Spuren, Modellbildung und Terminologie

BLOG: Die Sankore Schriften

Die Welt ist voller Rätsel
Die Sankore Schriften

Wenn Wissenschaftler über die Evolution der Arten forschen, blicken sie meist zurück in die Vergangenheit und versuchen mithilfe von Spuren verschiedener Art (z. B. Fossilien, Sedimentproben, DNA, bestimmte Isotope), zu rekonstruieren, wie die Artengemeinschaft entstand, die wir heute vorfinden. Welche Bedingungen herrschten damals? Diese Denkweise, die in der Evolutionsforschung verwendet wird, finden wir aber auch in der Spieltheorie und in der Kriminalistik wie ich an drei Beispielen zeigen werde.  Dabei nehmen der Abstraktionsgrad und die Stringenz der Bedingungen vom ersten zum dritten Beispiel ab, zugleich werden aber auch Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Beispielen deutlicher werden. Zusätzlich möchte ich zeigen, dass die verschiedenen Spuren (und Bedingungen), die zur Lösung führen, nicht für jedermann erkennbar sind und es oft des geschulten Auges eines Experten bedarf. Fangen wir mit Streichhölzern an.

Ein Streichholzduell

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Abb.1: Streichhölzer

Auf dem Tisch liegt eine Anzahl (N) Streichhölzer. Du und dein Gegner müsst abwechselnd mindestens 1, höchstens eine ebenso festgelegte Anzahl (p) aus dem Haufen entnehmen. Wer das letzte Hölzchen wegnimmt, hat verloren. N soll viel größer als p sein. Um die Gewinnstrategie herauszubekommen, müssen wir das Spiel vom Ende her aufrollen. Dazu wählen wir als praktische Zahlen einmal N = 20 und p = 4. Es liegen also 20 Hölzchen auf dem Tisch und jede Partei muss abwechselnd 1 bis 4 Hölzchen entnehmen.

Damit ihr Gegner verliert, muss er zum Schluss 1 Streichholz vorfinden. Wie viel Hölzer muss nun in der vorletzten Runde dein Gegner vor sich haben? Es sind sechs. Wenn er nämlich 1,2,3 oder 4 wegnimmt, nimmst Du entsprechend 4, 3,2 oder 1 weg und es bleibt in jedem Falle für ihn zum Schluss nur eines übrig. Durch analoge Weiterführung dieser Gedanken kannst Du ableiten, dass in der drittletzten Runde 11 Hölzchen für deinen Gegner übrig bleiben müssen, um zu gewinnen. Die genannten Zahlen bilden aber die arithmetische Folge 1, 6, 11, 16 mit dem Abstand (p+1).  Du setzt die Folge fort, bis Du unterhalb von N=20 angekommen ist (mehr sind ja nicht da!).

Anzahl der Streichhölzer, die liegen bleiben müssen

Letzte Runde: 1
Vorletzte Runde: p+2 = [1+(p+1)]
Drittletzte Runde: 2p+3 = [p+2+(p+1)]
Viertletzte Runde: 3p+4 = [2p+3+(p+1)]

Wenn Du am Zuge bist, musst Du also so viele Streichhölzer wegnehmen, dass ein Anzahl aus der oben genannten Folge liegen bleibt. Das gilt für jede Phase des Spiels und natürlich auch für den Spielbeginn. Daraus kannst Du schon ersehen, dass Du den ersten Zug haben musst, wenn du das Spiel gewinnen willst. Sonst wendet nämlich dein Gegner die optimale Strategie an (falls er sie kennt), indem er in die genannte Zahlenfolge hineinspringt. Die Strategie besteht also darin im Verlauf des Spiels in die oben genannte Folge hineinzukommen.

Diese Strategie lässt sich verallgemeinern:

1.    Berechne den Quotienten (N-1)/(p+1). Das ergibt eine ganze Zahl K und einen Rest (alles, was hinter dem Komma steht!).
2.    Multipliziere (p+1) mit K.
3.    Subtrahiere das Ergebnis von 2. von (N-1). Das ergibt die Zahl der Hölzchen, die Du wegnehmen musst.
4.    Verfahre in jedem weiteren Schritt (mit jeweils einem anderen, kleineren Wert N) nach Punkt 1 bis 3.

Die ganze Strategie funktioniert allerdings nicht wenn die Zahl (N-1) durch (p+1) ohne Rest teilbar ist. Das muss Du durch eine geeignete Festlegung von N und P ausschließen.

Dieser Lösungsansatz, der beim Streichholzduell zu einer Gewinnstrategie führt, wird im Problemschach zu einer eigenständigen Kunstform erhoben. Schauen wir uns das folgende Schachdiagram an.

Wie alles begann: Die Retroanalyse beim Schachproblem

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Abb.2: Der Tod der Dame, Raymond Smullyan 1979 (Quelle: Chess Mysteries of Sherlock Holmes)

Aufgabe: Wo wurde die weiße Dame geschlagen?

Zur Lösung dieser Aufgabe erforscht man die Vorgeschichte der Diagrammstellung. Dabei dienen wichtige Stellungsmerkmale als Spuren, die auf, für die Lösung entscheidende Züge beider Parteien hinweisen, die der aktuellen Position vorangegangen sind. Man nennt diese Art der schachlichen Rückbetrachtung Retroanalyse.

Stellungsmerkmale, die zur Lösung führen

1. Die schwarzen Bauern schlugen zwei weiße Figuren auf e6 und h6.
2. Nur Dame und Springer kommen als Schlagopfer in Frage.
3. Die Dame kann nur über die A-Linie nach e6/h6 gelangt sein.
4. Dazu muss jedoch zuvor auf b3 geschlagen worden sein.
5. Als Schlagopfer kommt hier nur der Läufer von c8 infrage.
6. Zuvor muss aber der Bauer d7 auf e6 geschlagen haben.
7. Daraus folgt: Auf e6 kann nur ein Springer geschlagen worden sein.
8. Daraus folgt die weiße Dame wurde auf h6 geschlagen.

Eine mögliche Zugfolge ausgehend von der Anfangsstellung

1. Sf3 Sh6 2. Se5 Sf5 3. Sg6 Sh3 4. Sf8: Sf1: 5. Se6 de6: 6. Sc3 Ld7 7. Sb1 La4 8. Sc3 Se3 9. Sb1 Sf5 10. Sc3 Sd4 11. Sb1 Sb3 12. Sc3 Sc1: 13. Sb1 Sb3 14. Sc3 Sd4 15. Sb1 Lb3 16. ab3: Sf5 17. Sc3 Sh6 18. Db1 Sg8 19 Da2 Sc6 20. Da5 Sb8 21. Dg5 Sc6 22. Dh6 gh6: 23. Sa2

Was bei der Retroanalyse die Stellungsmerkmale sind, sind in der Kriminalistik die Indizien und wer könnte besser als Sherlock Holmes anhand von Indizien etwas über den Tathergang bzw. Täter und Opfer herausfinden?

Ein Sherlock Holmes Abenteuer: Der Blaue Karfunkel

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Abb. 3: Sherlock Holmes und Watson

In diesem Abenteuer des Sherlock Holmes gelangt der Dienstbote Peterson zufällig in den Besitz einer Weihnachtsgans, in der sich ein wertvoller Edelstein befindet, der kurz zuvor einer Gräfin gestohlen wurde. Sherlock Holmes hat nur einen Hut als Anhaltspunkt, dieser reicht ihm jedoch aus, um den Dieben auf die Spur zu kommen.

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Abb.4: Ein blauer Fedora

Watson: “Was können Sie schon aus dem alten schäbigen Filz schließen?”

Holmes: „Da der Hut eine sehr gute Qualität hat und rund drei Jahre alt ist, war der Besitzer vor drei Jahren wahrscheinlich wohlhabend. Nun macht er allerdings schlechte Zeiten durch, denn sonst hätte er sich schon längst einen neuen Hut zugelegt. Sein Besitzer hat mit Tinte, die Flecken kaschiert, ein Zeichen dafür, dass sich der Mann seine Selbstachtung trotz seiner schlimmen Lage erhalten hat. Der Hausstaub auf dem Hut verrät, dass der Mann nur selten fortgeht, Schweißflecken im Hutinneren, dass er schnell schwitzt und darum in körperlich schlechter Form ist. Der Mann hat graue Haare, die vor Kurzem noch geschnitten wurden und die er mit Zitronencreme pflegt – das erkenne ich an den winzigen Haarspitzen, die sich im Hut befinden. Und: Der Hutbesitzer hat wahrscheinlich keinen Gasanschluss im Haus – auf dem Hut befinden sich Talgspritzer. Also hat der Mann häufig Kontakt mit Talglichtern, wenn er nachts die Treppe hinaufgeht, wahrscheinlich den Hut in der einen Hand, eine tropfende Kerze in der anderen.”

Fast überflüssig zu erwähnen, dass Holmes mit seinen Vermutungen recht behält.

Spuren, Modellbildung und Terminologie

Die hier gezeigten Denkprozesse werden zwar mit unterschiedlichen Zeichen kommuniziert z. B. mathematische Zeichen, Schachnotation, Wörter – haben aber alle das gleiche Ziel, eine plausible Modellbildung. Warum Modelle? Modelle helfen uns Aussagen über die Zukunft zu machen. Wir ändern also die zeitliche Blickrichtung. Gleichzeitig ist ein Modell ein beschränktes, vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit. Diese Beschränktheit von Modellen wird auch sprachlich durch ihre individuelle Terminologie sichtbar. Denken wir z. B. an das Teilchen-Modell des Lichts. Das führt dazu, dass sich die Begriffe nicht nur auf die konkreten Gegenstände beziehen sondern gleichzeitig auch auf die Wissensstrukturen in denen diese Gegenstände eingebettet sind. Wissensstrukturen, die mehr oder weniger mit dem Gegenstand zu tun haben. Wissensstrukturen, die unterschiedliche subjektive Bedeutungen/Bewertungen mit sich tragen. Ich möchte das am Beispiel des Wortes „Partisan“ verdeutlichen. Dieses Beispiel habe ich aus dem sehr empfehlenswerten Vortrag „Sprache und Plattformneutralität” meines Blognachbarn Anatol Stefanowitsch von Sprachlog.

Eine Definition des Partisans

Was ist ein Partisan? Wie kann man einen solchen Menschen beschreiben? Ein Partisan kämpft bewaffnet außerhalb der regulären Armee als Mitglied einer Gruppe aus dem Hinterhalt gegen den Feind von Außen.

Implizite Wissensstrukturen des Begriffs Partisans

Ich bezeichne ihn als Mitglied einer Gruppe, das heißt das es auch andere Kämpfer der gleichen Art gibt.

Wenn er außerhalb der regulären Armee kämpft, dann muss es auch eine reguläre Armee geben denn sonst macht die Bezeichnung Partisan keinen Sinn.

Wenn die Partisanen gegen einen Feind kämpfen dann muss es einen Feind geben also auch eine zweite Armee.

Und da der Feind von außen kommt, muss es auch eine Grenze geben, die der Feind überschritten hat.

Was für den Begriff Partisan gilt, gilt ebenso für die Fachbegriffe mit denen die Komponenten wissenschaftlicher Modelle beschrieben werden. Wer wusste vor Jahrzehnten noch welche reale Bedeutung der kosmologischen Konstante zukommt? Ist sie Teil des Modells oder Teil der Wirklichkeit?

„Nicht immer hat ein Abdruck die gleiche Form wie der Körper, der ihn gemacht hat, und nicht immer entsteht er durch das Gewicht eines Körpers. Manchmal reproduziert er nur den Eindruck, den ein Körper in unserem Geist hinterlassen hat, dann ist er der Abdruck einer Idee. Die Idee ist ein Zeichen der Dinge, und das Bild ist ein Zeichen der Idee, also das Zeichen eines Zeichens. Aber aus dem Bild rekonstruiere ich, wenn nicht den Körper, so doch die Idee, die andere von ihm hatten.«»Und das genügt Euch?« »Nein, denn die wahre Wissenschaft darf sich nicht mit Ideen begnügen, die eben nur Zeichen sind, sondern muss die Dinge in ihrer einzigartigen Wahrheit zu fassen suchen. Und darum würde ich gern von diesem Abdruck eines Abdruckes immer weiter zurückgehen bis zu jenem leibhaftigen Einhorn, das am Anfang der Kette steht.“

William von Baskerville in dem Roman Der Name der Rose – Vierter Tag S. 201

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

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