Leichen pflastern seinen Weg: Vesalius’ Pfad zur Erkenntnis

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Andreas Vesalius sezierte im 16. Jahrhundert als erster systematisch Leichen um ihre Anatomie zu erforschen. Seine für die damalige Zeit bahnbrechenden Erkenntnisse veröffentlichte der 27jährige Mediziner 1543 in dem berühmten De corporis humani fabrica.

 

Abb.1: Die Titelseite von De corporis humani fabrica

De corporis humani fabrica

Dieses Lehrbuch der Anatomie, räumte mit den mittelalterlichen Vorstellungen über den Aufbau des menschlichen Körpers auf und begründete die beschreibende Anatomie. Das 700 Seiten starke Buch enthielt 300 Illustrationen, und entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Bestseller. Die Zweitausgabe von 1555 erweiterte Vesalius sogar auf 900 Seiten. Auch dieses Werk in einem Format von 43 mal 29 Zentimetern erregte wegen seiner künstlerischen Qualität und seiner originalgetreuen Zeichnungen großes Aufsehen.

Vesalius hatte früh erkannt, dass Schaubilder in seinen Vorlesungen von großem Nutzen waren. Von verschiedenen Künstlern ließ er sich für sein Lehrbuch deshalb Skelette in unterschiedlichen „Körperhaltungen“ zeichnen. Und um die Funktion der Muskeln zu demonstrieren, ließ er eine Reihe menschlicher Figuren so malen, dass deren Muskeln von Bild zu Bild schichtweise freigelegt wurden, dazu kommt, dass der Hintergrund auf 20 der insgesamt 300 Illustrationen ein zusammenhängendes Bild ergibt. Legt man die Zeichnungen aus dem Kapitel über Muskeln Seite an Seite, so erkennt man ein zusammenhängendes Landschaftsbild aus Italien.

Die Anatomie im Mittelalter

Andreas Vesalius kam am 31. Dezember 1514 in Brüssel zur Welt. 1533 nahm er an der Universität von Paris sein Medizinstudium auf. Das Öffnen und Zerlegen von Leichen war damals sehr außergewöhnlich. Häufig führten Barbiere diese Sektionen durch, denn die gelehrten Professoren waren sich für diese Arbeit zu fein. Meist saßen sie auf einem hohen Podium und erläuterten ihren Studenten von dort aus mit einem Zeigestock den menschlichen Körper, während der Barbier die Leiche zerschnitt. Der Nutzen solcher Leichenöffnungen dürfte freilich gering gewesen sein, denn die unerfahrenen Gehilfen zerschnitten die Körper oft zur Unkenntlichkeit. Das damalige anatomische Wissen basierte auf der Lehre des griechischen Arztes Galenos von Pergamon (Deutsch: Galen), der im zweiten Jahrhundert n. Chr. gelebt hatte. Seine anatomischen Beschreibungen beruhten auf der Sezierung von Tieren; einen Menschen hat Galenos wahrscheinlich nie seziert.

Vesalius geht eigene Wege

Vesalius fand Galenos’ Beschreibungen zu oberflächlich. Da er zudem mit den öffentlichen Leichenöffnungen, die er als Student erlebte, unzufrieden war, begann er mit eigenen Untersuchungen. Zuerst sezierte er nur Tiere, doch später gelangten auch menschliche Leichen unter sein Messer. Im Frühmittelater hatte die Kirche die Sektionen an menschlichen Leichen noch abgelehnt und begründete dies mit der Auferstehung des Fleisches, die Leiche wurde als verlassener Träger der Seele gesehen. Noch 1300 hatte Papst Bonifatius VIII. Leichensektionen mit einem Kirchenbann belegt. 150 Jahre später hatte sich die Einstellung der Kirche zur Leichenschau gewandelt: Die Päpste Sixtus IV.(+1484) und Clemens VII. (+1534) sprachen sich nun explizit für die Erlaubnis zum Anatomiestudium an menschlichen Leichen aus. Jetzt wurde sich auf das Gebot der Nächstenliebe berufen.

Alles wird falsch gelehrt, man verschwendet ganze Tage mit absurden Fragen, und in der Verwirrung wird dem Zuschauer weniger geboten, als ein Schlachter auf seinem Markstand einem Doktor lehren könnte.

Vesalius

1535 und 1536 führte Vesalius seine eigenen öffentlichen Leichenöffnungen durch, bei denen er entgegen jeder Tradition die Sektion eigenhändig vornahm und seinen Zuhörern erläuterte. Bis 1540 war Vesalius an unterschiedlichen Orten tätig, so etwa in der italienischen Universitätsstadt Padua. An der berühmten Ärzteschule war er Lehrer für Chirurgie und Anatomie. 1538 publizierte er sechs große anatomische Tafeln, die bei seinen Studenten großen Anklang fanden. Dies war für ihn Motivation, 1539 die Arbeit an seinem großen Lehrbuch zu beginnen. Seine Kenntnis von den gut 200 Knochen des menschlichen Körpers erwarb Vesalius schon als Student in Paris, wo er tagelang die Knochenhaufen auf dem „Friedhof der Unbekannten“ studierte. Sein erstes vollständiges Skelett spielte ihm 1536 der Zufall in die Hände. Über einen berüchtigten Räuber hatte man eine furchtbare Strafe verhängt: Er wurde über einem Feuer zu Tode gequält. Vögel pickten den Leichnam fast bis auf die Knochen ab, nur die Gelenkbänder und –kapseln hielten das Skelett noch zusammen. In diesem Zustand fand Vesalius die Leiche während eines Spaziergangs zum Richtplatz. Mithilfe eines Freundes schnitt er die Leiche vom Galgen und schaffte sie heimlich nach Hause.

Abb.2: Tafel 164 aus De corporis humani fabrica Die Knochen des menschlichen Körpers in der Seitenansicht

Der Buchdruck

Am 1. August 1542 hatte er das Manuskript fertiggestellt und brachte es zusammen mit den hölzernen Druckstöcken für die Zeichnungen zum Buchdrucker Johannes Oporinus nach Basel. Dort verbrachte er dann das folgende Jahr, um den Druck seines Werkes eigenhändig zu überwachen. 227 der originalen Holzschnitte sind übrigens heute noch erhalten. Ohne die Buchdruckerkunst, die Gutenberg weniger als hundert Jahre zuvor in Mainz begründet hatte, wäre das Lehrbuch des Vesalius nicht möglich gewesen.

Weiterführende Links

Biografieskizzen: Andreas Vesalius (1514-1564)

Der Tod als Lehrbuch

Die digitalisierte Version der “De corporis humani Fabrica” in der digitalen Bücherei der Universität Cambridge

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Veröffentlicht von

Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

10 Kommentare

  1. Vesal

    Danke für die Würdigung des Ahnherrn meines Faches, der Anatomie.

    Einiges möchte ich aber angemerken.

    Bonifazens des Achten Bulle “de sepultris” von 1299 richtet sich NICHT gegen Leichenöffnungen per se, ist also KEIN “Anatomieverbot” (wie immer wieder gerne behauptet wird), sondern richtet sich vielmehr gegen den (wohl bei den Kreuzfahrern aufgekommenen) Brauch, das Fleisch eines im heiligen Land zu Tode gekommenen Kreuzfahrers abzukochen, es vor Ort zu bestatten, und die Knochen in die Heimat zu schicken, damit auch die Daheimgebliebenen noch ein Reisesouvenir bekamen.

    Wenn im Mittelalter (wenig) seziert wurde, dann nicht aus Kirchenfurcht, sondern aus Desinteresse.

    Die Druckstöcke der Abbildungen aus Vesals de humani corporis fabrica (man sollte den Namen des Künstlers nicht unterschlagen: Stephan von Calcar, ein Schüler Tizians) tauchten in den 30er Jahren in München auf. Man produzierte eine letzte Auflage der Abbildungen aus der Fabrica mit den Originaldruckstöcken – die dann im zweiten Weltkrieg verbrannten.

    Es gibt einige wenige kolorierte Prachtausgaben der Original-Fabrica, dei Kaisern udn Königen geschenkt wurden. Meines Wissens gehören die zu den teuersten Büchern der Welt.

    In Basel, im anatomischen Museum der Universität, kann man ein Skelett besichtigen, das Vesal selbst während seiner Basler Zeit präpariert hat. Es ist das älteste explizit “anatomische” Präparat der Welt.

    Und – warum hast Du uns die melodramatische Schnurre von Vesals Bussfahrt ins heilige Land und seinem Tod unterschlagen?

  2. Ent’r’ung

    Vielen Dank für diese Würdigung von Vesalius. Sie freut mich um so mehr, als ich meine Ausbildung am Vesaliusinstitut für Osteopathie absolviert habe. Eine kleine Bitte habe ich aber: könntest Du seinen Namen ent’r’en?

  3. @ Bolt

    ..eieiei.

    Das “r” hatte ich glatt überlesen.

    Aber VESAL ist so wichtig – man sollte seinen Namen in VERSALIEN schreiben.

  4. @ Helmut Wicht

    Vielen Dank für deine ergänzenden Ausführungen. Wie erklärst Du Dir das damalige Desinteresse an der menschlichen Anatomie? Es waren ja bereits Tiere seziert worden. Waren die anatomisch soviel interessanter?

  5. @ Dramiga

    Billig wär’s, das “Desinteresse” des Mittelalters an der Anatomie mit der generellen “Jenseitsorientierung” seiner christlich dominierten Kultur zu erklären.

    Ich glaub’ das nicht so recht – die waren weltlichen Dingen sehr wohl zugewandt, liebten, hassten, und schlugen sich wie wir uns auch. Norbert Elias (Prozess der Zivilisation) versucht sogar zu zeigen, dass die ein viel “enstpannteres”, jedenfalls weniger schamdoniniertes Verhältnis zu ihren Körpern hatten als wir.

    Ein quasi-wissenschaftliches Argument gegen Sektionen, das schon von Celsus (antiker Medizinhistoriker)vorgetragen wurde, und das vielleicht nachwirkte, war die Annahme, dass der Tod den Körper so verändere, das man über den Lebenden durch Inspektion der Leichen nichts Relevantes erfahren könne.

  6. @Wicht: Norbert Elias

    Würden Sie Elias’ Prozeß der Zivilisation empfehlen? Ich lese gerade Steven Pinkers neuestes Buch, The Better Angels of Our Nature, und darin beruft er sich sehr auf Elias. (Merkwürdige Koinzidenz, daß Sie den auch gerade erwähnen.)

  7. @ Bolt

    Ich hab’ den Elias mit einiger Wonne gelesen – wiewohl ich freilich nicht weiss, ob sein “Ansatz” (er arbeitet mit gern mit literarischen Trouvaillen) noch “moderne” Soziologie ist.

    Lästig ist, dass er (für mich) imposante Kenntnisse der Sprachen voraussetzt, es gibt Passagen von lateinischen und französischen Zitaten, die mich einfach überforderten.

    Erfreulich ist sein deutscher Stil: er schreibt flüssig, lesbar, ohne jeden Soziologenjargon. Ein Literat…deutsche Hochsprache, manchmal musste ich an Thomas Mann denken.

  8. @Wicht

    Vielen Dank, ich werde mir das Buch besorgen. Interessante Gedanken mit Mannscher Sprachkunst vorgetragen, das klingt verlockend. Und da ich gerade von meinem französischen Weinhändler komme, fühle ich mich für die französischen Zitate auch gerüstet.

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