500 Jahre Utopia: Das Verhältnis zwischen Staat und Individuum

Vor 500 Jahren veröffentlichte der Londoner Thomas Morus sein Buch über den erfundenen Inselstaat Utopia. Ein Buch, das so prägend in der Staats- und Gesellschaftstheorie wurde, dass man fortan jeden Roman, in dem eine erfundene, positive Gesellschaft dargestellt wird, als Utopie bezeichnete. „Positiv“ aus der Sicht des Verfassers, der in Utopia seine Absicht wie folgt beschrieb:

Ich habe euch so wahrheitsgemäß wie möglich die Form dieses Staates beschrieben, den ich bestimmt nicht nur für den besten, sondern auch für den einzigen halte, der mit vollem Recht die Bezeichnung »Gemeinwesen« für sich beanspruchen darf. Wenn man nämlich anderswo von Gemeinwohl spricht, hat man überall nur sein persönliches Wohl im Auge; hier, in Utopien, dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, kümmert man sich ernstlich nur um das Interesse der Allgemeinheit, und beide Male geschieht es mit Fug und Recht

Utopia, Ambrosii Holbenii imago ligno incisa, 1518
Utopia, Ambrosii Holbenii imago ligno incisa, 1518

Mir allerdings hat Morus‘ Utopia nicht gefallen. Es ist kein Staat, indem ich leben möchte. Einiges erinnerte mich zu sehr an Colonia Dignidad. Dennoch würde ich aus einem anderen Grund jedem die Lektüre dieses Buch empfehlen: Morus setzt sich mit vielen Aspekten des Gemeinwesens auseinander, die heute noch sehr kontrovers und emotional diskutiert werden und mit denen in verschiedenen Staaten der Welt verschieden umgegangen wurde und wird. Er begründet vieles und beschreibt nicht nur wie etwas sein soll.

Genug der Vorrede – Zeit für einige Schmankerl

Heiraten in Utopia

Das Weib heiratet nicht vor dem 18., der Mann aber erst nach erfülltem 22. Lebensjahre. Wenn ein Mann oder ein Weib vor der Ehe geheimen Geschlechtsverkehrs überführt wird, so trifft ihn oder sie strenge Strafe, und beide dürfen überhaupt nicht heiraten, es sei denn, daß der Bürgermeister Gnade für Recht ergehen läßt. Aber auch der Hausvater und die Hausmutter, in deren Hause die Schandtat begangen wurde, sind in hohem Maße übler Nachrede ausgesetzt, da sie, wie man meint, ihre Pflicht nicht gewissenhaft genug erfüllt haben. Die Utopier ahnden dieses Vergehen deshalb so streng, weil sich, wie sie voraussehen, nur selten zwei Leute zu ehelicher Gemeinschaft vereinigen würden, wenn man den zügellosen Geschlechtsverkehr nicht energisch unterbände; denn in der Ehe muß man sein ganzes Leben mit nur einer Person zusammen verbringen und außerdem so mancherlei Beschwernis geduldig mit in Kauf nehmen.

Ferner beobachten sie bei der Auswahl der Ehegatten mit Ernst und Strenge einen Brauch, der uns jedoch höchst unschicklich und überaus lächerlich vorkam. Eine gesetzte, ehrbare Matrone zeigt nämlich dem Freier das Weib, sei es ein Mädchen oder eine Witwe, nackt; und ebenso zeigt anderseits ein sittsamer Mann den Freier nackt dem Mädchen. Diese Sitte fanden wir lächerlich, und wir tadelten sie als anstößig; die Utopier dagegen konnten sich nicht genug über die auffallende Torheit all der anderen Völker wundern. Wenn dort, so sagten sie, jemand ein Füllen kauft, wobei es sich nur um einige wenige Geldstücke handelt, ist er so vorsichtig, daß er sich trotz der fast völligen Nacktheit des Tieres nicht eher zum Kaufe entschließt, als bis der Sattel und alle Reitdecken abgenommen sind; denn unter diesen Hüllen könnte ja irgendeine schadhafte Stelle verborgen sein. Gilt es aber, eine Ehefrau auszuwählen, eine Angelegenheit, die Genuß oder Ekel fürs ganze Leben zur Folge hat, so geht man mit solcher Nachlässigkeit zu Werke, daß man das ganze Weib kaum nach einer Handbreit seines Körpers beurteilt. Man sieht sich nichts weiter als das Gesicht an – der übrige Körper ist ja von der Kleidung verhüllt –, und so bindet man sich an die Frau und setzt sich dabei der großen Gefahr aus, daß der Ehebund keinen rechten Halt hat, wenn später etwas Anstoß erregen sollte. Denn einerseits sind nicht alle Männer so klug, nur auf den Charakter zu sehen, anderseits aber ist auch in den Ehen kluger Männer Schönheit des Körpers eine nicht unwesentliche Zugabe zu den Vorzügen des Geistes. Auf jeden Fall aber können jene Kleiderhüllen eine Häßlichkeit verbergen, die so abstoßend wirkt, daß sie imstande ist, Herz und Sinn eines Mannes seiner Frau völlig zu entfremden, da eine körperliche Trennung nicht mehr möglich ist. Wenn nun solch ein häßliches Aussehen die Folge irgendeines Unglücksfalles erst nach der Heirat ist, so muß sich jedes in sein Schicksal fügen; dagegen ist durch gesetzliche Bestimmungen zu verhüten, daß jemand vor der Eheschließung einer Täuschung zum Opfer fällt.

Berufswahl in Utopia

Ein Gewerbe betreiben alle, Männer und Frauen ohne Unterschied: den Ackerbau, und auf ihn versteht sich jedermann. Von Jugend auf werden sie darin unterwiesen, zum Teil durch Unterricht in den Schulen, zum Teil auch auf den Feldern in der Nähe der Stadt, wohin man sie wie zu einem Spiele führt. Hier sehen sie der Arbeit nicht bloß zu, sondern üben sie auch aus und stärken bei dieser Gelegenheit zugleich ihre Körperkräfte.

Neben der Landwirtschaft, die, wie gesagt, alle betreiben, erlernt jeder noch irgendein Handwerk als seinen besonderen Beruf. Das ist in der Regel entweder die Tuchmacherei oder die Leineweberei oder das Maurer- oder das Zimmermanns- oder das Schmiedehandwerk. In keinem anderen Berufe nämlich ist dort eine nennenswerte Anzahl Menschen beschäftigt. Denn der Schnitt der Kleidung ist, abgesehen davon, daß sich die Geschlechter sowie die Ledigen und die Verheirateten in der Tracht voneinander unterscheiden, auf der ganzen Insel einheitlich und stets der gleiche in jedem Lebensalter, wohlgefällig fürs Auge, bequem für die Körperbewegung und vor allem für Kälte und Hitze berechnet. Diese Kleidung fertigt sich jede Familie selber an. Von den obenerwähnten anderen Gewerben aber erlernt jeder eins, und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Letztere jedoch, als die körperlich Schwächeren, üben nur die leichteren Gewerbe aus; in der Regel verarbeiten sie Wolle und Flachs; den Männern weist man die übrigen, mühsameren Beschäftigungen zu. Meistenteils erlernt jeder das väterliche Handwerk; denn dazu neigen die meisten von Natur. Hat aber jemand zu einem anderen Berufe Neigung, so nimmt ihn durch Adoption eine Familie auf, die dasjenige Gewerbe betreibt, zu dem er Lust hat. Dabei sorgen nicht nur sein Vater, sondern auch die Behörden dafür, daß er zu einem würdigen und ehrbaren Familienvater kommt. Ja, wenn jemand ein Handwerk gründlich erlernt hat und noch ein anderes dazu erlernen will, so ist ihm das auf demselben Wege möglich. Versteht er dann beide, so übt er aus, welches er will, es sei denn, daß die Stadt eins von beiden nötiger braucht.

Freizeit in Utopia

Über all die Zeit zwischen den Stunden der Arbeit, des Schlafes und des Essens darf ein jeder nach seinem Belieben verfügen, nicht etwa um sie durch Schwelgerei und Trägheit schlecht auszunützen, sondern um die arbeitsfreie Zeit nach Herzenslust auf irgendeine andere Beschäftigung nutzbringend zu verwenden. Die meisten treiben in diesen Pausen literarische Studien. Es herrscht nämlich der Brauch, täglich in den frühen Morgenstunden öffentliche Vorlesungen zu halten; zu ihrem Besuche sind diejenigen verpflichtet, die zu wissenschaftlicher Arbeit namentlich ausgewählt sind. Aus jedem Stande aber strömt eine gewaltige Menge Hörer, Männer wie Frauen, zu den Vorlesungen, die einen zu diesen, die anderen zu jenen, je nach ihren persönlichen Neigungen. Wenn jedoch einer auch diese Zeit lieber auf seine berufliche Tätigkeit verwenden will, was bei vielen der Fall ist, deren Geist sich nicht zur Höhe wissenschaftlicher Betrachtung erhebt, so hindert man ihn nicht daran; er erntet vielmehr sogar noch Lob, weil er sich dem Staate nützlich macht.

Religionsfreiheit in Utopia

Als er dann den Sieg errungen hatte, setzte er Religionsfreiheit für jedermann fest und bestimmte außerdem, wenn jemand auch andere zu seinem Glauben bekehren wolle, so dürfe er es nur in der Weise betreiben, daß er seine Ansicht ruhig und bescheiden auf Vernunftgründen aufbaue, die anderen aber nicht mit bitteren Worten zerpflücke. Gelinge es ihm nicht, durch Zureden zu überzeugen, so solle er keinerlei Gewalt anwenden und sich nicht zu Schimpfworten hinreißen lassen. Geht aber jemand in dieser Sache zu ungestüm vor, so bestrafen ihn die Utopier mit Verbannung oder Sklavendienst. Diese Bestimmung traf Utopus nicht bloß im Interesse des Friedens, den, wie er sah, beständiger Kampf und unversöhnlicher Haß von Grund aus zerstörten, sondern weil er der Ansicht war, damit sei auch der Religion gedient. Er wagte es auch nicht, über die Religion so ohne weiteres eine Entscheidung zu treffen, gleichsam in Ungewißheit darüber, ob Gott nicht doch einen mannigfaltigen und vielseitigen Kult haben wolle und deshalb die einzelnen auf verschiedene Weise inspiriere. Jedenfalls hielt er es für eine Anmaßung und Torheit, wenn jemand mit Gewalt und Drohungen verlangte, daß alle seine persönliche Ansicht über die Wahrheit teilten. Sollte aber wirklich nur einer Religion die meiste Wahrheit zukommen und sollten alle anderen wertlos sein, so würde sich dann schließlich einmal, das sah Utopus sicher voraus, die Macht der Wahrheit schon von selbst Bahn brechen und sich deutlich offenbaren, wenn man ihre Sache nur mit Vernunft und Mäßigung betreibe. Kämpfe man aber mit Waffen und Aufruhr um die Religion, so werde die beste und erhabenste zwischen den nichtigsten Wahnvorstellungen der Streitenden erstickt werden wie die Saaten zwischen Dornen und Gestrüpp, da gerade die schlechtesten Menschen am hartnäckigsten seien. Daher ließ Utopus diese ganze Frage unentschieden und stellte es einem jeden anheim, was er glauben wollte. Nur sollte niemand, das gebot er feierlich und streng, die Würde der menschlichen Natur so weit vergessen, daß er annehme, die Seele gehe zugleich mit dem Körper zugrunde oder im Laufe der Welt walte der blinde Zufall und nicht die göttliche Vorsehung.

Reisen in Utopia

Wer das Verlangen haben sollte, seine Freunde in einer anderen Stadt zu besuchen oder sich auch nur den Ort selbst anzusehen, erhält von seinem Syphogranten und Traniboren mit Leichtigkeit die Erlaubnis dazu, wenn er irgendwie abkömmlich ist. Man schickt dann eine gewisse Anzahl Urlauber zusammen ab und gibt ihnen ein Schreiben des Bürgermeisters mit, in dem die Reisegenehmigung bestätigt und der Tag der Rückkehr vorgeschrieben ist. Die Reisenden bekommen einen Wagen mit einem staatlichen Sklaven gestellt, der das Ochsengespann führen und besorgen muß; wenn sie aber nicht gerade Frauen bei sich haben, weisen sie den Wagen als lästig und hinderlich zurück. Obgleich sie auf der ganzen Reise nichts mit sich führen, fehlt es ihnen doch an nichts; sie sind ja überall zu Hause. Sollten sie sich irgendwo länger als einen Tag aufhalten, so übt jeder daselbst sein Gewerbe aus und wird von seinen Handwerksgenossen aufs freundlichste behandelt.

Wenn sich aber jemand außerhalb seines Wohnbezirks eigenmächtig herumtreiben und ohne amtlichen Urlaubsschein aufgegriffen werden sollte, so betrachtet man ihn als Ausreißer, bringt ihn mit Schimpf und Schande in die Stadt zurück und züchtigt ihn streng; im Wiederholungsfalle büßt er mit dem Verlust seiner Freiheit. Wenn aber jemanden die Lust anwandeln sollte, auf seinen heimatlichen Fluren spazierenzugehen, so hindert ihn niemand daran, vorausgesetzt, daß er die Erlaubnis seines Hausvaters und die Einwilligung seiner Frau hat. Wohin er aber auch aufs Land kommt, nirgends gibt man ihm etwas zu essen, ehe er nicht das dort vor dem Mittags- oder Abendessen übliche Arbeitspensum erledigt hat; unter dieser Bedingung kann er ganz nach Belieben innerhalb des Gebietes seiner Stadt spazierengehen. Wird er sich doch auf diese Weise der Stadt ebenso nützlich machen, als wenn er sich in ihr selber aufhielte.

Ihr seht schon, in Utopien gibt es nirgends eine Möglichkeit zum Müßiggang oder einen Vorwand zur Trägheit. Keine Weinschenken, keine Bierhäuser, nirgends ein Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Schlupfwinkel, keine Stätten der Liederlichkeit; jeder ist vielmehr den Blicken der Allgemeinheit ausgesetzt, die ihn entweder zur gewohnten Arbeit zwingt oder ihm nur ein ehrbares Vergnügen gestattet.

Steuerung der Bevölkerungsentwicklung in Utopia

Um aber eine zu starke Abnahme oder eine übermäßig große Zunahme der Bevölkerung zu verhindern, darf keine Familie, deren es in jeder Stadt – die in dem zugehörigen Landbezirk nicht mitgerechnet – 6000 gibt, weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene haben; die Zahl der Kinder kann man ja nicht im voraus festsetzen. Diese Bestimmung läßt sich mit Leichtigkeit aufrechterhalten, indem man die überzähligen Mitglieder der übergroßen Familien in zu kleine versetzt.

Sollte aber einmal eine ganze Stadt mehr Einwohner haben, als sie haben darf, so füllt man mit dem Überschuß die Einwohnerzahl geringer bevölkerter Städte des Landes auf. Wenn aber etwa die Menschenmasse der ganzen Insel mehr als billig anschwellen sollte, so bestimmt man aus jeder Stadt ohne Ausnahme Bürger, die auf dem nächstgelegenen Festlande überall da, wo viel überflüssiges Ackerland der Eingeborenen brachliegt, eine Kolonie nach ihren heimischen Gesetzen einrichten unter Hinzuziehung der Einwohner des Landes, falls sie mit ihnen zusammenleben wollen. Mit diesen zu gleicher Lebensweise und zu gleichen Sitten vereint, verwachsen sie dann leicht miteinander, und das ist für beide Völker von Vorteil. Sie erreichen es nämlich durch ihre Einrichtungen, daß ein Land, das vorher dem einen Volke zu klein und unergiebig erschien, jetzt für beide Völker mehr als genug hervorbringt. Diejenigen Eingeborenen aber, die es ablehnen, nach den Gesetzen der Kolonisten zu leben, vertreiben diese aus dem Gebiet, das sie selber für sich in Anspruch nehmen, und gegen die, die Widerstand leisten, greifen sie zu den Waffen. Denn das ist nach Ansicht der Utopier der gerechteste Kriegsgrund, wenn irgendein Volk die Nutznießung und den Besitz eines Stückes Land, das es selbst nicht nutzt, sondern gleichsam zwecklos und unbebaut in Besitz hat, anderen untersagt, denen es nach dem Willen der Natur ihren Lebensunterhalt liefern soll. Wenn aber einmal infolge eines Unglücksfalles die Einwohnerzahl einiger ihrer Städte so sehr sinken sollte, daß sie aus anderen Teilen der Insel unter Wahrung der Größe einer jeden Stadt nicht wieder ergänzt werden kann – wie es heißt, ist das seit Menschengedenken nur zweimal infolge einer heftig wütenden Seuche der Fall gewesen –, so läßt man die Bürger aus der Kolonie zurückkommen und füllt mit ihnen die Einwohnerzahl der Städte wieder auf. Die Utopier sehen es nämlich lieber, daß ihre Kolonien eingehen, als daß die Einwohnerzahl einer der Städte ihrer Insel zurückgeht.

Weiterführende Literatur

Thomas Morus Utopia

 

 

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Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

25 Kommentare

  1. Utopia als sich selbst kontrollierende Gesellschaft also, in der jede und jeder unter den Blicken aller lebt.

    jeder ist vielmehr den Blicken der Allgemeinheit ausgesetzt, die ihn entweder zur gewohnten Arbeit zwingt oder ihm nur ein ehrbares Vergnügen gestattet.

    Alle denken und leben gleich, alle denken ans Gemeinwohl.
    Heute, im Zeitalter der sozialen Medien – leben die meisten viel stärker unter den Blicken den anderer. Das allerdings freiwillig und gewollt, stellen sie sich doch selbst aus und wollen “geliked” werden. Es steht auch nicht das Allgemeininteresse im Vordergrund sondern das Eigen- und Gruppeninteresse. Insoweit als Utopie nur das Allgemeininteresse verfolgen will und kaum unterschiedlichen Gruppierungen (ausser was den religiösen Glauben angeht) vorsieht, ist es wohl im höchsten Grad unrealistisch und wird insoweit immer eine Utopie blieben.

  2. Sehr amüsant, danke für die Wieder-Erinnerung.
    Thomas Morus wird gelegentlich auch als Humanist eingestuft, sein Wirken entsprach aber eher einem Neubeginn des Denkens zur Zeit der (aus heutiger Sicht: außerordentlich wichtigen) Reformation, sein Utopia wäre in diesem Sinne als experimenteller politischer Beitrag zu verstehen und sein letztlich von Heinrich, dem Dreizehnten, erzwungenes Abdanken ist ebenfalls vglw. lustig.
    Aus heutiger Sicht könnte er vielleicht am besten als politisch zersetzende Kraft festgestellt werden, sich selbst nicht schonend -was ihn zwar ins Heiligtum (der Römischen Kirche) erheben konnte, eine diesbezügliche Fehlentscheidung könnte vorliegen-, aber nicht klar macht, was er angestrebt hat.

    Irgendwie war er womöglich prä-sozialistisch oder kollektivistisch unterwegs.
    Sein hauptsächlicher Verdienst könnte darin bestehen, dass er, einigen alten Griechen folgend, das Nachdenken über Gesellschaften reaktiviert hat, abär dies stand ja schon im WebLog-Artikel selbst.

    Zur Etymologie ganz am Rande webverwiesen:
    -> http://www.etymonline.com/index.php?term=utopia

    MFG
    Dr. Webbaer

    • “sein letztlich von Heinrich … erzwungenes Abdanken ist ebenfalls vglw. lustig.”

      Sie haben offenbar einen spezifischen Humor, Webbaer.

    • “zersetzend” ? Warum? Der König hat eine Kirchenspaltung betrieben, um seine Ehe zu scheiden, weil der Papst sie nicht scheiden wollte. Morus wollte nicht mitspielen, wollte sich lieber raushalten.

  3. Wenn T.Morus Utopia wirklich als Satire angelegt hat (wie in der Wikipedia vermutet), dann war er rückblickend gesehen recht hellsichtig, denn viele Errungenschaften dieser idealen Gesellschaft, die er beschreibt, wirken heute, im Rückblick auf das Utopien anstrebende 20. Jahrhundert (Faschismus, Kommunismus) eher bedrohlich als erstrebenswert. Tatsächlich gibt es einige Hinweise im Text, die Utopia in den Bereich der Satire verweisen, wie der Name “Possenreisser” für den Erzähler, der im Buch auftaucht.Es scheint, dass Thomas Morus mit Utopia eher eine Diskussion um bessere Staatsformen in Gang setzen wollte, als dass er an eine ideale Staatsform glaubte. Möglicherweise war sein Utopia nichts anderes als das Utopia der gebildeten Leute dazumal und damit so etwas wie ein Zeitgeistprodukt (wie wir das heute nennen würden).
    Utopia beschreibt eine statische Welt, ein Paradies der Glückseligen, in dem die Zeit stillgestanden ist. Damit passt Utopia nicht zur dynamischen, ins möglicherweise Bessere, jedoch Ungewisse führende Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert. Wenn Utopia der Grundstein für die Science-Fiction-Literatur war, dann jedenfalls nur in einem sehr generischen Sinne, denn die Utopien der Science-Fiction sind erst seit Beginn der industriellen Revolution denkbar. Diese SF-Utopien führen uns typischerweise in ganz neue, nur nach technischen Durchbrüchen überhaupt denkbare Welten während Thomas Morus Utopie eine reine Gesellschaftsutopie ist, die zwar eine andere Gesellschaft für die Zukunft entwirft, allerdings eine, die schon mit damaligen Mitteln realisierbar erschien.Wenn schon wurden statische Gesellschaftsmodelle wie in Utopia präsentiert, erst mit der Ökologiebewegung wieder möglich.

    • Früher wurde lange Zeit die Legende geübt, die nicht den Anspruch hatte zu berichten und auch nicht den Anspruch hatte nicht zu berichten, denn die “feine” Unterscheidung zwischen Berichterstattung und Legende wurde nicht geübt.
      Dass es etwas geben könnte, das wahr ist, also von Interessen unabhängig erfassbar, ist zwar schon ein Gedanke der “alten Griechen” gewesen, konnte aber nicht persistiert werden.
      Dies wurde insofern wieder-erfunden, im Rahmen der Aufklärung.

      More war gedankenexperimentell unterwegs und in Fiktion geübt, aber nicht in Science Fiction.

      More hat halt irgendetwas gesagt und geschrieben, das zeitweise konvenierte, am Schluss dann nicht und ist zeitgenössisch bearbeitet worden, von Heinrich, dem Achten.

      Seine Utopia mag eine politische Nachricht gewesen sein, seinerzeit, er wollte womöglich Bestimmtes anstoßen und bestimmter politischer Maßnahme vorbeugen oder entgegenwirken, aber er war sicherlich kein “cleveres Kerlchen” oder “pfiffig”, wie heute vielleicht gesagt worden wäre, sondern ein “Player” oder “Stakeholder”, der seinerzeit -auch im Rahmen der Reformation- irgendwie mitgemischt hat und sich bestimmte pers. positive Folgen erwartet hat.
      Dass er dann abgebissen hat, er war ja konsequent in seinem Gesamt-Vortrag, war dann sozusagen persönliches Pech.
      Auch bspw. Martin Luther hätte den Galgen erwischen können, bevor Nachbars Lumpi das nächste Mal mit dem Schwanz wackelt, der hat Glück gehabt.

      MFG
      Dr. Webbaer

      • “Dass es etwas geben könnte, das wahr ist, also von Interessen unabhängig erfassbar, ist zwar schon ein Gedanke der “alten Griechen” gewesen, konnte aber nicht persistiert werden.”

        Und was ist mit der Ideenlehre Platons?

        • @ Herr “Stefan” :

          Übertragen ist schon etwas, wurde aber nicht in seiner Relevanz von der Menge erkannt, nicht einmal: näherungsweise.
          Ansonsten wäre die Reverenz weiter oben auch nicht möglich gewesen.

          • PS:
            Oder, wenn Sie drauf bestehen, Herr “Stefan”: Klar, Sie haben recht.
            (Wobei Nachrichten aus dem Hause Webbaer, trotz gewisser Vereinfachungstendenzen nicht direkt blöde werden müssen, Old Webbaer ist ja traditionell nah am Volk oder an der Bevölkerung.)

    • Satire war und ist ein Stilmittel, um mit Humor Misstände zu kritisieren, einerseits, damit die bittere Pille besser geschluckt wird, andererseits, um einen “Haftungsausschluss” in die Kritik einzubauen: es war ja gar nicht ernst gemeint, es bezieht sich ja gar nicht auf die Personen oder Institutionen, die sich beschweren, war nur Unsinn, etc.

      Science-Fiction basierte auf dem Fortschrittsglauben (inzwischen auch auf Fortschrittspessimismus). Den gab es im 16. Jh. noch nicht.

      Witzig ist die Satire des Eldorado im Candid von Voltaire, eine Lektüre die ich nur sehr empfehlen kann. Candid landet zufällig in diesem reichen, glücklichen und absolut idealen Königreich, das wegen seine unzugänglichen Lage von der “Raubgier der europäischen Nationen verschont” geblieben ist, und zieht mit seinem Gefährten aus diesem Glück aus Langeweile und wegen Liebessehnsucht wieder fort: “wir lieben nun einmal den Wechsel, die Bewunderung unserer Landsleute, das Zurschaustellen unserer Reiseerlebnisse, …”.

      • FYI :
        “Satire” ist eine Erweiterung [1] der erlaubten Meinungsäußerung, je freier die Gesellschaftssysteme i.p. dieser sind, desto weniger wird sie benötigt.

        Ähnlich gilt es für die Freiheit der Kunst.

        Deutschland oder die BRD oder Doitschland, das Wesen des Kollektivistischen lastet, zumindest aus Sicht: einiger, auf diesem Land schwer, haben von ihm ausgehend nicht nur die beiden großen Kollektivismen des letzten Jahrhunderts stattfinden können, sondern sind auch implementiert worden.

        Wenn sich bspw. eine ehemalige SED-Kollaborateuerin, die gerne in der FDJ war, wie unwidersprochen zitiert werden darf, zu Aussagen wie “Der I gehört zu D” hinaufschwingt, liegt nur eine, aus Sicht einiger, Reminiszenz vor.

        MFG
        Dr. Webbaer

        [1]
        Sie wird dann manchmal rechtlich anders gehandhabt, als wenn sozusagen gewöhnliche Meinung vorläge: “Satire” ist ja auch kein Stilmittel, sondern Methode.
        Im übertragenden Sinne ist und adressiert “Satire” nichts anderes als das schlechte Gewissen in aufklärerischen Gesellschaftssystemen eben doch einigen an sich zulässige Meinung verwehrt zu haben.

        • PS:
          Dem Schreiber dieser Zeilen ist bereits kurz nach Absenden des obigen Kommentars klar geworden, streng genommen sogar beim Absenden des Kommentars, dass da einiges fehlte, was die Erläuterung betrifft.

          Dies insofern nachgetragen, vielen Dank, Joe, für die Toleranz:
          A) Deutschland hat ein (womöglich: anhaltendes) Problem mit der Freiheit der Meinungsäußerung, gerade in der BRD wird “Satire” und weitergehende Kunst kompensierend besonders benötigt.
          B) Frau Dr. Angela Dorothea Merkel, Naturwissenschaftlerin, ist dem Schreiber dieser Zeilen zuletzt extra-schlecht aufgefallen, weil sie an und für sich womöglich tolerierbare Rede, die insofern der sehr wichtigen Freiheit der Meinungsäußerung zuzurechnen wäre, per Kontakte zu Mark Zuckerberg und über Justizminister Heiko Maas hat bearbeiten lassen, Privatunternehmen mit politischem Druck angehend und mangels Gesetzgebung wohl: extralegal.

          MFG
          Dr. Webbaer (der sich bekanntlich nicht aufregen soll, zudem beim obigen Versand ein wenig abgelenkt war)

      • Lustig oder witzig liest sich Utopia – für mich jedenfalls – nicht. Meiner Meinung nach enthält sie recht wenige humoristische Elemente – jedenfalls für mich zuwenig um als Satire durchzugehen. Sie liest sich eher wie eine ernstgemeinte Kritik. Aber vielleicht bin ich der einzige, der so denkt.

        • Ich halte Morus Utopia ebenfalls nicht für eine Satire. Das Werk wurde seit seinem Bestehen immer wieder neu interpretiert und anscheinend können sich heutzutage manche Menschen kaum mehr vorstellen, dass es in manchen Teilen der Welt immer noch schwierige und ungerechte soziale Verhältnisse gibt.

  4. Sehr schöne Zusammenstellung, danke, Joe!

    Besonders interessant fand ich die Ausführungen zur Religionsfreiheit – gerade auch vor dem Hintergrund der konfessionellen Kämpfe der Zeit und schließlich auch von Morus’ eigenem Schicksal…

    Der Autor wurde ja m.W. später heiliggesprochen, ob es einen starken Einfluss der Utopia auf christliche Theologien gab, wäre eine spannende Forschungsfrage… 🙂

  5. Morus Utopia soll keinen wirklichen Staat beschreiben, das zeigt schon der Begriff “Utopie”, der sich aus den griechischen Worten ou und topos zusammensetzt, was so viel wie “kein Ort” oder auch “nirgendwo” bedeutet. Morus wollte nach dem Vorbild von Platons Politeia ein politisches Modell verfassen, welches die bestehenden Verhältnisse kritisieren soll. Sein Hauptanliegen war dabei die Frage, ob es möglich sei, dass das Gemeinwesen Vorrang vor dem Privateigentum haben könnte. Eine solche Veränderung der sozialen Verhältnisse setzt natürlich auch eine Veränderung des Denkens und der Moral voraus, dahingehend, dass nicht mehr die individuelle Moral das Gemeinwesen bestimmt, sondern eine, die sich an einem übergeordneten und gerechten Gemeinwesen orientiert. In einer Staatsordnung, in der jedem Menschen Gerechtigkeit widerfährt, braucht es keine religiöse Tugendlehre mehr. Religion wird daher als etwas Privates betrachtet. Was aber nicht heißen soll, dass es in der Geschichte keine Wechselwirkungen zwischen Theologie und Politik gab. Joseph Ratzinger hat beispielsweise einige Publikationen darüber verfasst.
    http://ivv7srv15.uni-muenster.de/mnkg/pfnuer/WAM-Einfuehrung-Twomey.html

    • Morus schreibt in Utopia: “Wenn ich daher alle diese Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, prüfend an meinem Geiste vorbeiziehen lasse, so finde ich – so wahr mir Gott helfe! – nichts anderes als eine Art von Verschwörung der Reichen, die im Namen und unter dem Rechtstitel des Staates für ihren eigenen Vorteil sorgen. Alle möglichen Schliche und Kniffe ersinnen und erdenken sie, um zunächst einmal das, was sie durch üble Machenschaften zusammengerafft haben, ohne Furcht vor Verlust zusammenzuhalten, dann aber alle Mühe und Arbeit der Armen so billig wie möglich zu erkaufen und ausnützen zu können. Sobald die Reichen erst einmal im Namen der Allgemeinheit, das heißt also auch der Armen, den Beschluss gefasst haben, diese Methoden anzuwenden, so erhalten sie auch schon Gesetzeskraft.”

      Was er hier kritisiert, wird 500 Jahre später immer noch kritisiert.

      • Da ist eigentlich schon alles drin, was Kollektivisten heutzutage brauchen könnten:
        A) Gott (wird nicht in jedem Kollektivismus benötigt, ist aber sozusagen höllisch kollektivismus-tauglich, auch als Abgott)
        B) der sogenannte Kapitalismus
        C) die anzunehmenderweise Bösartigkeit Reicher und ihrer Machenschaften

        Aus prä-aufklärerischer Sicht ja auch nicht blöde angemerkt, Niccolò Machiavelli hat’s aus seinerzeit herrschender Sicht nicht viel anders formuliert, seinerzeit Herrschenden aber eher beispringend.


        Auch aufklärerische Gesellschaftssysteme, also diejenigen, die dem philosophischen Individualismus folgend, Sapere Aude und so, sozusagen die “Schwarmintelligenz” zu lösen vermochten und letztlich hoch komplexe Geselllschaftssysteme anleiteten, die dann auch funktioniert haben, [1]
        …hatten sich immer dem Hordengedanken zu stellen, der die Menge eben als Horde darstellt, als wilde Horde, von der erst einmal nichts, auch weil unzureichend alphabetisiert und unzureichend gebildet, zu stellen, Besonderes erwartet werden darf, wie viele meinten.

        Der Hordengedanke hat auch heutzutage noch berücksichtigt zu werden, es ist ja geradezu ein Wunder, dass die individualistisch grundierte Philosophie in gesellschaftlich implementierter Form funktioniert.

        Ansonsten müsste es schlicht so sein, dass nicht nur Reiche von der Loslösung der “Schwarmintelligenz” der Menge profitieren, davon gibt es naturgemäß nicht so-o viele, sondern gerade auch Vermögende.
        ‘Vermögende’ meinen an dieser Stelle nicht primär Reiche, sondern Leutz wie “Du und ich”, Sie selbst beispielsweise, Joe [2], sind (leicht) erkennbar vermögend. [3]

        MFG
        Dr. Webbaer (der natürlich im Abgang noch anzugeben hat, dass hier ein weites Feld berührt ist, hier noch deutlich ausgebaut werden kann)

        [1]
        Nicht nur rein spaßeshalber angemerkt kann sich der Schreiber dieser Zeilen als seinerzeit Herrschender und Aristokrat vorstellen, der dies nie für möglich gehalten hätte.

        [2]
        Die Anrede soll jetzt nicht allzu kumpelhaft klingen.

        [3]
        Vielleicht gar: besonders monetär.

      • Zitat: Was T.Morus kritisiert hat [die Verschwörung der Reichen gegen das Volk im Namen des Volkes] wird 500 Jahre später immer noch kritisiert.
        Tomas Morus als Vordenker von Occupy “We are the 99 percent” also? Sind die Verhältnisse noch die gleichen wie vor 500 Jahren und passt die Bildunterschrift unter dem deutschen Wikipedia-Eintrag dazu

        Demonstrant mit Schild: „Ich bin Student mit 25.000 $ Schulden in Studiendarlehen. Ich bin die 99 %“.

        Nein, die Verhältnisse sind nicht mehr die gleichen wie vor 500 Jahren, selbst wenn heute in den USA 1% der Reichsten 38% des US-Vermögens besitzen. Absolut gesehen sind die Verhältnisse sowieso nicht mehr die gleichen, denn vor 500 Jahren gab es in England viele absolut Arme, Menschen, die nicht einmal genug zu Essen hatten, Menschen in Leibeigenschaft und ohne irgendwelche Rechte.

        Etwas aber hat sich in diesen 500 Jahren nicht geändert. Unser Unrechtsbewusstsein, unser Gerechtigkeitsgefühl. Unrecht ist, wenn ich weniger bekomme als der Andere. Diese Ansicht teilen alle Menschen, sogar und gerade auch die Reichen (sie vergleichen sich aber mit anderen Reichen). Diese Reichen kümmerten sich in Thomas Morus Zeiten zwar vor allem um sich selbst [und heute?], es war ihnen aber wichtig ihre Entscheidungen als Entscheidungen und Methoden als Entscheidungen der Allgemeinheit erscheinen zu lassen [ und heute?]. Es stimmt :Was er hier kritisiert, wird 500 Jahre später immer noch kritisiert. Doch es bedeutet nur bedingt, dass die Verhältnisse immer noch dieselben sind wie vor 500 Jahren. Vielmehr sind die Wahrnehmungen was Gerechtigkeitsfragen angeht immer noch dieselbe wie vor 500 Jahren. In wichtigen Haltungen zeigen Menschen über Jahrhunderte hinweg eine fast unheimliche Konstanz. Jede Gesellschaft, die das Glück möglichst Vieler will, muss diesen archetypischen Haltungen und Einstellung Rechnung tragen. Doch es besteht auch die Gefahr, dass im Namen von Zielen wie Gleichheit und Gerechtigkeit andere nativ verankerten Werte wie Freiheit und Unabhängigkeit zu kurz kommen.

  6. @Alle Auch interessant was Morus zur Todesstrafe schreibt:

    “Als ich eines Tages an seiner Tafel saß, wollte es der Zufall, daß einer von euren Laienjuristen zugegen war. Dieser begann – ich weiß nicht, wie er darauf kam –, eifrig jene strenge Justiz zu loben, die man damals in England Dieben gegenüber übte. Wie er erzählte, wurden allenthalben bisweilen zwanzig an einem Galgen aufgehängt. Da nur sehr wenige der Todesstrafe entgingen, wundere er sich, so meinte er, um so mehr, welch widriges Geschick daran schuld sei, daß sich trotzdem noch überall so viele herumtrieben. Da sagte ich – vor dem Kardinal wagte ich es nämlich, offen meine Meinung zu äußern –: »Da brauchst du dich gar nicht zu wundern; denn diese Bestrafung der Diebe geht über das, was gerecht ist, hinaus und liegt nicht im Interesse des Staates.

    Als Sühne für Diebstähle ist die Todesstrafe nämlich zu grausam, und, um vom Stehlen abzuschrecken, ist sie trotzdem unzureichend. Denn einerseits ist einfacher Diebstahl doch kein so schlimmes Verbrechen, daß es mit dem Tode gebüßt werden müßte, anderseits aber gibt es keine so harte Strafe, diejenigen von Räubereien abzuhalten, die kein anderes Gewerbe haben, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Wie mir daher scheint, folgt ihr in dieser Sache – wie ein guter Teil der Menschheit übrigens auch – dem Beispiel der schlechten Lehrer, die ihre Schüler lieber prügeln als belehren. So verhängt man harte und entsetzliche Strafen über Diebe, während man viel eher dafür hätte sorgen sollen, daß sie ihren Unterhalt haben, damit sich niemand der grausigen Notwendigkeit ausgesetzt sieht, erst zu stehlen und dann zu sterben.«

    »Dafür ist ja doch zur Genüge gesorgt«, erwiderte er. »Wir haben ja das Handwerk und den Ackerbau. Beides würde sie ernähren, wenn sie nicht aus freien Stücken lieber Gauner sein wollten.«

    »Halt, so entschlüpfst du mir nicht!« antwortete ich. »Zunächst wollen wir nicht von denen reden, die, wie es häufig vorkommt, aus inneren oder auswärtigen Kriegen als Krüppel heimkehren wie vor einer Reihe von Jahren aus der Schlacht gegen die Cornwaller und unlängst aus dem Kriege mit Frankreich. Für den Staat oder für den König opfern sie ihre gesunden Glieder und sind nun zu gebrechlich, um ihren alten Beruf wieder auszuüben, und zu alt, um sich für einen neuen auszubilden. Diese Leute wollen wir also, wie gesagt, beiseite lassen, da es nur von Zeit zu Zeit zu einem Kriege kommt, und betrachten wir nur das, was tagtäglich geschieht!”

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    “»Ich bin durchaus der Ansicht, gütiger Vater«, erwiderte ich, »daß es ganz ungerecht ist, einem Menschen das Leben zu nehmen, weil er Geld gestohlen hat; denn auch sämtliche Glücksgüter können meiner Meinung nach ein Menschenleben nicht aufwiegen. Wollte man nun aber sagen, diese Strafe solle die Rechtsverletzung oder die Übertretung der Gesetze, nicht das gestohlene Geld aufwiegen, müßte man dann nicht erst recht jenes strengste Recht als größtes Unrecht bezeichnen? Denn weder darf man Gesetze nach Art eines Manlius billigen, so daß bei einer Gehorsamsverweigerung auch in den leichtesten Fällen sofort das Schwert zum Todesstreiche gezückt wird, noch so stoische Grundsätze, daß man die Vergehen alle als gleich beurteilt und der Ansicht ist, es sei kein Unterschied, ob einer einen Menschen tötet oder ihm nur Geld raubt, Vergehen, zwischen denen überhaupt keine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft besteht, wenn Recht und Billigkeit überhaupt noch etwas gelten. Gott hat es verboten, jemanden zu töten, und wir töten so leichten Herzens um eines gestohlenen Sümmchens willen? Sollte es aber jemand so auffassen wollen, als ob jenes göttliche Gebot die Tötung eines Menschen nur insoweit verbiete, als sie nicht ein menschliches Gesetz gebietet, was steht dann dem im Wege, daß die Menschen auf dieselbe Weise unter sich festsetzen, inwieweit Unzucht zu dulden sei und Ehebruch und Meineid? Gott hat einem jeden die Verfügung nicht nur über ein fremdes, sondern sogar über das eigene Leben genommen; wenn aber menschliches Übereinkommen, sich unter gewissen Voraussetzungen gegenseitig töten zu dürfen, so viel gelten soll, daß es seine dienstbaren Geister von den Bindungen jenes Gebotes befreit und diese dann ohne jede göttliche Strafe Menschen ums Leben bringen dürfen, die Menschensatzung zu töten befiehlt, bleibt dann nicht jenes Gottesgebot nur insoweit in Geltung, als Menschenrecht es erlaubt? Und so wird es in der Tat dahin kommen, daß auf dieselbe Weise die Menschen festsetzen, inwieweit Gottes Gebote beachtet werden sollen! Und schließlich hat sogar das mosaische Gesetz, obwohl erbarmungslos und hart, da es für Sklavenseelen, und zwar für verstockte, erlassen war, den Diebstahl trotzdem nur mit Geld und nicht mit dem Tode bestraft. Wir wollen doch nicht glauben, daß Gott mit dem neuen Gesetz der Gnade, durch das er als Vater seinen Kindern gebietet, uns größere Freiheit gewährt hat, gegeneinander zu wüten!

    Das sind die Gründe, die ich gegen die Todesstrafe vorzubringen habe. In welchem Grade aber widersinnig und sogar verderblich für den Staat eine gleichmäßige Bestrafung des Diebes und des Mörders ist, das weiß, meine ich, jeder. Wenn nämlich der Räuber sieht, daß einem, der wegen bloßen Diebstahls verurteilt ist, keine geringere Strafe droht, als wenn der Betreffende außerdem noch des Mordes überführt wird, so veranlaßt ihn schon diese eine Überlegung zur Ermordung desjenigen, den er andernfalls nur beraubt hätte. Denn abgesehen davon, daß für einen, der ertappt wird, die Gefahr nicht größer ist, gewährt ihm der Mord sogar noch größere Sicherheit und mehr Aussicht, daß die Tat unentdeckt bleibt, da ja der, der sie anzeigen könnte, beseitigt ist. Während wir uns also bemühen, den Dieben durch allzu große Strenge Schrecken einzujagen, spornen wir sie dazu an, gute Menschen umzubringen.”

    • Wenn nämlich der Räuber sieht, daß einem, der wegen bloßen Diebstahls verurteilt ist, keine geringere Strafe droht, als wenn der Betreffende außerdem noch des Mordes überführt wird, so veranlaßt ihn schon diese eine Überlegung zur Ermordung desjenigen, den er andernfalls nur beraubt hätte.

      Dies ist womöglich, von anderen allgemein-sittlichen Überlegungen abgesehen, das beste Argument für eine stufenweise Regelung des Strafmaßes, insbesondere auch die Höchststrafe für viele Delikte ausschließend oder gänzlich ausschließend.

      Es sollte nicht sein, dass Delinquenten, weil sie sozusagen nichts mehr zu verlieren haben, zu weiteren Straftaten, die schwerwiegender sind als das zuvor begangene Delikt, quasi angestiftet werden.

      Genagt werden könnte en dé­tail beim überlieferten und dankenswertweise wiedergegeben Text bspw. an dieser Aussage – ‘Gott hat es verboten, jemanden zu töten’ -, die einer falschen Interpretation oder Übersetzung (Martin Luther?) des biblischen “Du sollst nicht morden!” entspricht, allerdings muss dies nicht weiter stören, Thomas Morus war eben ein politischer “Player” seinerzeit.


      Wobei man, schwupp, in der Neuzeit wären, Soldaten morden ja nicht, auch polizeiliche Einsatzkräfte nicht, auch sich selbst Verteidigende nicht, sondern töten in ganz besonderen Fällen oder, bei Soldaten, dezimieren den Feind.
      Auch dem Henker oder Scharfrichter kann schlecht ein Mord unterstellt werden.

      Der Schreiber dieser Zeilen, der ein prinzipieller Gegner der Todesstrafe ist, merkt aber an, dass bspw. die Todesstrafe in den Staaten, die bspw. bei Pferde- oder Viehdiebstahl zur Anwendung gelangte, Sinn zu machen scheint, wenn das Rechtssystem unzureichend ausgebildet ist, (noch) keine notwendige Macht des Rechtsstaat vorliegt und ansonsten das Zusammenleben stark gefährdet wäre; die Staaten sind ein großes Land.
      Ähnlich gilt es bspw. für die verhängten Höchststrafen im Rahmen der Nürnberger Prozesse, wenn davon ausgegangen werden muss, dass angeklagte Schwerverbrecher aus der Inhaftierung heraus weiterhin Agitation betreiben und gar Befreiungsversuche (die Menschenleben kosten) zu erwarten wären.

      MFG
      Dr. Webbaer (der hier hoffentlich passend geschrieben hat und auch keinen Unmut hervorrufen möchte)

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