohes, sondern ein höhlenreiches, zerklüftetes Land.)

In Neu-Griechenland tut sich nicht nur Literatur. So als gelte es, die Dunklen Jahrhunderte in kürzester Zeit zu neutralisieren, wird hier ein wahres Feuerwerk an Ideen gezündet. Ex oriente lux. Das, was Europa einmal ausmachen sollte, geht von dem schmalen Küstenstrich im Westen Kleinasiens aus. Das, was wir mit “westlichen Werten” beschreiben, wird in den griechischen Kolonien östlich der Ägäis angedacht.

Milet entwickelt sich zur großen Denkerschmiede der Antike. Anaximander und Anaximenes begründen in diesem Stadtstaat die Naturphilosophie, räsonieren früh über den Ursprung allen Seins und aus welchem Urstoff wir gemacht sind. Thales wirkte hier und immer noch nach, siehe den modernen Mathematikunterricht. Pythagoras, den Aristoteles als Vater der Mathematik adelte, wurde unweit von Milet geboren, wie auch der Denker Heraklit, der uns mit “Τὰ πάντα ῥεῖ – alles fließt” die erste Weltformel bescherte. Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, kam südlich von Milet zu Welt und Hippokrates begründete im nahen Kos die Medizin. Und Aristoteles, für viele noch immer der Größte, bastelte in der Troas an seinen Denkmodellen.

Doch vor allen: Homer. Dieser verdankt den Phöniziern wegen des Schrifttransfers seine Unsterblichkeit, doch er dankte es ihnen nicht. In seiner Odyssee kommen die seefahrenden Händler denkbar schlecht weg, er bezeichnet sie durchweg als Halunken und sieht ihn ihnen nur pathologische Betrüger. Des Dichters Kleinkrieg in seiner Geschichte vom Großen Krieg.

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Geboren in Deutschland; Vater und Mutter – der eine klassischer Archäologe, die andere Altphilologin – brainwashten ihr einziges Kind bereits im zarten Alter, lasen ihr z. B. als Gute-Nacht-Geschichte die „Odyssee“ vor – auf Altgriechisch. Studium der Vor- und Frühgeschichte und Alter Geschichte in Tübingen, Oxford und Athen. Weil es ihr die alten Griechen angetan haben, zog sie nach ihrem Examen in deren Land; und lebt gern hier, auch wenn die neuen Griechen nichts unversucht lassen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie arbeitet hier als Archäologin; flüchtet mitunter – wenn Abstand von Griechenland angeraten ist – in ihren Blog und zu Grabungen in die Türkei, den Vorderen Orient, Mittleren und Hinteren Orient. Nera Ide

2 Kommentare

  1. Eine sehr schöne Erzählung, aber -nehmen Sie die Ilias nicht allzu wörtlich? Es gibt ja mehr als berechtigte Zweifel, ob Troia wirklich eine grosse Metropole gewesen ist, um die sich ein aufwändiger Krieg gelohnt hätte. Nach Prof. Kolb (s. z.B. hier: http://www.tagblatt.de/Nachrichten/Zur-Handelsstadt-fehlt-alles-32574.html) war es nicht mehr als ein agrarisch geprägtes, regionales Zentrum von lediglich lokaler Bedeutung, was Ihren frühen Weltkrieg zu einer aus dem Ruder gelaufenen Kneipenschlägerei machen würde.
    Vermutlich hatte der troianische Krieg (so er denn überhaupt stattgefunden hat) keinen Einfluss auf die Entwicklung Griechenlands, der kam erst später durch die Ilias-die Feder ist halt mächtiger als das Schwert.

  2. Scilogs Redaktion schrieb (15. Februar 2017):
    > […] er bezeichnet sie durchweg als Halunken und sieht ihn ihnen nur pathologische Betrüger.

    Erneut, Dr. Webbaer, kann daraus, dass im gerade zitierten Satz(-Teil) offenbar ein kleines „h“ überflüssig ist, nicht gefolgert werden, dass der Buchstabe „h“ (oder sogar das schon im obigen SciLog-Beitrag-Titel benutzte „H“) an sich falsch und (deshalb) aus der deutschen Sprache insgesamt zu tilgen wäre.

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