Hyperactive Agency Detection Device (HADD) und Natürliche Selektion
BLOG: Die Sankore Schriften
Mein Blognachbar Michael Blume von Natur des Glaubens wird des Öfteren wegen seiner Studienergebnisse zur Religiosität und Kinderzahl, persönlich und fachlich angegriffen. Fazit seiner Forschungsarbeiten: Religiöse haben im Durchschnitt mehr Kinder als Nichtreligiöse. Viele Blogleser stellen dann die Frage: Kommt dieser Unterschied im Fortpflanzungserfolg durch natürliche (gerichtete) Selektion zustande?
Voraussetzungen für Natürliche Selektion
Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Voraussetzungen für natürliche Selektion kennen. Für natürliche Selektion müssen drei Bedingungen gegeben sein:
1. Variation eines Merkmals
2. Erblichkeit dieses Merkmals
3. Der unterschiedliche Fortpflanzungserfolg von Individuen einer Population muss in einem kausalen Zusammenhang mit einer unterschiedlichen Ausprägung dieses Merkmal stehen.
Schauen wir uns also der Reihe nach an ob diese Bedingungen bei den Studien zu Religiosität und Kinderzahl erfüllt werden.
1. Variation eines Merkmals
Das Merkmal wäre für mich nicht Religiosität. Religiosität ist für mich nur eine Ausprägung des Merkmals Hyperactive Agency Detection Device (HADD). Genauso wenig wie “klein” ein Merkmal, sondern nur eine Ausprägung des kontinuierlichen physischen Merkmals Körpergröße ist.
stark ausgeprägtes HADD: Religiosität
mittel ausgeprägtes HADD: Agnostizismus
schwach ausgeprägtes HADD: Atheismus
Variation eines Merkmals: Ja
Problem 1a: Handelt es sich hier um ein kategorisches oder ein kontinuierliches Merkmal?
Ich tendiere zu einem kontinuierlichen Merkmal. Man kann sich allerdings auch auf den Standpunkt stellen: Entweder man ist religiös, agnostisch oder atheistisch. Es gibt keine Übergänge.
Problem 1b: Wie erfassen wir dieses Merkmal für eine Klassifizierung quantitativ?
Die Anzahl der regelmäßigen Gottesdienstbesuche in einem bestimmten Zeitraum z.B. Monat kann es nicht sein. Ich denke eine Erhebung mittels standardisierten
Multiple Choice-Fragenbogen plus Selbstauskunft sind da geeigneter. Die Auswertung könnte über ein Punktesystem erfolgen. Anschliessend kann man mit einer multivariaten Clusteranalyse auf der Basis der gemessenen Indikatoren eine Typologie der Befragten erstellen, die die drei HADD-Typen umfasst.
HADD schafft eine spezifische, perspektivische Wirklichkeitswahrnehmung. Dieser Vorgang lässt sich vergleichen mit der Wirkung eines Messinstruments oder Werkzeugs, Messinstruments einerseits dem Benutzer erst bestimmte Wahrnehmungen oder Handlungen ermöglicht, andererseits wiederum diese durch die ihm innewohnenden Grenzen determiniert. So ermöglicht z.B. die religiöse Interpretation von Schicksalsschlägen einerseits die Akzeptanz unabweisbarer Realitätserfahrung, andererseits kann durch die darin stattfindenden Kausalzuweisungen eine angemessene Realitätsbewältigung blockiert werden.
Problem 1c: HADD ist ein Konzept der evolutionären Psychologie.
Evolutionäre Psychologie ist umstritten und es wird gesagt, dass ihre Konzepte häufig nicht mehr als plausibel klingende Geschichten seien, die sich nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung bestätigen oder widerlegen ließen. Zudem stehen insbesondere populärwissenschaftliche Erörterungen des Themas häufig in der Kritik: So würden etwa Unterschiede im geschlechtsspezifischen Verhalten reduktionistisch auf angeborene, biologische Merkmale zurückgeführt
Methodische Lösungsansätze: Entwicklungspsychologische Experimente mit Kindern zur Theorie auf Mind (TOM)
2. Erblichkeit dieses Merkmals
Ist HADD erblich? Ja
Problem 2a: Kulturelle und/oder biologische Vererbung?
Problem 2b: Biologische Erblichkeit wird vermutlich durch kulturelle Traditionen stark maskiert.
Methodische Lösungsansätze: Unethisches Kaspar-Hauser-Experiment, Zwillingsstudien
Wie ist der biologische Erbgang?
Denkbar ist eine polygene Vererbung wie beim körperlichen Merkmal Hautfarbe. Diese Gene sind polymorph – enthalten also mehr als ein Allel. Die Allele für Religiosität sind dominant. Diesem Konzept liegt, die Annahme zugrunde, dass der größte Teil der natürlich auftretenden Variation bei Menschen, Tieren und auch in Pflanzen durch geringe genetische Änderungen in einer großen Zahl von Genen, den so genannten Quantitative Trait Loci (QTL), verursacht wird. Mit einer Kombination von kopplungsbasierter QTL-Kartierung und Assoziationskartierung kann man versuchen diese Gene und ihre Allele zu identifizieren. Allerdings sind diese Verfahren statistisch sehr anspruchsvoll und langwierig.
Der Begriff kopplungsbasierte QTL-Kartierung fasst alle diejenigen Untersuchungen zusammen, die darauf abzielen, einzelne QTL zu identifizieren, deren Einfluss auf das Merkmal zu quantifizieren und ihre Position im Genom zu bestimmen. Die Assoziationskartierung nutzt keine spaltenden, sondern natürliche Populationen oder Kollektionen von Individuen. Die Assoziationskartierung erlaubt eine sehr viel höhere Auflösung sowie den Vergleich einer sehr viel höheren Anzahl von Allelen.
Problem 2c bei kontinuierlichem Merkmal: Variable Expressivität
Als Expressivität bezeichnet man in der Genetik die individuell unterschiedlich starke Ausprägung eines phänotypischen Merkmals bei identischem Genotyp. Ist diese Ausprägung trotz identischem Genotyp verschieden, spricht man von einer variablen Expressivität. Eine variable Expressivität kann beispielsweise durch Umwelteinflüsse während und nach der Embryonalentwicklung verursacht werden.
Problem 2d bei kategorischem Merkmal: Unvollständige Penetranz
Als Penetranz bezeichnet man in der Genetik die prozentuale Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter Genotyp den ihm zugehörigen Phänotyp ausbildet. Eine vollständige Penetranz liegt vor, wenn der Genotyp in allen Fällen zur Ausprägung des zugehörigen Merkmals führt. Bei einer unvollständigen Penetranz wird das Merkmal nicht in jedem Fall ausgeprägt. Der Gründe dafür können zum Beispiel kompensierende Gene oder auch Umwelteinflüsse sein.
Methodische Lösungsansätze: Computersimulationen zu den verschiedenen Modellen mit ihren unterschiedlichen Annahmen und Vergleich mit empirischen Daten.
3. Unterschiedlicher Fortpflanzungserfolg innerhalb einer Population
Findet man innerhalb einer Population bei Individuen mit unterschiedlicher Ausprägung des HADD Unterschiede im Fortpflanzungserfolg? Ja
Besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen unterschiedlichem Fortpflanzungserfolg und unterschiedlicher Ausprägung des HADD?
Ein kausaler Zusammenhang lässt sich nicht ausschließen. Michael Blume und seine Forscherkollegen geben verschiedene Indizien für einen indirekten kausalen Zusammenhang an.
Problem 3: Emergenz
HADD ist schwer zu trennen von Vorschriften, Geboten und Werten, die kulturell weitergegeben werden -> Coevolution von Genen und Kultur, später künstliche Selektion
Wegmarken
Ich habe hier mal grob und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Probleme und deren partielle Lösungsansätze skizziert. Fest steht, dass für Fortschritte bei diesem spannendem aber sehr schwierigem Thema eine interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig ist. Leider habe ich bei den Kommentaren auf Michaels Blog gesehen, dass bei den Diskussionen zur Beantwortung dieser Frage viel aneinander vorbei geredet und einiges aus dem Kontext gerissen wird. Mein Anliegen ist es, mit der Verortung der Probleme, ein wenig Struktur in die ganze Diskussion zu bringen.
Weiterführende Literatur
Cognitive and neural foundations of religious belief
Charles Darwin II: Die „natürliche Selektion“ als Motor der Evolution
The Making of the Fittest: Got Lactase? The Co-evolution of Genes and Culture
Vielen Dank, Herr Dr. Dramiga, Ihr Kommentatorenfreund hat – auf die Schnelle und teilweise bereits vorab derartiges gescannt: -> http://en.wikipedia.org/wiki/Agent_detection (vgl. ‘HADD’) – und hier fällt es den Biologen folgend wohl unmöglich im Sinne einer anderswo vorgetragenen Theoretisierung zu folgen, gell?
Es macht ja auch intuitiv keinen Sinn, dass sich das biologische Erbgut umbaut, wenn auf einen kurzen Zeitraum bezogen und kulturellen oder politischen Moden folgend dieses oder jenes ändert. Man wäre hier womöglich sogar schnell biologistisch [1] am Start, wenn diesbezüglich angenommen wird.
Andererseits, um jene Kraft einmal ausdrücklich zu verteidigen, könnte es schon so sein, dass die kurzfristige Selektion, einige Generationen meinend, auch die jetzigen zivilisatorischen Befugnisse, dass sich hier etwas deutlich ändert.
Dass -die Antikonzeption lässt grüßen- es erlaubt ist (wissenschaftlich) anzunehmen, dass sich bestimmte Kräfte (“Menschen”), die dem allgemein üblichen Kooperationsverhalten nicht zugeneigt sind, die in früheren Zeiten eher unbewusst oder nebenbei Elternteil geworden ist, nun schlagartig aus der Evolution oder aus dem allgemeinen Gerühre verabschieden, könnte sein, oder? [2]
MFG
Dr. W
[1] so schlimm sind “biologistische” Argumentationen eigentlich gar nicht, wenn sie sachnah ausfallen
[2] Es könnte dem Biologen hier schwer fallen zu antworten, denn es liegt mit der modernen Primaten-Zivilisation und den modernen Medien (gemeint immer: das Internet) etwas vor, das biologisch oder allgemein gesellschaftlich ohne Vorgänger ist
Zitat:
“Mein Anliegen ist es, mit der Verortung der Probleme, ein wenig Struktur in die ganze Diskussion zu bringen.”
ist soweit gelungen – soweit die Kürze es zulässt.
Wie aber wäre denn die Übersetzung ins Deutsche von HADD? (Ich mag zwar einzelne Wörter selbst übersetzen können, aber nicht die Intention und Wendung des Konstrukts)
Per Google [HADD & Horny Antelopes] finden Sie HADD gut erklärt – allerdings in Englisch
Wie wäre es mit “überaktiver Handlungsträger-Erkennungsdetektor”?
Joe Dramiga schrieb (2. Oktober 2014):
> in Biologie, Psychologie […]
> Genauso wenig wie “klein” ein Merkmal, sondern nur eine Ausprägung des kontinuierlichen physischen Merkmals Körpergröße ist.
Ah, gut, endlich mal eine stimmige Erklärung dafür, wie man in Biologie, Psychologie das nennt und begrifflich trennt, was anderswo/allgemeiner als “(Mess-)Wert” gegenüber “Wertebereich (eines Messoperators)” angesprochen und unterschieden würde.
> eine Ausprägung des Merkmals Hyperactive Agency Detection Device (HADD). […]
> stark ausgeprägtes HADD […]
> mittel ausgeprägtes HADD […]
> schwach ausgeprägtes HADD […]
Bezeichnet der Terminus “Hyperactive” denn nicht an sich eine Ausprägung; bzw. einen (bestimmten) Grad der Ausprägung; insbesondere in Abgrenzung zu “hypoactive” oder “normal”?
Sollte man z.B. “ schwach ausgeprägtes HADD ” von “stark ausgeprägter Agency-Detection-Unterfunktion” unterscheiden, oder nicht?
@ Wappler :
Es ist korrekt oder müsste korrekt sein, dass es sich hier:
-> http://en.wikipedia.org/wiki/Agent_detection
.. um eine Merkmalsausprägung handelt, die Religiösität oder Spiritualität kapselt und womöglich biologisch erfahrbar macht, “HADD” müsste hier ansonsten das Unfalsifizierbare gemeint haben oder das Geckenhafte.
Besondere Abnehmerzufriedenheit muss so in gepflegtem Kreise, die persönliche Abnehmerzufriedenheit betreffend wohl nicht umfänglich erreicht werden, korrekt.
MFG
Dr. W (der aber dem hiesigen Inhaltemeister gerne das Vertrauen ausspricht, unabhängig von den kleinen Gags weiter oben)
Ich vermute, der Namensgeber (Justin L. Barrett) argumentiert aus einer naturalistischen Perspektive (oder setzt sie als Norm) und nimmt es als gegeben bisher unerklärbare empirische Phänomene erstmal nicht auf das Wirken von überempirischen Akteuren zurückzuführen. Also im Sinne von Ockhams Rasiermesser.
Hallo Joe,
vielen Dank für Deine Solidarität!
Die Negativ-Kommentare machen mir eigentlich schon lange nichts mehr aus, zumal sie sich immer wieder nach erfreulichen Entwicklungen (wie der Quarks & Co-Sendung zum Glauben oder dem n-tv-Interview) häufen. Viele Menschen sind halt nicht so erkenntnisoffen, wie sie sich selbst gerne sehen und präsentieren würden.
Was HADD angeht, so stimme ich Dir weitgehend zu. Schon in “Homo religiosus” spielte das Thema ja eine große Rolle.
http://www.spektrum.de/alias/religiositaet/homo-religiosus/982255
In der Evolutionsforschung zu Religiosität sind HADD und TOM als wesentliche Bausteine von Religiosität (nicht jedoch von Spiritualität & Magischem Denken) weitgehend akzeptiert, vgl. zum Beispiel Jesse Bering “Die Erfindung Gottes”.
http://www.spektrum.de/rezension/die-evolution-gottes/1133318
Und für die Vererbung ergaben sich in inzwischen zahlreichen Zwillingsstudien klare Belege – und mit dem empirisch belegten, durchschnittlich höheren Reproduktionserfolg ist das sogar auch schon in Simulationsstudien verknüpft worden:
http://www.spektrum.de/news/vererbte-religion/1059955
Kurz: Es spricht sich herum – in der angelsächsischen Welt schneller als bei uns – und wie immer gibt es viele, die die Befunde akzeptieren – und andere, die sich in der Ablehnung einigeln und schimpfen. In den USA sind dies vor allem religiöse Fundamentalisten – die Evolution igitt finden – und im deutschsprachigen Raum halt Antitheisten – die Religion igitt finden. Das einzige, was mich daran noch wirklich stört, ist der Zeitaufwand, Hundertmal auf die immergleichen Einwände eingehen zu sollen – von Leuten, die oft nicht mal die grundlegende, frei verfügbare Literatur angeschaut haben.
Oder wenigstens die Quarks & Co-Folge, die ab Min. 8:30 in nur 6 Minuten eine Einführung bietet! 🙂
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/quarks-co-glauben-wissen-evolution/
Dir also nochmal danke, @Joe – für die freundliche Solidarität, aber auch einfach für das Interesse am Thema! 🙂
Beste Grüße vom Blognachbarn!
@Dramiga: HADD mit Religion/Atheismus in Zusammenhang zu bringen ist sehr fragwürdig, da der Glaube/Nichtglaube an übernatürliche Akteure bereits Ergebnis einer kulturell erlernten Sichtweise ist.
Wenn man HADD als eine Neigung ansieht, die Wirkung von Agenten anzunehmen, z.B. wenn bestimmte Ereignisse in der Umgebung passieren (Geräusche) – dann ist dies auch schon eine kulturell erlernte Denkweise und ist daher nicht angeboren: Denn wir haben ein Gedächtnis und zu unserem Erfahrungswissen gehört es, dass bestimmte Ereignisse eine bestimmte Wirkung haben. Wenn z.B. in unserer Umgebung ein Geräusch zu hören ist, dann muss dieses von etwas/jemand verursacht worden sein – so ist unser erlerntes(!) Wissen
Fazit:
Unsere Sinne ermöglichen es uns, Reize aus unserer Umgebung wahrzunehmen. Unsere Sinne sind evolutionär vorgegeben. Aber bereits die Interpretation dieser Reize durch unser Gehirn geschieht immer auf Basis von erlerntem Wissen. Demnach ist HADD nicht als erblich zu betrachten.
@KRichard
»Unsere Sinne sind evolutionär vorgegeben. Aber bereits die Interpretation dieser Reize durch unser Gehirn geschieht immer auf Basis von erlerntem Wissen.«
Stimmt. Meine visuelle Wahrnehmung lässt mich beispielsweise [hier] das Muster von Gesichtern erkennen, das ist quasi so verdrahtet. Aber ob ich da vielleicht ein “mystisches Zeichen” hineindeuten will oder nicht, ist sozio-kulturell geprägt und nicht biologisch determiniert.
Sie reden hier über Problem 2a. Religionen waren nicht schon immer da, sondern sind irgendwann in der Geschichte der Gattung Homo entstanden. Wie wollen sie diese Entstehung anders, also nicht mit HADD, erklären? Ich vermute HADD wird als eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung von religiösem Glauben gesehen. Als Zutaten kommen noch TOM und kulturelle Prägung hinzu.
Sie schreiben: “Aber bereits die Interpretation dieser Reize durch unser Gehirn geschieht immer auf Basis von erlerntem Wissen.” Ich würde sagen nicht immer. Als Gegenbeispiele möchte ich optische und akustische Täuschungen (z.B. Shepard-Effekt bei Tonleiter) anführen. Sie funktionieren unabhängig vom Vorwissen und kulturellen Hintergrund bei allen Menschen gleich. Auch wenn ich weiss, dass die beiden Linien gleich lang sind nehme ich sie immer noch als verschieden lang wahr.
Mein Beitrag bezog sich darauf, ob HADD erblich ist. Das Erkennen von sich selbst und anderen ist nicht erblich, sondern beruht auf erlerntem Wissen. Wir lernen etwa bis zum 2. Lebensjahr, uns selbst als eigenständiges Wesen zu verstehen (siehe Wikipedia: Spiegeltest) und uns von der Umwelt als Individuum abzugrenzen. Erst durch diese Abgrenzung kann die Idee von anderen Akteuren (HADD) und deren möglichen Absichten entstehen (TOM: Theory of mind).
Dass die Art und Weise wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, dazu führt, dass/wie wir andere – und sogar übernatürliche – Handlungsträger als wahrscheinlich betrachten, ist ein anderes Thema. In diesem Sinn ist HADD eindeutig eine Grundlage von Spiritualität bzw. Religiosität – hier stimme ich Ihnen zu.
(Optische, akustische und/oder andere Sinnestäuschungen beruhen immer auf erlerntem Wissen. Denn nur auf Grundlage von vorhandenem Wissen können wir Erlebnisse interpretieren und verstehen. Dass wir leicht auf Täuschungen hereinfallen, ist in der Arbeitsweise des Gehirns begründet.)
@Joe Dramiga
Soll da eigentlich ein nennenswerter und für Laien verständlicher Unterschied sein zwischen HADD und dem, was bei Michael Shermer Patternicity heisst? Zu Shermers SciAm Artikel wurde wiederum sogleich die Frage gestellt, ob das nicht dasselbe meint wie der Begriff Apophänie. Kurzum, braucht es also das etwas befremdliche Akronym HADD zu einem anderen Zweck als dem der begrifflichen Vernebelung?
Da ist ein nennenswerter und für Laien verständlicher Unterschied zwischen Patternicity und HADD, der deutlich wird, wenn man sich die Beschreibungen bzw. Erklärungen dieser Begriffe anschaut.
Patternicity
“I call it “patternicity,” or the tendency to find meaningful patterns in meaningless noise.”
HADD
“Barrett has coined the term HADD (hypersensitive (in some earlier publications hyperactive) agency detection device), which he characterizes in the following way: “When HADD perceives an object violating the intuitive assumptions for the movement of ordinary physical objects (such as moving on non-inertial paths, changing direction inexplicably, or launching itself from a standstill) and the object seems to be moving in a goal-directed manner, HADD detects agency” [5]. HADD could contribute to the formation of religious concepts by making people identify ambiguous objects as intentional agents (e.g., ghosts or spirits), or by causing objects correctly identified as such to be perceived as invested with agency (e.g., seeing a thunderstorm as manifestation of a deity’s will). In addition, HADD could serve to reinforce religious concepts. For example, people who experience salient but surprising, unexpected, or extraordinary events (e.g., surviving a shipwreck or a serious illness) often report the presence of non-natural agency in their accounts of those events. Furthermore, certain features of objects and living things are often reinterpreted in a teleological or functional sense – that is, purposefulness that cannot be attributed to natural agents may be attributed to non-natural agents; in this sense the features in question appear to be understood as ‘traces’ of non-natural agency.”
Patternicity heißt: Einem Phänomen wird (allgemein) ein Muster beigelegt während das HADD eine Beilegung bstimmte Arten von Muster, nämlich die von Agenten, darstellt. Insofern ist Patternicity ein Oberbegriff.
Ich möchte erneut darauf hinweisen, dass die Fügung “non-natural agents” ein Oxymoron darstellt.
Patternicity bedeutet, dass man irgendwo ein bestimmtes Muster (Objekt) zu erkennen meint, obwohl dies in der Realität nicht vorhanden ist. Z.B. Kinder spielen im Sommer gerne Tiere in Wolkenformationen zu erkennen.
Patternicity ist vergleichbar mit Pareilodie bzw. Apophänie.
Im Gegensatz dazu bedeutet HADD, dass bestimmte Ereignisse (Geräusche, Bewegungen, Unglücke) als von einem nicht real erkennbaren Wesen verursacht betrachtet werden – dies kann z.B. ein Geist, Gott oder Zauberer(Fluch) sein.
Deswegen ist Patternicity kein Oberbegriff von HADD, da beide Begriffe unterschiedliche Phänomene beschreiben.
“als von einem nicht real erkennbaren Wesen verursacht”
Das ist ein Widerspruch in sich. Entweder ist das Wesen nicht erkennbar oder es ist wirkmächtig.
Ich subsumiere “das Beilegen eines Akteurs zu einem Phänomen” unter “das Beilegen eines Musters zu einem Phänomen”. Die Vorstellung eines Akteurs ist eine Vorstellung, die einem Muster folgt, dem Muster, dass wir haben, wenn wir von “Akteur” sprechen. Insofern sind von einem HADD beigelegte Akteursvorstellungen nichts fundamental anderes als den Wolken beigelegte Tiervorstellungen. Patternicity ist daher der Oberbegriff.
Warum ist “non-natural agents” ein Oxymoron? Roboter, die meine Wohnung staubsaugen, sind doch nicht-natürliche also künstliche Handlungsträger.
Man kann die Natur zum Menschen hin abgrenzen und das, was der Mensch schafft, als “nicht-natürlich” (“künstlich”) bezeichnen. Beispiele sind Roboter, künstliche Aromastoffe usw.
Eine offensichtlich andere und hier gemeinte Bedeutung von “nicht-natürlich” (“übernatürlich”, “übersinnlich”, “überempirisch”) liegt vor, wenn Menschen von Göttern, Geistern usw. reden. Hier wird ja nicht die vorfindliche Welt zum Menschen hin abgegrenzt, sondern hier wird innerhalb des Bereichs der Vorstellung des Menschen eine Abgrenzung vorgenommen. Es werden von den Vorstellungen, die in der Natur nicht vorkommen, solche privilegiert, denen eine Wirkmacht zugeschrieben werden soll, obwohl es sie nicht gibt.
Darin sehe ich einen Widerspruch in sich, da jeder Agenten – egal welcher Art –, weil er ja agiert (wirkt), bereits teil der normalen Natur ist (wäre).
Fehlerkorrektur: “Es werden von den Vorstellungen, die in der Natur nicht vorkommen,” muss heißen “Es werden von den Vorstellungen, die in der Natur keine Entsprechung haben,”
@Joe Dramiga
Hm, wenn ich das einzuordnen versuche, dann meint HADD so etwas wie eine ad hoc postulierte Vorrichtung zum “Entdecken” von irgendwie wesenhafter Animiertheit in oder hinter einem Geschehen.
Was dabei “entdeckt” werden soll, wird jedoch faktisch nicht entdeckt, sondern vielmehr aufgrund einer Interpretation wahrgenommener Muster zugeschrieben. Das lässt sich also durchaus dem unterordnen, was zu einer Pattern Recognition Engine (Shermer) gehört. Und ich schätze mal, Shermer hat keine spezielle Erfordenis für eine ad hoc postulierte HADD, das kann er meines Erachtens einfacher und allgemeiner. Wäre aber interessant, ob sich Shermer irgendwo einmal konkret zu HADD geäussert hat.
In diesem Sinne wäre “Patternicity” eine mögliche Antwort auf die obige, an @KRichard gerichtete Frage (»Wie wollen sie diese Entstehung anders, also nicht mit HADD, erklären?«) Im übrigen, was Shermer in dem SciAm Artikel schreibt, scheint mir insgesamt einleuchtend und folgerichtig.
Ich tue mich noch schwer damit HADD als spezielle Form der Patternicity zu sehen. Laut Wikipedia bezeichnet Muster allgemein eine gleichbleibende Struktur, die einer sich wiederholenden Sache zugrunde liegt, bzw. eine zur gleichförmigen Wiederholung (Reproduktion) bestimmte Denk-, Gestaltungs- oder Verhaltensweise bzw. einen entsprechenden Handlungsablauf.
Wenn ich die Entwurzelung eines Baumes durch einen Sturm dem Handeln eines unsichtbaren überempirischen Akteur zuschreibe – wo ist da das Muster? Wenn durch diese Entwurzelung ein Tier getötet wird und ich diesem Agenten eine Tötungsabsicht unterstelle, der dem Zweck der Strafe dient – wo ist da das Muster?
Mir fehlt da bei der Mustererkennung die scheinbare teleologische Komponente.
Auch ein religiöser Mensch wird nicht jeden entwurzelten Baum als Mittel eines Handlungszwecks sehen, sondern auch naturalistische Erklärungen zulassen – wie z.B. der Sturm hat den Baum entwurzelt. Es kommt auf die Situation und das Individuum an. Ich kann mir vorstellen, dass religiöser Glaube entsteht wenn Patternicity und HADD zusammenkommen z.B.: jeden Tag geht im Osten die Sonne zur gleichen Zeit auf und ich schreibe dieses Phänomen einem Gott zu.
Für jeden von uns besteht die eigene Sinneswelt neurobiologisch letztlich aus Erregungsmustern, die im Gehirn irgendwie assoziiert, sortiert, kombiniert, oder sonstwie prozessiert werden. Und das alles nach rein formalen Regeln, denn von Inhalten oder Bedeutungen kann auf diesem Level nicht die Rede sein. Wenn ich also bei einer Wahrnehmung einen Gegenstand als zweckmässig oder einen Vorgang als absichtsvoll beurteile, dann sind mit den diese Wahrnehmung repräsentierenden Erregungsmustern vermutlich doch gewisse formale Charakteristika verbunden, die mich zu eben dieser Beurteilung kommen lassen. Anders ist es praktisch nicht vorstellbar. Aber das trifft auch für jede andere Situation von neuronaler Musterprozessierung zu.
Falls Anzeichen von Intentionalität identifiziert werden, dann hat das gewisse Konsequenzen. Intentionalität geht erfahrungsgemäss damit einher, dass da jemand eine Intention gesetzt hat, und die Frage nach diesem jemand, der nicht selbst unmittelbar in Erscheinung treten muss, könnte noch einige Aufmerksamkeit beanspruchen. Was ich jedoch nicht sehe ist, dass es irgendwo bei der ganzen Angelegenheit so etwas wie eine spezielle “Device” (à la HADD) für Intentionalität und deren Urheber bräuchte, bzw. woran sich hier das Spezielle auf dem neuronalen Level eigentlich festmachen lassen sollte.
War als Reaktion gedacht zu @Joe Dramiga 6. Oktober 2014 12:08
@Chrys: Dass unser Gehirn per Mustererkennung/-verarbeitung arbeitet ist eigentlich unbestritten. Der einleitende Artikel und der Beitrag von @Blume weisen aber auf eine ganz spezielle Bedeutung/Bewertung von HADD hin: Weil es eine Neigung gibt, bestimmte Ereignisse/Muster einem höheren Wesen als Verursacher zuzuweisen, wirdHADD als eine wichtige Grundlage von Religiosität gesehen!
Und hier ist die Brisanz dieses Themas: Wenn HADD angeboren ist – dann ist Spiritualität/Religiosität und der Glaube an Geister/Götter angeboren. Wenn HADD aber ein erlernter Verarbeitungsprozess von Mustern ist, dann ist Spiritualität/Religiosität erlernt und somit kulturell bedingt. Eine kulturell bedingte Interpretation bzw. Fehlinterpretation von Mustern besagt aber, dass höhere Wesen von unserer eigenen Vorstellung geschaffen werden. Brisant ist es aber, wenn wahrgenommene Muster als Fehlinterpretation einem/mehreren Wesen als Verursacher zugeordnet werden. Denn dies würde dann bedeuten, dass eine Ursache von Spiritualität/Religiosität die Fehlinterpretation von Ereignissen ist – oder kurz gesagt: Religiosität würde auf Grundlage von Irrtum entstehen.
Den (Aber-)Glauben an überempirische Agenten betreffend sieht es für mich momentan ungefähr so aus: Shermer sagt, “It’s a bug!” Hingegen propagieren Blume & Co. den Standpunkt, “It’s not a bug, it’s a feature!”
Gibt es dann irgendein Argument, das Shermer möglicherweise davon überzeugen könnte, dass er falsch liegt? Ein solches Argument sehe ich einstweilen noch nirgends.
@Chrys: Nobelpreis > Grinsen: Als ich heute in der Zeitung einen Bericht zum Medizin-Nobelpreis las, konnte ich mir ein seeehr breites Grinsen nicht verkneifen. In einem dpa-bericht in der Mittelbayerische Zeitung 7.10.2014 heisst es, Zitat: “… Auch Erinnerungen an Geschehnisse werden zusammen mit der Ortsinformation gespeichert, erklärte May-Britt Moser einmal.Das ist der Grund eines bekannten Phänomens: In der Küche beschließt man, etwas aus dem Keller zu holen, hat dort aber vergessen, was eigentlich.Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Erinnerung am Ort des Beschlusses zurückkehrt – in der Küche also.”
In meinem neuen Buch ´Kinseher Richard, Pfusch, Betrug, Nahtod-Erfahrung´, (Juli 2014) schreibe ich: “Wenn man durch eine Türe einen anderen Raum betritt, dann kann man sich schlechter daran erinnern, was man zuvor gelernt hatte. Dies deutet darauf hin, dass unsere Erfahrungen als zusammenhängendes Erlebnis abgespeichert werden, aber auch, dass unser Gehirn das andere Zimmer im Gedächtnis neu als virtuelle Simulation aufbaut => Wir kennen diesen Effekt aus eigenem Erleben: Wenn man von einem Raum in ein anderes Zimmer geht, um etwas zu erledigen, und man kurz abgelenkt wird, dann weiß man plötzlich nicht mehr, was man eigentlich machen wollte. Geht man an den Ort zurück, wo man dies noch wusste, dann fällt es einem schlagartig wieder ein.”
In meinem Buch stelle ich ein neuartiges Erklärungsmodell für die sogenannte ´Nahtod-Erfahrung´(NTE) vor. NTEs werden ausschließlich als systematisch und strukturiert ablaufender, bewusst erlebbarer Erinnerungsvorgang beschrieben, bei dem das Gehirn z.B. einen Reiz (Gedanke) systematisch – per Mustervergleich – mit den im episodischen Gedächtnis gespeicherten Inhalten vergleicht. Dabei wird erkennbar, dass dabei sogar Erlebnisse aus der Fetus-Zeit reaktiviert werden – und zwar in der gleichen Reihenfolge, wie sich Sinne ab dem 5. Schwangerschaftsmonat entwickeln: Fühlen, Hören, Sehen.
Dies bedeutet: wenn man sich bewusst an Erlebnisse/Erlerntes aus der Fetus-Zeit erinnern kann, dann müssen bestimmte Annahmen über angeborene Fähigeiten eindeutig falsch sein – z.B. angeborenes HADD.
Und nun nochmals zum Nobelpreis: Zunächst herzlichen Glückwunsch, es freut mich, dass gute Forschungsarbeit so belohnt wird. Und nun das ABER: solange, bis die Gehirnforschung kein theoretisches Konzept über Ablaufstrukturen des Denkens und das Wesen des Bewusstsein entwickelt hat, nützen solche Forschungsergebnisse wenig – weil man ihre Bedeutung in Zusammenhang nicht einordnen kann.
Im Rahmen der NTEs kann man bewusst erleben, wie das Gehirn einen einzelnen Reiz systematisch und strukturiert verarbeitet: Um diese These zu belegen habe ich unterschiedliche wissenschaftliche Arbeiten in mein Buch auchgenommen – die Arbeit der Nobelpreisträger passt gut dazu. Deshalb auch mein breites Grinsen- wenn man sogar den Nobelpreis für Beiträge bekommt, die bei mir nur im Kleingedruckten stehen, kann meine Theorie so schlecht nicht sein.
Inzwischen habe ich noch gefunden, dass der SciAm Artikel von Michael Shermer eine Fortsetzung hatte, wo er den Begriff Agenticity prägt. Das passt thematisch besser hierher als Patternicity im allgemeinen.
Religiöser HADD?
. Hallo Joe,
schön, dass Du Dich zwischendurch mal auf das schwierige Terrain der evolutionären Religionsforschung wagst. Als kaltgestellter sachlicher Kritiker bestimmter Blum’scher Thesen nutze ich gerne nachträglich (war verhindert) die Gelegenheit, etwas zu den hier aufgeworfenen Fragen zu sagen, ergänzend zu dem, was bereits von dem einen oder anderen kritisch angemerkt wurde.
Was ich an der These vom aktuellen evolutionären Vorteil der religiös veranlagten Menschen gegenüber den nicht-religiösen Zeitgenossen besonders problematisch finde, ist die Verknüpfung von evolutionstheoretischen Prozessen (z. B. natürliche Selektion) mit heutigen soziokulturellen Phänomenen (z. B. Religionen). Ich habe nichts gegen einen richtig verstandenen neuen (!) Sozialdarwinismus, aber im hier diskutierten Fall habe ich nicht das Gefühl, dass die Sache richtig verstanden wurde.
Einerseits halte ich es für unbestreitbar, dass Religiosität (im enggefassten Sinne) bestimmter kognitiver Fähigkeiten bedarf, die nicht jedem gegeben sind. Andererseits ist mir kein Fall eines religiösen Säuglings bekannt, woraus man schließen kann, dass bei Vorliegen einer entsprechenden Veranlagung sich Religiosität erst im Laufe der postnatalen Hirnreifung entwickeln muss. Religiosität wäre demnach, wie vieles andere auch, das Ergebnis des Zusammenspiels von Natur und Kultur. Während aber jeder gesunde Mensch z. B. die Fähigkeit zum Spracherwerb oder aufrechtem Gehen hat, kann sich ganz offensichtlich nicht bei jedem gesunden Menschen Religiosität entwickeln.
Bei dieser schwierigen Gemengelage von genetischer Disposition und kulturellen Prägungen halte ich es, freundlich formuliert, für reichlich vermessen, zu behaupten, dass es innerhalb von Menschenpopulationen evolutionsbiologisch definierte Subpopulationen gibt, die sich aufgrund eines unterschiedlich ausgeprägten HADD (und der damit assoziierten Religiosität) unterschiedlich stark vermehren.
Das wäre nach meiner Kenntnis auch ein ganz neues Verständnis von der Funktionalität dieses hypothetischen hyperaktiven Agenten-Detektors, welches in der Literatur bislang so noch nicht beschrieben worden ist.
Soweit ich weiß widerspricht es auch der Idee des HADD, dass es stark unterschiedliche Ausprägungen dieser natürlichen, im Laufe der Evolution erworbenen Hypersensitivität bei der Detektion von Handlungsträgern gibt. Gerade deshalb wird Religiosität z.B. von Justin Barrett als etwas Natürliches betrachtet, das jedem Menschen gegeben ist, während Areligiosität oder Atheismus nur dadurch zustande kommen kann, dass man das natürlich Gewachsene mit Gewalt unterdrückt (oder so ähnlich).
Was aber durchaus denkbar wäre, ist, dass ein Verhaltens- oder Reaktionsmuster wie die der HA-Detektion bei dem einen oder anderen generell (also aufgrund einer Veranlagung) oder mit zunehmendem Alter schneller oder langsamer abläuft, oder besser oder schlechter funktioniert, so wie die Intelligenz höher oder niedriger sein kann oder die Haut heller oder dunkler.
—–
Du fragst,
… und antwortest,
Gleichzeitig gibst Du aber zu bedenken („Problem 3“), dass, in meinen Worten, bei einem geäußerten Kinderwunsch nicht ausgemacht werden kann, ob er genetisch oder soziokulturell bestimmt ist. Ich komme gleich darauf zurück.
Wenn ich das also richtig verstanden habe, dann meint die Formulierung „unterschiedliche Ausprägung des HADD“ den „Grad der Religiosität“, der im Verhalten sichtbar werden kann.
Der „indirekte“ Kausalzusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und Familiengröße („Fortpflanzungserfolg“?) besteht meiner Ansicht nach vermutlich darin, dass gesellige Menschen, die sich explizit zu Religionsgemeinschaften hingezogen fühlen, auch gerne in größeren Familien leben. Zumindest kann das nicht ausgeschlossen werden. Was hier Ursache und was Wirkung ist, mag jeder für sich selbst entscheiden.
In diesem Kontext würde mich mal interessieren, ob Du es für möglich hältst, dass die dramatischen Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen hinsichtlich der mittleren Kinderzahl ebenfalls auf unterschiedlichen Ausprägungen des HADD beruhen. Denn die von Dir favorisierte Annahme von einer kontinuierlichen Merkmalsausprägung müsste doch eigentlich mit einem kontinuierlichen „Fortpflanzungserfolg“ entsprechend dem Grad der Religiosität einhergehen.
Zurück zu „Problem 3“: Mir geht es im Grunde wie Dir, ich weiß auch nicht, wie man einen biologischen, HADD-abhängigen „Fortpflanzungserfolg“ von der kulturbedingten Familienplanung trennen könnte. Wenn Familie Müller beschließt, ein drittes oder viertes Kind haben zu wollen, welche Rolle könnte dabei der hyperaktive Handlungsträger-Detektor von Herr und/oder Frau Müller gespielt haben?
Der freie Wille wird ja vielfach negiert, und Kultur gilt Vielen heute als ein Teil der menschlichen Biologie. Vielleicht ist ja auch die freie Entscheidung für ein Kind nur scheinbar frei und stattdessen, gemäß der hier favorisierten Idee, am Ende nur die Auswirkung eines stark ausgeprägten HADD und somit letztlich genetisch bestimmt. Auch das kann wohl nicht ausgeschlossen werden.
Keinen Lösungsansatz sehe ich in dem Konstrukt „Coevolution von Genen und Kultur“. Ein Naturwissenschaftler sollte kein Problem damit haben, menschliche Kulturprodukte als Ausfluss evolvierter Fähigkeiten zu sehen. Für ihn sind kulturelle Entwicklungen kein evolutionstheoretisches Problem in dem Sinne, dass man den Evolutionsbegriff neu definieren müsste, damit er gleichermaßen biologische und kulturelle Prozesse umfassen kann (denn ansonsten ergäbe der Begriff „Gen-Kultur-Koevolution“ überhaupt keinen Sinn).
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Ich finde den von Michael Blume vertretenen Ansatz, dass Religionen ebenso vom Menschen geschaffene Kulturprodukte sind wie etwa Kunstwerke oder politische Ideologien, völlig in Ordnung. Die Behauptung, dass religiöse Anhänger von Religionen gegenüber nichtreligiösen Anhängern bestimmter Kunstrichtungen oder Ideologien evolutionär im Vorteil sind, halte ich aber nicht nur für falsch, sondern auch für höchst bedenklich.
Danke für den Artikel und die Möglichkeit, meine Gedanken hier frei äußern zu können.
Religiöse Menschen haben die besseren Gene, mit denen sie gegenüber Nicht-Religiösen Vorteile in der Evolution hatten und immer noch haben.
Auf dem Blog des Nachbarn finden sich Äußerungen zu Gruppengenen (Rasse), Vorteilsgenen (Reproduktion), sowie eine durchgängige Abwertung nicht-religiöser Minderheiten (z.B. Brights), die Mangelwesen hinsichtlich jener Religiositätsgene sind.
Kurz: Dies ist (latenter) Rassismus im Gewande der Religions-“Wissenschaft“. Und so etwas wird an deutschen Universitäten nach 33-45 immer noch gelehrt!
Deinen Vorwurf Michael Blume betreibe Sozialdarwinismus finde ich unangemessen. Der Sozialdarwinismus wendet das von Charles Darwin mit Bezug auf die Tier- und Pflanzenwelt formulierte “Naturgesetz der Selektion” auf Menschen und ihre sozialen Verhältnisse an. Er beruht auf der Annahme, dass Menschen von Natur aus ungleich sind und nur die Stärksten im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf bestehen können. Daraus wurde die als wissenschaftlich bezeichnete Unterscheidung zwischen “wertvollem”, “minderwertigem” und “wertlosem” menschlichen Leben entwickelt.
Es ist aber klar, dass Blume diese wertende Annahme – in dem Sinne religiöse Menschen sind besser als nichtreligiöse Menschen – NICHT teilt. Der Sozialdarwinist schaut auf die vermeintlich unterschiedlichen biologischen Faehigkeiten (z.B. im kognitiven Bereich) von Menschengruppen und spekuliert wie diese das gesellschaftliche Sein dieser Menschengruppe beeinflussen.
Blume geht aber gerade den umgekehrten Weg und schaut wie die gesellschaftlichen Verhaeltnisse einer Menschengruppe die Reproduktionsbiologie dieser Menschengruppe beeinflussen.
Von daher betrachten wir hier ganz unterschiedliche Endpunkte. Der Sozialdarwinist betreibt Biologismus. Blume betreibt Soziobiologie. Blume koennte genauso gut untersuchen welchen Einfluss die Hierachie innerhalb eines Ameisenstaates auf den Reproduktionserfolg der Ameisenkoenigin hat.
Wenn, dann findet bei Blume eine Wertung im populationsgenetischen (reproduktiosbiologischen) Sinne statt: Religiöse Menschen haben eine hoehere Fitness, da sie im Durchschnitt mehr Kinder zeugen als nichtreligiösen Menschen. Diese Definition von evolutionaerer Fitness wurde aber nicht von Blume geschaffen, sondern von Populationsgenetikern und ist somit von Biologen etabliert worden. Auch ist hier klar, dass es sich um eine relative Wertung und eine Momentaufnahme handelt, denn die Umweltbedingungen koennen sich aendern und dann wird statt positiv auf einmal negativ selektiert. Die Wertung von Menschengruppen durch den Sozialdarwinisten ist jedoch absolut.
Auf der einen Seite sagst Du:
“Was ich an der These vom aktuellen evolutionären Vorteil der religiös veranlagten Menschen gegenüber den nicht-religiösen Zeitgenossen besonders problematisch finde, ist die Verknüpfung von evolutionstheoretischen Prozessen (z. B. natürliche Selektion) mit heutigen soziokulturellen Phänomenen (z. B. Religionen).”
Spaeter merkst du an:
“Ein Naturwissenschaftler sollte kein Problem damit haben, menschliche Kulturprodukte als Ausfluss evolvierter Fähigkeiten zu sehen. Für ihn sind kulturelle Entwicklungen kein evolutionstheoretisches Problem in dem Sinne, dass man den Evolutionsbegriff neu definieren müsste, damit er gleichermaßen biologische und kulturelle Prozesse umfassen kann (denn ansonsten ergäbe der Begriff „Gen-Kultur-Koevolution“ überhaupt keinen Sinn).”
Ich finde das widerspruechlich.
Du fragst:
“In diesem Kontext würde mich mal interessieren, ob Du es für möglich hältst, dass die dramatischen Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen hinsichtlich der mittleren Kinderzahl ebenfalls auf unterschiedlichen Ausprägungen des HADD beruhen.”
Wenn es dramatische Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen hinsichtlich der mittleren Kinderzahl gibt, wuerde ich sie nicht allein auf unterschiedliche Ausprägungen des HADD zureuckfuehren, sondern sie als einen moeglichen Faktor von mehreren Faktoren betrachten.
Du schreibst:
“Denn die von Dir favorisierte Annahme von einer kontinuierlichen Merkmalsausprägung müsste doch eigentlich mit einem kontinuierlichen „Fortpflanzungserfolg“ entsprechend dem Grad der Religiosität einhergehen.”
Daten von Dominik Enste (Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 2007), aus dem World Value Survey 1981 – 2004 zeigen je aktiver Menschen ihre Religion ausüben, desto mehr Kinder haben sie im Durchschnitt.
Eine Studie (1991) von Herwig Birg von der Universität Bielefeld zeigt, dass es
bei christlichen Frauen enorme Unterschiede zwischen Konfessionsfreien und solchen, die sich ihrer jeweiligen Kirche weniger oder aber stark zugetan fühlten gibt. Konfessionsfreie Frauen des Jahrgangs 1950 hatten bis zu ihrem 31.Lebensjahr durchschnittlich 0,8 Kinder. Jene, die ihrer Konfession „weniger verbunden“ waren, bekamen fast doppelt so viele Kinder: im Mittel 1,4. Und Frauen, die sich mit ihrer Konfession „stark verbunden“ fühlten, hatten im Schnitt 1,7 Kinder.
@Joe Dramiga
»Blume betreibt Soziobiologie.«
Mit seinen demographischen Studien doch allenfalls Religionssoziologie. Mit solchen Methoden lassen sich nur soziologische Merkmale wie etwa die Zugehörigkeit zu einer als Religionsgemeinschaft definierten Populationsgruppe erfassen. So einfach ist das mit Religion, Religiosität, und religiösem Glauben nach meinem Eindruck insgesamt nicht, und diesen Eindruck bekommt man sehr schnell, wenn sich nur einmal nach anderen Quellen zur empirischen Religiositätsforschung umtut.
Mal so als Beispiel, fast 80% aller Dänen sind der Folkekirken (der staatlichen Volkskirche) zugehörig, mit Gott wollen die Dänen zumeist aber trotzdem nicht sonderlich viel zu schaffen haben.
(Zitiert nach Peter Steinfels’ NYT Review von Phil Zuckerman, Society Without God.)
Was sollen wir jetzt daraus in Hinblick auf HADD lernen?
Bekanntlich gelten die Dänen (soziologisch) auch als das glücklichste Volk auf Erden. Hat das vorrangig irgendwas mit ihrer Religion zu tun? Wenn ja, dann doch höchstens deshalb, weil sie die Religion nicht so bitter ernst nehmen.
Der neue Sozialdarwinismus
. Hi Joe, Du schreibst:
»Deinen Vorwurf Michael Blume betreibe Sozialdarwinismus finde ich unangemessen.«
Es geht mir um den neuen, offenbar salonfähigen Sozialdarwinismus, der im Falle Blumes so geht: Atheisten und Theisten unterscheiden sich nicht nur im Denken, sondern auch in ihrer Biologie, wobei, und das ist der entscheidende Punkt, wo die seriöse Wissenschaft endet und sich unsere (Blumes und meine) Wege trennen, wobei behauptet wird, diese Unterschiede gingen mit einer unterschiedlichen evolutionsbiologischen Fitness einher.
Ich stimme Dir ja zu:
»Der Sozialdarwinismus wendet das von Charles Darwin mit Bezug auf die Tier- und Pflanzenwelt formulierte “Naturgesetz der Selektion” auf Menschen und ihre sozialen Verhältnisse an. Er beruht auf der Annahme, dass Menschen von Natur aus ungleich sind und nur die Stärksten im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf bestehen können.«
Wenn Du nun „die Stärksten“ durch „evolutionär Fittesten“ ersetzt und mit „Konkurrenzkampf“ den „Wettbewerb“ um die meisten Nachkommen meinst, dann hast Du doch genau den theoretischen Ansatz, den Michael Blume verfolgt. Da muss überhaupt keine explizite Bewertung im Sinne von „gut“ und „schlecht“ ausgesprochen werden, es genügt völlig zu sagen, dass Theisten evolutionär „fitter“ sind als Atheisten.
Auch hierin stimme ich Dir zu:
»Der Sozialdarwinist schaut auf die vermeintlich unterschiedlichen biologischen Faehigkeiten (z.B. im kognitiven Bereich) von Menschengruppen und spekuliert wie diese das gesellschaftliche Sein dieser Menschengruppe beeinflussen.«
Wenn ich Michael Blume recht verstehe, dann soll es Atheisten, grob gesprochen, an bestimmten kognitiven Fähigkeiten (HADD, z. B.) mangeln, weshalb sie „verebben“ müssen, ihr „gesellschaftliche[s] Sein“ tendiert langfristig gegen Null. Auch hier spricht man keine normative Wertung aus, sondern stellt völlig wertfrei einfach nur fest, dass aus evolutionsbiologischer Sicht Theisten die Gewinner und Atheisten die Verlierer sind.
Das schließt natürlich nicht aus, dass man umgekehrt auch schauen kann, »wie die gesellschaftlichen Verhaeltnisse einer Menschengruppe die Reproduktionsbiologie dieser Menschengruppe beeinflussen.«
Wobei aber schon gefragt werden muss, was hier der Begriff „Reproduktionsbiologie“ alles umfassen soll. Wenn eine Frau aus beruflichen Gründen (noch) keine Kinder haben möchte, fällt das dann in das Gebiet Reproduktionsbiologie?
Ich denke, hier liegt der Hase im Pfeffer, hier zeigt sich der Kardinalfehler derer, die meinen, die Zahl der geborenen Kinder pro Frau sei ein Maß für deren evolutionäre Fitness. Zum einen gibt das der evolutionsbiologische Fitness-Begriff einfach nicht her, und zum anderen geht es bei der Familienplanung weniger um das Können, sondern vielmehr um das Wollen. Und wenn das Wollen ins Spiel kommt, sind bestimmte evolutionstheoretische Konzepte, die in Bezug auf willenlose Organismen entwickelt wurden, schlicht nicht anwendbar.
»Wenn, dann findet bei Blume eine Wertung im populationsgenetischen (reproduktiosbiologischen) Sinne statt: Religiöse Menschen haben eine hoehere Fitness, da sie im Durchschnitt mehr Kinder zeugen als nichtreligiösen Menschen. Diese Definition von evolutionaerer Fitness wurde aber nicht von Blume geschaffen, sondern von Populationsgenetikern und ist somit von Biologen etabliert worden.«
So könnte wohl auch ein Sozialdarwinist argumentieren. Er gebraucht ja nur die in der Evolutionsbiologie etablierten Fachbegriffe. Aber dass er bereits einen grundlegenden Fehler begeht, wenn er soziokulturell definierte Menschengruppen (wie z. B. Muslime, Christen, Konfessionslose) mit dem evolutionsbiologischen Fitness-Begriff zusammenbringt, das übersieht er offenbar.
Etwas ganz anderes ist es zum Beispiel, wenn ich die evolutionäre Fitness etwa bei Menschen mit Mukoviszidose (zystische Fibrose) untersuche. Hier liegt ein definierter Gen-Defekt vor, der erwiesenermaßen die Überlebens- und folglich auch die Reproduktionsrate kausal beeinflusst. Und in diesem Fall wird nicht gekuckt, wie viele Kinder diese Menschen in die Welt setzen, sondern man schaut, wie hoch der Anteil dieses defekten Gens in einer Population ist.
Sie schreiben: “Wenn ich Michael Blume recht verstehe, dann soll es Atheisten, grob gesprochen, an bestimmten kognitiven Fähigkeiten (HADD, z. B.) mangeln, weshalb sie „verebben“ müssen, ihr „gesellschaftliche[s] Sein“ tendiert langfristig gegen Null.”
Nun ja, es gibt andere Forschungsergebnisse, die davon ausgehen, dass Religion lediglich in einem bestimmten Abschnitt der Evolution nützlich war. Siehe hier: http://www.heise.de/tp/artikel/32/32160/1.html
@Mona
Dazu passen würde die Tatsache, dass die explosionsartige weltweite Zunahme der Zahl der Menschen erst vor rund 300 Jahren eingesetzt hat. Wenn denn die Zahl der überlebenden und sich reproduzierenden Nachkommen als Zeichen des evolutionären Nutzens bestimmter artspezifischer Erkenntnisse und Verhaltensweisen gewertet werden kann.
Hallo Balanus, Du schreibst:
“Wenn Du nun „die Stärksten“ durch „evolutionär Fittesten“ ersetzt und mit „Konkurrenzkampf“ den „Wettbewerb“ um die meisten Nachkommen meinst, dann hast Du doch genau den theoretischen Ansatz, den Michael Blume verfolgt. Da muss überhaupt keine explizite Bewertung im Sinne von „gut“ und „schlecht“ ausgesprochen werden, es genügt völlig zu sagen, dass Theisten evolutionär „fitter“ sind als Atheisten.”
Das sollte man meiner Meinung nach nicht tun. Denn evolutionäre Fitness bedeutet nicht das „Überleben der Stärksten“. Sie kann auch Kooperation, Altruismus und ökologische Nischenbildung einschließen. Entscheidend ist, dass die Erbanlagen von Individuen nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit weitergegeben werden. Bessere Anpassung bedeutet nicht besserer Organismus. Wenn wir im Winter spazieren gehen und ich eine warme Daunenjacke trage und Du nur ein Unterhemd, dann bin ich besser angepasst an die kalte Jahreszeit als Du aber damit noch kein besserer Mensch.
Du schreibst:
“Wenn ich Michael Blume recht verstehe, dann soll es Atheisten, grob gesprochen, an bestimmten kognitiven Fchigkeiten (HADD, z. B.) mangeln, weshalb sie „verebben“ müssen, ihr „gesellschaftliche[s] Sein“ tendiert langfristig gegen Null.”
Da verstehst Du ihn meiner Meinung nach falsch: Erstens spricht er nicht von einem kognitiven Mangel bei Atheisten und zweiten verebben die Atheisten als Gruppe demografisch, weil sie im Durchschnitt weniger als 2 Kinder zeugen nicht wegens eines angeblichen kognitiven Mangels. Die Gründe warum sie im Durchschnitt weniger Kinder zeugen sind andere.
Du schreibst:
“Etwas ganz anderes ist es zum Beispiel, wenn ich die evolutionäre Fitness etwa bei Menschen mit Mukoviszidose (zystische Fibrose) untersuche. Hier liegt ein definierter Gen-Defekt vor, der erwiesenermaßen die Überlebens- und folglich auch die Reproduktionsrate kausal beeinflusst. Und in diesem Fall wird nicht gekuckt, wie viele Kinder diese Menschen in die Welt setzen, sondern man schaut, wie hoch der Anteil dieses defekten Gens in einer Population ist.”
Was bitte wird anders? Die Tatsache, dass ein Gendefekt wie Du es schreibst “die Reproduktionsrate kausal beeinflusst” bleibt bestehen, dass lässt sich auch nicht durch eine alternative Beschreibung ändern zumal sie die Themen: dominant, rezessiv, X-chromosomal vererbt, autosomal vererbt, genetisches Imprinting außen vorlässt und somit unzureichend ist um die phänotypischen Auswirkungen dieses Gendefekts auf die Population quantitativ zu beschreiben.
Ausgerechnet Richard Dawkins bildet mit seinem Konzept des “Extended Phenotype (EP)” den theoretischen Rahmen um die Befunde von Blume und anderen Forschern in die Evolutionstheorie einzuordnen. Ich empfehle Dir “The Extended Phenotype: The Long Reach of the Gene” zu lesen und dabei besonders “Chapter 11 The Genetical Evolution of Animal Artifacts”.
Hier ein Auszug aus dem Kapitel:
“From the viewpoint of this book an animal artefact, like any other phenotypic product whose variation is influenced by a gene, can be regarded as a phenotypic tool by which that gene could potentially lever itself into the next generation. A gene may so lever itself by adorning the tail of a male bird of paradise with a sexually attractive blue feather, or by causing a male bower bird to paint his bower with pigment crushed in his bill out of blue berries. The details may be different in the two cases but the effect, from the gene’s point of view, is the same. Genes that achieve sexually attractive phenotypic effects when compared with their alleles are favoured, and it is trivial whether those phenotypic effects are ‘ c o n v e n t i o n a l ‘ or ‘ e x t e n d e d ‘.
So far the phenotypic effects we have been considering have extended only a few yards away from the initiating genes, but in principle there is no reason why the phenotypic levers of gene power should not reach out for miles. A beaver dam is built close to the lodge, but the effect of the dam may be to flood an area thousands of square metres in extent. As to the advantage of the pond from the beaver’s point of view, the best guess seems to be that it increases the distance the beaver can travel by water, which is safer than travelling by land, and easier for transporting wood. A beaver that lives by a stream quickly exhausts the supply of food trees lying along the stream bank within a reasonable distance. By building a dam across the stream the beaver creates a large shoreline which is available for safe and easy foraging without the beaver having to make long and difficult journeys overland. If this interpretation is right, the lake may be regarded as a huge extended phenotype, extending the foraging range of the beaver in a way which is somewhat analogous to the web of the spider.”
Philip Hunter schreibt in EMBO reports (EMBO reports, 2009, 10, 212-215)
“In detail, the EP states that the genes of an organism can be expressed beyond their immediate biological boundaries, such as skin, shells or leaves. The EP can embrace nest-building or the manipulation of host behaviour by parasites. The main point is that the EP embraces entities such as nests or the dams built by beavers, the quality or functionality of which is correlated with certain alleles of the organism, on which natural selection can then act. This is the distinction between the EP and niche construction; for example, the EP is subject to a reproductive bottleneck as the benefit of the EP is passed on solely through the genes of an organism, rather than as an altered environmental niche for its progeny. In this manner, an allele that leads to better dams, for example, will increase the fitness of the beaver in which the allele is expressed. Similarly, an allele in a parasite that makes the parasite more effective at weakening the resistance of its host, or that is in some way able to modify its host’s behaviour to make it more likely that the parasite’s progeny will find a new host, will similarly be selected for by natural selection.”
Im Grunde kennen wir den im EP beschriebenen Mechanismus schon aus der Kybenetik als “Positive Feedback Loop”.
Nach Dawkins wäre also Religiösität ein unmittelbarer Phänotyp bestimmter HADD-Allele (Nicht deren Gene!) und Kirche, Moschee, Synagoge, Hindu-Tempel als Artifakte von Religionen würden den extended (erweiterten) Phänotyp dieser HADD-Allele bilden – ebenso der Kinderreichtum. Das heisst allerdings auch das zum erweiterten Phänotyp auch die negativen Auswüchse von Religiosität und Religionen gehören. Ob es dazu im gleichen Umfang religionswissenschaftliche Studien gibt weiß ich nicht.
In dem Nature-Review “How culture shaped the human genome: bringing genetics and the human sciences together” (Nature Reviews Genetics, February 2010, 11, 137-148) schreiben die Autoren in dem Unterkapitel “Effects of culture on selection”
“new cultural practices typically spread more quickly than a genetic mutation, simply because cultural learning operates at faster rates than biological evolution. If a cultural practice modifies selection on human genes, the larger the number of individuals exhibiting the cultural trait, the greater is the intensity of selection on the gene. A rapid spread of the cultural practice leads very quickly to maximal intensity of selection on the advantageous genetic variant(s).”
Warum sich kulturelle Praktiken so schnell ausbreiten, ist klar:
“Cultural transmission takes the form of vertical (parents to children), horizontal (peer to peer) and oblique (elder to younger),” (Herbert Gintis in Gene-culture coevolution and the nature of human sociality Phil. Trans. R. Soc. B 2011 366, 878-888) Manche Religionen verstärken durch Missionierung besonders die horizontale Komponente.
@Joe @Balanus
@Joe schreibt: ” Die Gründe warum sie im Durchschnitt weniger Kinder zeugen sind andere.”
Das ist der Punkt, bei dem ich einhaken würde. Meines Erachtens muss bei solchen Untersuchungen zwischen genetischer und gesellschaftlicher Entwicklung unterschieden werden. Ist die Tatsache, dass gläubige Menschen heute im Schnitt mehr als zwei Kinder pro Frau bekommen und nicht gläubige weniger, tatsächlich darauf zurückzuführen, dass erstere körperlich glaubensfähiger sind? Oder überlagern hier soziale Effekte die möglichen genetischen?
Michael Blume trennt meines Wissens nicht scharf biologische Evolution von gesellschaftlichen Entwicklungen. Und das beeinträchtigt die Aussagekraft der empirischen Befunde. Wie ist es mit früh bekehrten Atheistenkinder? Bekommen die weniger Kinder, weil sie atheistische Gene haben, oder mehr, weil sie in religiöser Gemeinschaft leben? Welcher Faktor überwiegt. Ich würde wetten, dass es der gesellschaftliche ist. Und der Effekt ist so schon nicht besonders groß.
Hallo Joachim,
zu den gängigen Thesen rund um den „Faktor Religiosität“ gehört, dass er eine weitgehend abhängige Variable und seinerseits aus dem Bildungsstand, Einkommen oder dem gesamtgesellschaftlichen Umfeld abzuleiten sei. Demnach würde die Religiosität den „eigentlichen“ Einflussfaktor auf das Fortpflanzungsverhalten nicht selbst darstellen, sondern allenfalls begleiten.
Dazu gibt es hier eine Arbeit mit dem Focus auf Deutschland.
Religiosität als demographischer Faktor – Ein unterschätzter Zusammenhang? Marburg Journal of Religion Volume 11, No. 1 (June 2006)
@Joachim Schulz:
“Meines Erachtens muss bei solchen Untersuchungen zwischen genetischer und gesellschaftlicher Entwicklung unterschieden werden.”
In der vorindustriellen Zeit waren die Geburten- und Sterberaten relativ hoch. Allerdings schwankten sie regional stark, was mit den unterschiedlichen Ernteerträgen oder Hungersnöten und Seuchen zusammenhing.
In der Zeit von 1750 bis 1914 stieg jedoch die Einwohnerzahl in Europa von 120 Millionen auf über 450 Millionen. Nicht mit eingerechnet die 60 Millionen Europäer, die in diesem Zeitraum ausgewandert waren.
Besonders interessant scheinen mir in diesem Zusammenhang die zahlreichen vorindustriellen Heiratshemmnisse zu sein. Diese hingen mit der Ständeordnung zusammen, nach der Handwerksgesellen sowie Mägde und Knechte nicht heiraten durften, weil sie in der Regel für Kost und Logis arbeiten mussten und von daher keine Familie ernähren konnten. War Vermögen da, dann erbte der älteste Sohn (in manchen Gegenden auch der jüngste) den Bauernhof oder den Betrieb. Die überzähligen Kinder bekamen meist nur eine kleine Abfindung und mussten sich oft woanders als Dienstboten verdingen. Auf diese Weise wurde das Erbgut “zusammengehalten”. Absolutistische Herrscher und die Kirche wachten streng über die Einhaltung dieser “gottgewollten” Ordnung. Mit der Aufklärung emanzipierten sich die Menschen von Gott und seinen Ordnungen. Heiratsverbote wurden abgeschafft und die zunehmende Industrialisierung brachte Arbeitsplätze für die vielen Geringqualifizierten. Dazu kamen verbesserte Anbaumethoden in der Landwirtschaft und medizinische Fortschritte, die die vormals hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit sinken ließen. Es kam zu einer “Bevölkerungsexplosion” unter der besonders die großen Industriestädte litten, wo eine verarmte Arbeiterschaft in elenden Verhältnissen lebte. Gleichzeitig bildete sich eine erstarkende bürgerliche Gesellschaft, die nur wenige Kinder hatte, diesen aber bessere Bildungs- und Lebenschancen einräumen konnte. Ungefähr um 1880 trat eine Kehrtwende ein und die Geburtenraten begannen auch in den unteren sozialen Schichten abzusinken, wozu nicht zuletzt die von Bismark erlassenen Sozialgesetze beitrugen, der damit die sozialen Gegensätze etwas entschärfen und soziale Unruhen verhindern wollte. Wir haben es hier also mit einer gesellschaftlichen und nicht mit einer genetischen Entwicklung zu tun.
Wenn in konservativen religiösen Milieus weiterhin mehr Kinder geboren werden, dann kann die “religiöse Begleitung” sehr wohl eine Rolle spielen. Denn die Religiösen müssen Gottvertrauen haben und sollen sich nicht wie die Heiden Sorgen um ihr Dasein machen. So ähnlich steht es zumindest in der Predigt über Matthäus 6,25-34:
25 Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen werdet, noch um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
26 Schaut auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen – euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als sie?
27 Wer von euch vermag durch Sorgen seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzuzufügen?
28 Und was sorgt ihr euch um die Kleidung? Lernt von den Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht,
29 ich sage euch aber: Selbst Salomo in all seiner Pracht war nicht gekleidet wie eine von ihnen.
30 Wenn Gott aber das Gras des Feldes, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen!
31 Sorgt euch also nicht und sagt nicht: Was werden wir essen? Oder: Was werden wir trinken? Oder: Was werden wir anziehen?
32 Denn um all das kümmern sich die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß nämlich, dass ihr das alles braucht.
33 Trachtet vielmehr zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles dazugegeben werden.
34 Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.
Hi @ Joe, Du schreibst:
»Was bitte wird anders? Die Tatsache, dass ein Gendefekt [bei Mukoviszidose] wie Du es schreibst “die Reproduktionsrate kausal beeinflusst” bleibt bestehen, dass lässt sich auch nicht durch eine alternative Beschreibung ändern…«
Diesen Einwand verstehe ich nicht so recht. Willst Du damit andeuten, dass man die evolutionäre Fitness oder den Selektionsvorteil eines Genotyps auch durch das aktuelle Zählen der Kinder pro Frau ermitteln könnte? Sicher nicht. Also auf was läuft Dein Argument hinaus?
Bei Mukoviszidose oder Sichelzell-Anämie oder Achondroplasie, um nur einige Beispiele zu nennen, haben wir, „anders“ als eben bei der Religiosität, einen engen kausalen Zusammenhang zwischen einem (mutierten) Allel und der Überlebens- bzw. Reproduktionswahrscheinlichkeit. Menschen mit z. B. Sichelzell-Anämie sind keine sozial definierte Gruppe wie etwa Arme, Reiche oder Gläubige. Und wo das Soziale keine Rolle spielt, da kann es auch keinen Sozialdarwinismus geben. Darauf wollte ich hinaus.
»Ich empfehle Dir “The Extended Phenotype: The Long Reach of the Gene” zu lesen und dabei besonders “Chapter 11 The Genetical Evolution of Animal Artifacts”.«
Mir scheint, Du hast den Eindruck, ich würde die Effekte von erlerntem Verhalten auf den Reproduktionserfolg oder die evolutionäre Fitness negieren. Das tue ich keineswegs, ganz im Gegenteil. Ich mache nur einen Unterschied zwischen tierlichem und menschlichem Verhalten—und ich bezweifle stark, dass Theisten und Atheisten im Prinzip anhand des Genotyps unterschieden werden könnten, also in dem Sinne, dass der eine Genotyp eine höhere evolutionäre Fitness aufweist als der andere.
»Nach Dawkins wäre also Religiösität ein unmittelbarer Phänotyp bestimmter HADD-Allele (Nicht deren Gene!) und Kirche, Moschee, Synagoge, Hindu-Tempel als Artifakte von Religionen würden den extended (erweiterten) Phänotyp dieser HADD-Allele bilden – ebenso der Kinderreichtum.«
Macht Dawkins diesen Sprung von Tier- zu Menschengesellschaften auch? Das wäre doch wieder genau das, wo die Sache den von mir kritisierten sozialdarwinistischen Beigeschmack bekommt. Mir erscheint das ganz offensichtlich. So offensichtlich wie die triviale Tatsache, dass viele menschliche Unternehmungen Einfluss haben auf den (seinen) evolutionären Wandel (= Änderung der Allel-Frequenzen in der Population).
Du schreibst:
»Wenn es dramatische Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen hinsichtlich der mittleren Kinderzahl gibt, wuerde ich sie nicht allein auf unterschiedliche Ausprägungen des HADD zureuckfuehren, sondern sie als einen moeglichen Faktor von mehreren Faktoren betrachten.« (18. Oktober 2014, 0:33)
…und:
»Die Gründe warum sie [die Atheisten] im Durchschnitt weniger Kinder zeugen sind andere.«
…sowie in der Antwort an Joachim:
»Demnach würde die Religiosität den „eigentlichen“ Einflussfaktor auf das Fortpflanzungsverhalten nicht selbst darstellen, sondern allenfalls begleiten.«
Schön, aber was bleibt nach dieser Relativierung denn dann noch von der starken These vom evolutionären Erfolg der Religiosität aufgrund des Kinderreichtums?
Wenn Atheisten aus anderen Gründen als des fehlenden Glaubens im Schnitt weniger Kinder haben wollen als Glaubende, dann kann, wenn ich nicht irre, im Umkehrschluss der Besitz eines religiösen Glaubens auch nicht die Ursache für deren im Vergleich zu Konfessionslosen und Nichtgläubigen höhere Kinderzahl sein.
Du bist hier ja angetreten, um etwas Klarheit zu schaffen in der Frage, ob es der Evolution zu verdanken ist, dass manche religiöse Menschen mehr Kinder haben als Nichtreligiöse. Wenn nun aber immer dann, wenn die Daten nicht zu der Evolutionsthese passen, wenn also Religiosität nicht mit Kinderreichtum assoziiert ist, die anderen Faktoren als Erklärung herangezogen werden, löst sich diese These doch weitgehend in Nichts auf, oder nicht?
Michael Blume hat es oft genug wiederholt, dass seiner Meinung nach die Religiosität in ähnlicher Weise erblich ist wie etwa Musikalität oder die Sprachfähigkeit. So, wie einer nur dann Musiker werden kann, wenn er die entsprechende musikalische Begabung besitzt, so kann man auch nur dann religiös werden, wenn es die genetische Ausstattung zulässt.
Ich meine, dem würde ich in Teilen sogar zustimmen, aber alles, was darüber hinausgeht, also der evolutionäre Nutzen und die Annahme, die in Erhebungen festgestellte Koinzidenz von Familiengröße und Religionsausübung bzw. -zugehörigkeit beruhe zu einem Gutteil auf genetischen Ursachen, da würde ich dann doch etliche Fragezeichen hinter setzten.
Im Grunde geht es hier doch um die Frage, wie frei der Mensch bei seiner Entscheidung für Kinder ist, was da letztlich den Ausschlag gibt: Eine rationale Überlegung oder das blinde Wirken einer genetischen Disposition?
(PS. Ich hätte nichts dagegen, die Diskussion hiermit zu beenden, es liegt bei Dir…)
Hi Balanus, Du schreibst:
“Diesen Einwand verstehe ich nicht so recht. Willst Du damit andeuten, dass man die evolutionäre Fitness oder den Selektionsvorteil eines Genotyps auch durch das aktuelle Zählen der Kinder pro Frau ermitteln könnte? Sicher nicht. Also auf was läuft Dein Argument hinaus?”
Ich will damit sagen, dass die spezifische Merkmalsausprägung entscheidend ist, man also letztlich auf der phänotypischen Ebene schauen muss. Das Messen der genotypischen Allelfrequenzen hilft da nur teilweise. Wenn das Allel z.B. rezessiv ist wird es nur im homozygoten Fall sichtbar werden, wenn es dominant ist wird es immer sichtbar werden. Durch das aktuelle Zählen der Kinder pro Frau UND Mann unter kontrollierten Bedingungen kann man mehr erfahren unabhängig davon ob es eine genetische Disposition gibt oder nicht.
OK lass uns die Diskussion beenden. Wir haben die wichtigsten Knackpunkte mit ihrem Für und Wider gestreift. Ich habe einiges aus deinen Äußerungen gelernt. Gerade wegen der von Dir und Anderen angezeigten berechtigten Bedenken bzgl. des Verhalten/der Einstellung, will ich ja diesen anonymen Fragenbogen haben, der nach mehr Dingen fragt.
Hallo Joe,
verstehe, das sehe ich auch so, dass berücksichtigt werden muss, wie Allele vererbt werden (rezessiv, dominant, X-chromosomal, etc.). Wird in der Regel wohl auch gemacht bei diesen evolutionsbiologischen Betrachtungen zu aktuellen gen-bedingten Erkrankungen, soweit ich das überblicke. Aber das hierbei auch mal die Kinderzahlen/Familie erhoben worden wären, ist mir noch nicht untergekommen. Wenn genetische Besonderheiten nicht unmittelbar mit der Fortpflanzungsbiologie zu tun haben, werden mögliche indirekte (psychologische) Effekte (wie in @Monas letztem Kommentar angesprochen) doch völlig von den gesellschaftlichen Umständen überlagert (siehe Kommentar von @Joachim).
Danke für Deine Diskussionsbereitschaft, jetzt verstehst Du sicher, warum Michael Blume mich von seinem Blog verbannt hat ;-).
Es gibt mit Sicherheit Menschen, die für Religion empfänglicher sind als andere. Falls Religiosität erblich ist, dann vermutlich nicht in gleicher Weise wie Musikalität oder Sprachfähigkeit, das würde m.E. eher für die Spiritualität gelten. Irgendwo las ich mal, dass Religiöse konservativer und autoritätsgläubiger wären als Ungläubige. Ich habe im Internet eine Wählerbefragung zur Bundestagswahl 2009 gefunden, die auch die Religionszugehörigkeit mit einbezieht. Und siehe da, Christen wählen bevorzugt konservative Parteien. (Siehe Link ab Seite 15)
http://www.duesseldorf.de/statistik/stadtforschung/download/49_befragung_bundestagswahl_2009.pdf
Unter Künstlerinnen (Musikerinnen, Schauspielerinnen, bildende Künstlerinnen) gibt es hingegen oft sehr unkonventionelle Individuen und auch die meisten kinderlosen Frauen, das würde also passen. (Siehe Seite 37)
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Bevoelkerungsbewegung/BroschuereGeburtenDeutschland0120007129004.pdf?__blob=publicationFile
Erbliche Religiosität /
/ @Mona
»Falls Religiosität erblich ist, dann vermutlich nicht in gleicher Weise wie Musikalität oder Sprachfähigkeit, das würde m.E. eher für die Spiritualität gelten. «
Vermutlich meinen Sie mit „nicht in gleicher Weise“, dass Religiosität nicht genetisch vererbt wird, sondern per Tradition, also auf ähnliche Weise wie politische Überzeugungen. In den Genen läge dann nur, wie stark jemand für eine Religion empfänglich ist.
Ich sehe das ganz ähnlich. Aber das heißt nicht, dass, wenn beide Elternteile zu religiösem Verhalten neigen, die Kinder dann ebenfalls diese Neigung besitzen müssten. So einfach ist der Erbgang komplexer kognitiver Eigenschaften wohl nicht. Die Zwillingsstudien, auf die Michael Blume sich diesbezüglich vor allem stützt, leisten bei weitem nicht das, was gemeinhin (von Fachfremden) angenommen wird.
In dem Buch: An Introduction to Genetic Analysis, 7th edition, von Anthony JF Griffiths et al. (2000) kann man z. B. folgendes lesen (Fettdruck von mir):
Irgendwann wird Michael Blume wohl akzeptieren müssen, dass seine These vom fortpflanzungsbedingten demographischen Verebben der Nichtgläubigen auf sehr sehr wackeligen Füßen steht.
“Vermutlich meinen Sie mit „nicht in gleicher Weise“, dass Religiosität nicht genetisch vererbt wird, sondern per Tradition, also auf ähnliche Weise wie politische Überzeugungen. In den Genen läge dann nur, wie stark jemand für eine Religion empfänglich ist.”
Solange es keine konkreten Beweise dafür gibt, dass Religiosität genetischen vererbt wird, kann das ja nur vermutet werden. Menschen mit bestimmten (genetisch bedingten?) Charaktereigenschaften sind sicher empfänglicher für Religion als andere. Und die Erziehung hat ebenfalls einen großen Einfluss darauf, wie stark jemand bestimmte Überzeugungen vertritt oder nicht. Mit der höheren Fertilität religiöser Gemeinschaften wird Michael Blume schon recht haben. Denn diese üben auf ihre Mitglieder zwar einen gewissen Gruppendruck aus, vermitteln ihnen aber gleichzeitig die Sicherheit das Richtige zu tun, wenn sie viele Kinder bekommen.
“Irgendwann wird Michael Blume wohl akzeptieren müssen, dass seine These vom fortpflanzungsbedingten demographischen Verebben der Nichtgläubigen auf sehr sehr wackeligen Füßen steht.”
Sei es wie es ist, die Zweifler sterben nicht aus und deshalb mache ich mir auch keine Sorgen, dass die Nichtgläubigen irgendwann so mir nichts, dir nichts einfach “verebben”.
Hallo @Mona, Sie schreiben:
»Mit der höheren Fertilität religiöser Gemeinschaften wird Michael Blume schon recht haben.«
Vorsicht, so pauschal wird das auch von Michael Blume nicht (immer) behauptet. Siehe seinen Blog-Artikel „Atheisten sterben nicht aus, sie verebben (nur) demografisch“:
Sie sehen, da gibt es auch laut Herrn Blume keinen naturgesetzlichen Zusammenhang zwischen Religion und Geburtenrate. Sehr schön sieht man das auch an der Fertilität der Ordensgemeinschaften, denn die ist praktisch Null, obwohl deren Mitglieder sicherlich zu den Religiösesten überhaupt zählen.
Ganz offenbar können bestimmte Gemeinschaften auch dann (demographisch?) überleben, wenn die Bestandserhaltungsgrenze von 2,1 Kindern pro Frau massiv unterschritten wird. Vielleicht funktioniert das mit den Atheisten ja genauso wie mit den Ordensleuten?
Das mit der “höheren Fertilität religiöser Gemeinschaften” habe ich in der Tat allgemein gemeint. Mir ist schon klar, dass es da einer Differenzierung bedarf.
Sie schreiben: “Sehr schön sieht man das auch an der Fertilität der Ordensgemeinschaften, denn die ist praktisch Null, obwohl deren Mitglieder sicherlich zu den Religiösesten überhaupt zählen.
Ganz offenbar können bestimmte Gemeinschaften auch dann (demographisch?) überleben, wenn die Bestandserhaltungsgrenze von 2,1 Kindern pro Frau massiv unterschritten wird. Vielleicht funktioniert das mit den Atheisten ja genauso wie mit den Ordensleuten?”
Priester und Ordensleute haben einen Sonderstatus, da sie in der kirchlichen Hierarchie höher stehen als die Laien. Sie brauchen sich nicht mit profanen Dingen zu belasten und werden von der Gesellschaft alimentiert. Im Gegenzug interpretieren sie die Lehre und geben sie weiter. Wie es aussieht haben Agnostiker und Atheisten nicht die gleiche Unterstützung wie religiöse Gemeinschaften und da sie nicht organisiert sind können sie sich dementsprechend schlechter zur Wehr setzen. Ja, es dürfen, trotz der im Grundgesetz verankerten Meinungsfreiheit, nicht mal mehr harmlose Witzchen gemacht werden ohne das sich jemand in seinen “religiösen Gefühlen” verletzt sieht. Jüngstes Beispiel ist der Kabarettist Dieter Nuhr, gegen den gerade wegen angeblicher Islamhetze ermittelt wird:
http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article133658943/Wer-hat-eigentlich-Grund-sich-beleidigt-zu-fuehlen.html
In der ZEIT stand mal ein zweiseitiger Artikel zur Ehrenrettung von Agnostikern und Atheisten. Zitat: “Was derzeit fehlt, ist ein Plädoyer für den Zweifler und den Suchenden. Denn er ist der sympathischste, ehrlichste und am wenigsten anmaßende Menschentypus. Nur wer meint, im Dienste des Absoluten zu stehen, ist intolerant und gefährlich.
Der Zweifler, der Suchende bleibt menschlich. Er gibt zu, nicht alles zu wissen, er braucht nicht gegen andere vorzugehen. Er fühlt sich von ihnen nicht bedroht, weil er weder Gralshüter noch eifernder Missionar ist. “Gott” oder was auch immer wir hierfür einsetzen mögen, mag allwissend sein, wir Menschen sind es nie, und nicht einmal die Nähe zu einem sogenannten Absoluten tut uns gut. Das Absolute liegt uns nicht, es ist nicht unsere Liga, wir sollten die Finger davon lassen.””
http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-12/zeitgeist-religion
Lieber Herr Dramiga, danke für den Hinweis, dass Herr Blume die Daten falsch auswertet.
Wer die Allbus-Studie von 2002 (Blume 2006) sorgfältig auswertet, dem fällt zunächst auf, dass sich religiöse und nicht religiöse Menschen in ihren Geburtenraten zunächst gar nicht unterscheiden. Bis zu einer Eigeneinschätzung der Religiosität bis zum Faktor 7 sind die Geburtenraten in beiden Gruppen nahezu identisch. Religiöse haben sogar etwas weniger Kinder. Erst in den höchsten Werten der extremen Religiosität (Faktor 8-10) springen die Geburtenraten dieser Teilgruppe abrupt in die Höhe.
Das Gleiche ist auch bei der Gebetshäufigkeit zu beobachten. Religiöse und Nicht-Religiöse sind in ihrem Reproduktionsverhalten nahezu identisch. Bis zur Gruppe, die dreimal monatlich betet, sind die Kinderzahlen auch hier fast gleich. Erst in der Gruppe der Personen, die wöchentlich bis täglich betet, steigen die Geburtenraten an. Die große Mehrheit der religiösen Menschen, die zu Weihnachten und zu Ostern in die Kirche gehen, verhält sich also gar nicht so anders. Lediglich der extrem harte Kern (von Sekten?) hat ein anderes Familienideal. Und dies passt auch zu den Beobachtungen an den Haredim und den Amish.
Die von Herrn Blume so häufig zitierte Studie von Dominik Enste bezieht sich nicht auf religiöse Personen, sondern auf Gottesdienstbesucher. Dies sind 4 Prozent der 60 Prozent der konfessionell Gebundenen in Deutschland, also ungefähr 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Damit ist die Grundlage der blum´schen Behauptungen also gar nicht repräsentativ für alle Religiösen in Deutschland.
Und in den weltweiten Daten sind nur die Religionszugehörigkeiten sowie die Tempelbesuche erfasst. Da aber Muslime und Juden größtenteils von Geburt an als Muslime und Juden gelten und keine freie Wahl stattfinden kann, sind diese Daten hinsichtlich der Religiosität dieser Menschen mehr als fraglich. Wer gibt schon zu Atheist zu sein, wenn er nach der Umfrage dafür hingerichtet wird? Wer sagt nein, wenn er von der Gemeinde zur Moschee abgeholt wird?
Die Aussage von Herrn Blume, dass Religiöse mehr Kinder haben ist daher wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar. Kann er oder will er dies nicht sehen? Zusammen mit den Behauptungen zu den „Religiositätsgenen“ und der „Gruppenselektion“ ist die Antwort eindeutig.
MfG
siehe Studie: Religiosität als demographischer Faktor – Ein unterschätzter Zusammenhang? Marburg Journal of Religion Volume 11, No. 1 (June 2006)
Sie schreiben: “Die von Herrn Blume so häufig zitierte Studie von Dominik Enste bezieht sich nicht auf religiöse Personen, sondern auf Gottesdienstbesucher. Dies sind 4 Prozent der 60 Prozent der konfessionell Gebundenen in Deutschland, also ungefähr 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Damit ist die Grundlage der blum´schen Behauptungen also gar nicht repräsentativ für alle Religiösen in Deutschland.”
Es geht hier ja um die Religiösen (diejenigen, die den Gottesdienst besuchen) nicht die Religionsangehörigen. Nicht die bloße Zuschreibung einer Religion (Surrogatmarker) ist wichtig sondern die Praktizierung des Glaubens (primärer Endpunkt). Die Praktizierung des Glaubens soll als Indikator der Religiösität dienen. Die 40 Prozent konfessionell Gebundenen sind also für diese Fragestellung nicht relevant. Inwiefern die individuellen Gottesdienstbesuche freiwillig sind und nicht sozialen Zwängen unterliegen oder einfach “aus Gewohnheit” gemacht werden kann man natürlich fragen. Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Im Wesentlichen geht es ja um die individuellen geistigen Einstellungen/Vorstellungen die Religiösität definieren, die man vor Beginn der Studie erfassen müsste um jemanden den Phänotyp “religiös” zuschreiben können. Hat man die individuellen geistigen Einstellungen/Vorstellungen erfasst und wenn wie? Da müsste man schon ein validiertes und etabliertes psychologisches Verfahren nennen können. Gibt es so eines und ist es bereits standardisiert? In der Demenzforschung z.B. gibt es die S3-Leitlinie “Demenzen” in der diagnostische Leitkriterien vorgegeben sind sowie Anweisungen, wie die erhobenen Befunde diagnostisch verwertet werden können. Die S3-Leitlinie wird herausgegeben von Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und Deutsche Gesellschaft für Neurologie
(DGN). Gibt es sowas auch bei den Religionswissenschaftlichen Fachgesellschaften?
@Joe Dramiga
»Im Wesentlichen geht es ja um die individuellen geistigen Einstellungen/Vorstellungen die Religiösität definieren, die man vor Beginn der Studie erfassen müsste um jemanden den Phänotyp “religiös” zuschreiben können.«
Das kritische Wort hier ist “definieren“. Die (voneinander zu unterscheidenden) Begriffe “Religiosität” und “Religion” betreffend ist nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass sie als strikt definierbare Gegenstände religionssoziologischer oder -psychologischer Untersuchungen empirisch fassbar wären. Vielmehr werden sie in diesen Wissenschaften in der Regel als diskursiv und kontextuell konstruierte Konzepte betrachtet. Es ist leider alles viel komplizierter, als mancher wohl glauben (sic!) möchte. Etwa zum Religionsbegriff:
Jakobs, M. (2002). Religion und Religiosität als diskursive Begriffe in der Religionspädagogik. Zeitschrift für Religionspädagogik, 1(1), 70-82. [PDF]
@Chrys
Jakob schreibt:
“Hier ist zu klären, um es um religiöse Funktionen geht, wie Sinngebung und
Weltdeutung, Kontingenzbewältigung, Bezug zum Transzendentem, Rituale
etc. Sind diese per se ‚religiöse’ Funktionen, Prozesse und Erscheinungsfor-
men, oder nur dann, wenn sie einen Bezug zu einem ‚religiösen’ Inhalt (‚Chri-
stentum‘) haben? Welche zusätzliche Bedeutung kommt durch die Attribuie-
rung ‚religiös‘ zustande? Wenn es sich aber um nichts anderes als Sinnge-
bung, Kontingenzbewältigung etc. handelt, kann man dann nicht auf das Attri-
but ‚religiös’ verzichten?”
“Das bedeutet: die Attribuierung „religiös“ muß nicht unbedingt durch eine
Selbstdeutung abgestützt sein; es kann sein, dass ein Mensch an religiöser
Sprache, Denkmustern, Symbolen partizipiert, ohne sich dessen bewußt zu
sein. Wenn die Einstellung eines anderen aber als ‘religiös’ qualifiziert wird,
so müssen die Kriterien von vorneherein transparent sein und als solche des
Forschenden deklariert werden.”
Es handelt sich also um die Religonswissenschaftliche Unschärferelation 😉
@Hinseher
In dem oben von @Chrys verlinkten Aufsatz heißt es:
“Auch die sozioreligiöse Typologie nach Zulehner und Denz zeigen dies. Sie unterscheiden folgende Typen:
Kirchliche: Glaube an den christlichen Gott, Kirchgang
Kulturkirchliche: Unbestimmter Gottesglaube, Kirchgang
Christliche: Glaube an den christlichen Gott, wenig Kirchgang
Kulturchristliche: Unbestimmtes Gottesbild, wenig Kirchgang
Unchristliche: kein Glaube an Gott oder eine höhere Macht, kein Kirchgang
Das Interessante ist, dass die Kriterien “christlicher Glaube” und “Kirchgang” mit der religiösen Selbsteinschätzung korrelieren. Diese These wird in einer Reihe von unterschiedlichen Untersuchungen bestätigt.”
Von daher wären die Befunde von Blume nur im Rahmen einer religionssoziologischen Studie glaubhaft aber nicht im Rahmen einer evolutionstheoretischen aufgrund einer inhärenten Unschärferelation, wenn ich @Chrys, @Balanus und Sie richtig verstanden habe.
Lieber Herr Dramiga,
danke für den Hinweis auf Zulehner und Denz. Aber diese Definitionen weisen lediglich auf eine mögliche Korrelation hin.
Da aber nicht zu klären ist, ob die erfassten Gottesdienstbesucher in der Studie von Dominik Enste religiös waren oder eben „nur“ nicht-religiöse Kirchenbesucher, können auch die Geburtenraten nicht eindeutig zugeordnet werden. Die höheren Werte in den Geburtenraten könnten ja auch von den Mitläufern her stammen;-) Daher ist die Gesamtstudie nicht dazu geeignet irgendwelche Rückschlüsse auf „Religiöse“ und „mehr Kinder als … „ zuzulassen.
Herr Blume begeht hiermit (auch in den Religionswissenschaften) einen schweren logischen und methodischen Fehler, wenn er einfach in die Gottedienstbesucher die “Religiösen” hineininterpretiert.
Aber was behauptet Herr Blume denn? Ich war bisher davon ausgegangen, dass Herr Blume aussagt, dass „Religiöse Menschen im Durchschnitt mehr Kinder bekommen, als nicht-religiöse.“
Vielleicht verstehe ich dies als Laie ja falsch. Bitte erklären Sie mir, Herr Dramiga, was Herr Blume genau sagt. Denn die Aussage scheint sich ja nicht auf „Religiöse“, sondern auf eine Teilgruppe der „Religiösen“ zu beziehen.
Auch mit dem Verb „verebben“ habe ich meine Schwierigkeiten. In der theoretischen Biologie wird es nicht verwendet und im Lexikon finde ich ihn nicht. Vielleicht könnten Sie mir auch hier in eins, zwei Sätzen erklären, was dies bedeuten soll. Mit Aussterben und rezessiven Erbgängen hat es ja anscheinend nichts zu tun.
Danke im voraus
MfG
@Joe Dramiga
Ja, die empirische Religiositäts- und Religionsforschung hat da offensichtlich ein erhebliches Messproblem.
Zugegeben ist mein Hintergrund hier ziemlich dürftig, und ich hatte auch erst anlässlich der “Balanus-Verbannung” auf NdG ein wenig nach open access Publikationen zum Stand der Erkenntnisse gesucht. Der folgende rezente Übersichtsartikel ist dabei vielleicht noch von Interesse:
Koenig, M., & Wolf, C. (2013). Religion und Gesellschaft–Aktuelle Perspektiven. Köln. Z. Soziol., 65(1), 1-23. DOI: 10.1007/s11577-013-0216-7
Speziell zur Frage nach evolutionären Aspekten und deren Einbezug wird dort auf Robert N. Bellah verwiesen. Dessen Buch von 2011 ist mir auch nicht zur Hand, jedoch ist auf der Homepage des Autors ein früherer Aufsatz erhältlich, aus dem sich Wesentliches dazu ersehen lässt:
http://www.robertbellah.com/articles.html
@Chrys
Messproblem ist höflich formuliert.
In der Chaos-Forschung versucht man Personen anhand von Videoaufnahmen im voraus zu identifizieren, die als nächstes bei Rot über die Ampel gehen und andere mitziehen könnten. Auf Flughäfen werden Personen mit „nervösem“ Verhalten mit Hilfe von Software-Programmen identifiziert. Balzende Frauen und Männer können per Software in der Kneipe identifiziert werden. Und in den Religionswissenschaften kann man nicht einmal das Verhalten von einem Jogger und einem Betenden an der Klagemauer unterscheiden.
Ist das Absicht, dass Religionswissenschaftler kein angeborenes religiöses Verhalten nennen können, welches überall auf der Welt identisch ist? Ist es angeboren, so sollte es doch jeder erkennen können! Oder ist es etwa nicht angeboren? Dann gehört die Diskussion um ADHH zur Imaginalität und nicht zum „Religiösen“.
Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Messungen im Auge des „theologischen“ Experimentators bleiben sollen. [Aber Gefühle können trügen.].
MfG
Lieber Herr Dramiga,
ja, Sie haben Recht! Gottesdienstbesucher müssen nicht religiös sein. Denken wir: an die Menschen, die ihr Leben riskieren, wenn sie sich vor der Moschee als Atheist outen; an die Ehepartner, die nur mitkommen; die Chorsänger und Orgelspieler, die im Dorf keine andere Gelegenheit haben; die Priester, die innerlich längst Atheisten sind; die Lehrer, die Klassen begleiten; die Opportunisten, die die Kirche beruflich brauchen; die Zugezogenen, die sich von den Gemeinden Vitamin-B versprechen; die Menschen, die gesellschaftliche Kontakte suchen seid sie ihre Partner verloren haben; die Menschen, die nur Riten lieben. Es gibt viele Gründe ohne Religiosität in die Kirche zu gehen, und es gibt eine Religiosität, die ohne Kirche gelebt wird. Verwechseln wir also nicht Religionszugehörigkeit mit Religiosität und mit Kirchgängertum. Dies sind drei verschieden Paar Schuhe.
Einer Studie der kath. Kirche nach, können nur 1 Prozent der Kirchgänger ihr Glaubensbekenntnis auswendig aufsagen. Damit wären nur 0,025 Prozent der Bevölkerung religiös im Sinne der Kirchenlehren. (Natürlich gibt es noch eine individuelle Religiosität ohne Kirchenlehre).
Die große Mehrheit der Light-Christen geht halt nur zu Ostern und zu Weihnachten in die Kirche. Und genau diese Gruppe, die wohl um die 60 Prozent der Bevölkerung ausmacht, ist laut Allbus-Studie 2002 in ihrem Reproduktionsverhalten mit den Nicht-Religiösen nahezu identisch.
Die Pauschalaussage – „die Religiösen“ haben mehr Kinder – stimmt so also nicht. Es müsste heißen: eine sehr kleine Teilgruppe der Extrem-Religiösen lebt andere Ideale und hat mehr Kinder. Und diese Teilgruppe führt zu einem Bias in den Studien.
Entweder Herr Blume weiß dies und tut trotzdem so, als ob dies für seine Thesen irrelevant wäre, oder er weiß dies nicht. In beiden Fällen ist es wissenschaftlich mehr als befremdlich.
Ob man Religiosität messen kann? Wenn Religiosität ein angeborenes Verhalten ist (was Herr Blume wohl behauptet), dann muss es ein Verhalten geben, welches weltweit universal vorkommt, welches von allen Menschen zu erkennen und zu beobachten ist, und welches mit Hilfe der Stoppuhr beschrieben werden kann. Biologen und Verhaltensforscher machen solche Definitionen bei Tieren seid Jahrzehnten erfolgreich. Psychologen und Mediziner haben ihre Leitlinien in der Diagnostik erarbeitet. Religionswissenschaftler hätten sogar den Vorteil, dass sie ihre Probanden zusätzlich befragen könnten, ob diese beobachtbare Verhalten mit den inneren Emotionen zum Thema übereinstimmen würden.
Aber Pustekuchen! Herr Blume kann ein solch universales Verhalten nicht einmal beschreiben, behauptet aber, dass es in den Genen liegt. Herrscht hier Willkür?
Ob es solche Messverfahren / Leitlinien zur Diagnostik von Religiosität gibt? Gegenfrage: warum gibt es sie noch nicht? Wenn Religionswissenschaftler behaupten können, dass sie ein Verhalten beobachten können, dann können sie es auch in Worte fassen und wissenschaftlich so definieren, dass es objektiv messbar wird. An Flughäfen gibt es doch auch Verhaltens-Scanner, die Schmuggler am Verhalten erkennen.
Warum tun sich Religionswissenschaftler so schwer damit, objektiv und für andere nachvollziehbar zu arbeiten. Fragen wir die Kirchen;-)
MfG
@Hinseher
»Wer die Allbus-Studie von 2002 (Blume 2006) sorgfältig auswertet, dem fällt zunächst auf, dass sich religiöse und nicht religiöse Menschen in ihren Geburtenraten zunächst gar nicht unterscheiden. Bis zu einer Eigeneinschätzung der Religiosität bis zum Faktor 7 sind die Geburtenraten in beiden Gruppen nahezu identisch.«
Diese kleine Publikation (Blume et al. 2006) wird zwar immer wieder zitiert, wenn es um den vermuteten Zusammenhang von Religiosität und Geburtenraten in Deutschland geht, aber wenn man genauer hinschaut, offenbaren sich doch einige gravierende Mängel.
Aus der ALLBUS-Erhebung von 2002 wurden nur die 35-45jährigen (N=682) in die Auswertung (2006) aufgenommen. Damit beschränken sich die Befunde auch auf diese Alterskohorte. Zweidrittel dieser Personengruppe (36,2%, n=247) war konfessionslos. In Abbildung 1 der Blum’schen Publikation werden nun die 682 Personen anhand der subjektiv empfundenen Stärke ihrer Religiosität auf zehn Gruppen verteilt. Leider erfahren wir nicht, wie viele der Befragten dieser Alterskohorte sich als „nicht religiös“ bezeichnet hat. Wenn es rund 200 waren, dann verbleiben für die übrigen neun Religiositäts-Kategorien rund 480 Personen, pro Kategorie im Schnitt also nur 53 Personen. Bei einer solch geringen Anzahl von Antworten fällt der Faktor Zufall natürlich besonders ins Gewicht. Darauf dürfte das Auf und Ab der durchschnittlichen Kinderzahl von Stufe zu Stufe der Religiosität zurückzuführen sein.
Diese Abbildung 1 mit ihren durch eine Linie verbundenen Datenpunkten soll wohl einen sachlogischen Zusammenhang zwischen mittlerer Kinderzahl und dem Grad der Religiosität suggerieren. Eine einfache Säulendarstellung wäre hier methodisch die bessere Wahl gewesen.
Es fehlen aber nicht nur die Angaben der Anzahl der Personen pro Kategorie in allen Darstellungen, sondern auch die üblichen statistischen Kenngrößen (Varianz, Spanne, etc.). Ohne diese Kenngrößen kann gar nicht beurteilt werden, ob ein Mittelwertsunterschied von sagen wir 0,3 Kindern überhaupt etwas zu bedeuten hat (oder nur der Zufallsauswahl geschuldet ist).
Gleiches gilt für die Darstellung der Kinderzahl in Zusammenhang mit der Häufigkeit des Betens. Wir wissen nicht, wie hoch der jeweilige Anteil der Nichtbeter oder der Vielbeter in der ausgewählten Subpopulation ist. Vielleicht waren es ja nur 20 Personen oder noch weniger, die angaben, täglich zu beten.
Insgesamt wird es dem Leser nahezu unmöglich gemacht, die Validität und Reliabilität vieler Aussagen zu beurteilen. Und ganz grundsätzlich ist es wohl immer etwas heikel, wenn aus einem großen Datensatz bestimmte Daten herausgefischt werden, um damit eine Hypothese zu untermauern oder zu erschüttern.
Kurzum, nach meiner Einschätzung sind die einzelnen Befunde von Blume et al. (2006) mit Vorsicht zu genießen.
Lieber Herr Balanus,
ich weiß, dass sie Recht haben. Aber was bleibt denn von Herrn Blume´s Theorie übrig, wenn wir wirklich wissenschaftlich vorgehen?
Er muss in unzulässiger Weise Gottesdienstbesucher und Religionsangehörige mit „Religiösen“ gleichsetzen und die einzige Studie , die ihm bleibt, wertet er (absichtlich?) falsch aus.
Und jetzt nehmen Sie ihm auch noch diesen letzten Strohhalm für seine Rassenlehre weg;-)
Selbst sein Doktorvater Günther Kehrer hat ihn im letzten Heft der EWE dezent darauf hingewiesen, dass seine Aussagen so nicht zu halten sind. Die Religionswissenschaftler distanzieren sich bereits von ihm, einige Politiker scheinen ihn zu lieben. Und Herr Blume weiß ja alles besser.
Trotzdem sollten wir konstruktiv sein. Daher richte ich auch an Sie meine Frage, was denn mit „verebben“ gemeint ist. Irgendwie macht dieses neue Wort keinen Sinn.
MfG
@Hinseher Es ist sinnvoll, dass Blume und seine Forscherkollegen das Verhalten “Gottesdienstbesuche” in die Erhebungen einzubeziehen. Im Gegensatz zum Spirituellen mit seiner stärkeren Hinwendung zum Individuum hat das Religiöse ja auch eine ebenso starke Hinwendung zur Gemeinschaft, also eine soziale Komponente. Dieser Ort (und gleichzeitig Institution mit Rechten einer juristischen Person) wo sich das Soziale für die Gläubigen manifestiert (besonders in Ritualen) ist die Synagoge, Kirche, Moschee etc. In dem Sinne ist die Erhebung der Gottesdienstbesuche ein Mittel der Differentialdiagnose (so nennen es die Mediziner). Es gibt ja auch religiöse Ideen wie z.B. das Verhütungsverbot, die Caritas, die Zakat oder als Utopie den Gottesstaat, die nur im Sozialen ihre Anwendung finden. Hierbei auch Ideen, die sich im negativen (Gottesstaat) oder positiven Sinne (Zakat, Caritas), auch auf Menschen ausserhalb der Glaubensgemeinschaft auswirken. Ich denke, dass ist wichtig für demographische Studien. Natürlich könnte man sich vergleichend Organisationen der nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften wie z.B. Freidenker, Humanisten, Giordano-Bruno-Stiftung anschauen.
@Hinseher
»Daher richte ich auch an Sie meine Frage, was denn mit „verebben“ gemeint ist. Irgendwie macht dieses neue Wort keinen Sinn.«
Michael Blume erklärt das so:
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/atheisten-sterben-nicht-aus-sie-verebben-nur-demografisch/
Karim Akerma plädiert sozusagen für ein friedliches Aussterben der Menschheit durch Fortpflanzungsverweigerung. In diesem Zusammenhang spricht er von einem „Verebben“ der Menschenpopulation. Michael Blume hält diese Idee Akermas für symptomatisch für Atheisten, wie Karim Akerma nun mal einer ist. Hier scheint sich für ihn eine Erklärung dafür zu finden, weshalb die Fertilität der Population der Atheisten unter 2,1 Geburten pro Frau bleibt. Daraus folgt, dass es das Schicksal der Atheisten wäre, demographisch zu verebben, sprich friedlich auszusterben, wenn, und das ist jetzt das Entscheidende, wenn nicht immer wieder neue Atheisten aus der Population der Gläubigen in die Atheisten-Population einwandern würden und Gläubige hin und wieder (zukünftige) Atheisten zur Welt brächten. Deshalb sterben Atheisten also dann doch nicht aus, obwohl sie nach wie vor demographisch verebben—oder so ähnlich…
(Das erinnert irgendwie an ein Regenfass, dessen Inhalt allmählich verebben würde, wenn nicht von oben immer wieder Wasser nachkäme.)
Wenn Sie mich fragen, dann hat sich Michael Blume da in eine Idee verrannt, von der er glaubt, dass sie gut zu seinen Thesen vom evolutionären Vorteil der Religiösen passt. Ich bin mal gespannt, wie da ohne Gesichtsverlust wieder rauskommt…
(Vielleicht gelingt es aber auch, den Begriff „Verebben“ mit neuer Bedeutung in der evolutionären Religionswissenschaft zu etablieren, wer weiß).
Sie fragen:
»Aber was bleibt denn von Herrn Blume´s Theorie übrig, wenn wir wirklich wissenschaftlich vorgehen?«
Dass die Publikation Blume et al. 2006 wenig aussagekräftig ist, bedeutet ja noch nicht, dass eine andere Datenauswertung der ALLBUS-Erhebung 2002 zu anderen Ergebnissen käme. Mir erscheint es einleuchtend, dass gläubige Menschen eher zu größeren Familien neigen als solche, die dem Fortbestand der Menschheit wenig abgewinnen können. Das sind nun aber beileibe keine neuen Erkenntnisse. Die Theorie vom evolutionären, also auch biologischen Erfolg der Religiösen kann sehr wohl weiterhin verfolgt werden. Vielleicht finden sich ja doch noch irgendwelche Daten, die diese Theorie stützen. Gelder würde ich, wenn man mich fragte, für diese Forschung aber nicht freigeben wollen.
@Balanus
Danke! Ich stimme Ihnen zu. Wenn Religiosität auf Ängsten basiert, dann korrelieren der Wunsch nach Schutz sowohl mit den Großfamilien / Gemeinden, als auch mit der Gebetshäufigkeit, als auch mit dem Kinderreichtum, um die Erwartungen an die Rollen zu erfüllen.
Religiosität wäre demnach nicht die Ursache, sondern Kinderreichtum und Religiosität hätten eine gemeinsame Ursache, die u.a. auch in dem Schutz von bzw. dem Wunsch nach Großfamilien resultieren würde.
Wenn die Allbus-Studie 2002 neu aufgelegt würde, würde sie wahrscheinlich zeigen, dass nur eine Teilgruppe der Religiösen in Europa zu dem Bias beiträgt. Religiosität wäre dann aber definitiv nicht die Ursache für Kinderreichtum, da die Mehrheit ja auch ohne Kinderreichtum religiös wäre.
Mit dem „Verebben“ kann ich immer noch nichts anfangen. Herr Blume spricht ja nicht vom Verebben des Atheismus, sondern davon, dass Atheisten verebben. Also geht es um Genträger und nicht um Überzeugungen. Und da gibt es mathematisch nicht allzu viele Möglichkeiten für eine Funktion.
Ist die Geburtenrate konstant unter dem Erhaltungswert, stirbt die „Subpopulation“ aus. Ist sie gleich dem Wert, so verebbt da auch nichts, da die Gene in der Population bleiben. Im besten Fall gibt es alternierende Amplituden um den Erhaltungswert. Herr Blume sollte sich mal die Arbeiten der theoretischen Biologie und Soziologie ansehen. Die rechnen so etwas schon seit knapp 100 Jahren.
Die einzige Möglichkeit, die ich mir vorstellen könnte, wäre, dass die postulierten „Gene“ für Atheismus bei der Meiose in jeder Generation wieder geteilt (50:50) und so langsam per Zufallsprinzip aus der Population herausgemendelt werden.
Dagegen spricht aber die enorme Zeitspanne, die bisher zur Verfügung stand, sowie die Tatsache, dass zum Beispiel im Islam – selbst nach 1400 Jahren letaler Verfolgung – mit dem arabischen Frühling tausende von Atheisten plötzlich wieder in der Öffentlichkeit vorhanden sind.
Außerdem ist jeder Gläubige ein „Atheist“ gegenüber den Überzeugungen anderer, so dass die „Gene“ für den gesunden Menschenverstand und Zweifel wohl in den Populationen bleiben. Da „verebbt“ nichts, weil da nichts auf sogenannten „Genen für Atheismus“ basiert.
Ich kann nur hoffen, dass die seriösen Religionswissenschaftler aller Fakultäten diesem Spuk an Pseudowissenschaft bald ein Ende setzen.
MfG
Ich kann nur hoffen, dass die seriösen Religionswissenschaftler aller Fakultäten diesem Spuk an Pseudowissenschaft bald ein Ende setzen.
Solange ein führender Religionswissenschaftler Probleme linearisiert:
sehe ich schwarz. (Ich würde in erster Näherung das Zerfallsgesetz [1] ansetzen. Mit den bekannten Werten komme ich nach 100 Jahren auf 51 Mio. und nach 230 Jahren auf 29 Mio. Einwohner.)
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Zerfallsgesetz
@Hinseher
»Mit dem „Verebben“ kann ich immer noch nichts anfangen.«
Ich schätze, niemand kann das, außer Michael Blume selbst. Er ist mit Sicherheit der Einzige, der diesen Begriff in diesem ganz speziellen Sinne gebraucht, also zur Beschreibung von Populationen mit zu geringer Fertilität für die Selbsterhaltung, die aber trotzdem nicht verschwinden, verlöschen oder vergehen, sondern aufgrund von Zuwanderung oder anderem Zuwachs fortbestehen, also „verebben“. Das muss man nicht verstehen, das nimmt man am besten einfach so zur Kenntnis.
Um einmal aktuell aus der hiesigen Kommentatorik zu zitieren:
Es geht hier natürlich um das Leib-Seele-Problem oder Körper-Geist-Problem, die anthropologische Seite kann als Erfahrungswissenschaft nicht mit der Biologie konkurrieren, denn beide Parteien stehen nebeneinander. [1]
Der Sprung von der biologischen auf die anthropologische Sicht kann per se nicht gelingen, sei es weil die Hirne nicht annähernd umfänglich verstanden werden können, sei es weil es einen grundsätzliche Erkenntnisvorbehalt [2] gibt.
Insofern schon ganz nett der gegenseitige Austausch und die Stellungnahme und Erklärung des hiesigen Biologen, die aber nicht konkurrieren müssen mit dem, was Herr Dr. Blume so treibt, sofern er nicht “biologistisch” wird, sondern “nur” in Erfahrungswissenschaft macht.
Es wäre aus Sicht des Schreibers dieser Zeilen schön, wenn die Religion nicht Fertilität bedeutet, es müsste eigentlich so sein, dass dies nicht der Fall ist, aber es gibt Blumsche Argumente.
MFG
Dr. W
[1] Epigenetik, hier ließe sich diese Behauptung vielleicht doch irgendwie angreifen
[2] gemeint ist hier der Skeptizismus, der annimmt, dass Erkenntnis für Systemteilnehmer, weil sei keine Weltbetreiber sind, nur unvollständig vorliegen kann; der sich zudem durchgesetzt hat im Naturwissenschaftlichen aber vielleicht auch generell, denn es wird ja nicht mehr verifiziert
@ Chrys und @ Joe Dramiga
Bei aller Schwierigkeit mit dem unscharfen Religiositäts-Begriff, in den allermeisten Fällen wissen wir, oder meinen zumindest zu wissen, welche Verhaltensweisen und Äußerungen unter diesen Begriff fallen und welche nicht.
Dennoch ist man letztlich auf die Selbstauskunft angewiesen, mit all den damit verbundenen Problemen. Wobei aber auch beobachtbares Verhalten sicherlich schon sehr aufschlussreich sein kann, wenn bewusstes Täuschen weitgehend ausgeschlossen werden kann.
Die Vorstellung davon, was Religiosität ist, hängt wohl auch davon ab, ob man selbst gläubig ist oder nicht.
Im von @Chrys verlinkten Aufsatz finden wir z. B. auch folgende Vorstellung:
Das erinnert, finde ich, schon ein wenig an das HADD, welches ja auch apriori vorhanden sein soll. Ich meine aber, das „Potential zur Selbst- und Weltdeutung“ besitzt und entfaltet jeder gesunde Mensch, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Außerdem kann jeder gesunde Mensch Phantasiewelten imaginieren. Das wären für mich die anthropologischen Konstanten, auf denen Religiosität wachsen kann. Was den religiösen Menschen aber vom nichtreligiösen unterscheidet, ist, dass der Religiöse bestimmte Erzählungen über Dinge, die außerhalb der sinnlichen Erfahrbarkeit liegen, für wahr halten kann und auch für wahr hält, während das dem Nichtreligiösen nicht möglich ist und deshalb auch nicht tut.
Summa summarum meine ich, dass Forschen über Religiosität zwar schwierig, aber nicht unmöglich ist. Also in dem Sinne, dass brauchbare Ergebnisse produziert werden. Wenn Quantenmechaniker mit der Unschärfe ihres Forschungsgegenstandes umgehen können, dann sollten es die Reli-Wissenschaftler doch auch können, oder nicht?
Sehr schön, Herr Balanus,
führen wir für die angeborenen Voraussetzungen zum Imaginieren den Begriff Imaginalität ein. Religiöse wie auch Nicht-Religiöse können sich dann alles vorstellen und sind genetisch hinsichtlich ihrer Fähigkeiten identisch.
Nicht-Religiöse sehen ihre Phantasien naturgemäß skeptisch. Und Religiöse sind kulturell darauf konditioniert zu glauben, dass sie mit Ritualen die über-empirischen Akteure dazu bewegen könnten, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen.
Die Rasse-Theorie des Herrn Blume wird zum kulturellen Artefakt. Erbgänge sind nicht notwendig und die Evolution kann außen vor bleiben.
MfG
@Balanus
»Bei aller Schwierigkeit mit dem unscharfen Religiositäts-Begriff, in den allermeisten Fällen wissen wir, oder meinen zumindest zu wissen, welche Verhaltensweisen und Äußerungen unter diesen Begriff fallen und welche nicht.«
Daraus spricht nach meinem Verständnis die Auffassung, Religiosität sei irgendwie intuitiv zu erfassen. Und das wäre dann so ziemlich genau konträr zu der Feststellung, dass Religiosität (im Rahmen wissenschaftl. Begriffsbildung) “immer diskursiv und kontextuell zu bestimmen ist” (vgl. Pirner 2006, u.a. mit Verweis auf M. Jakobs). Ich neige dazu, das eine für die laienhafte, das andere für die fachwissenschaftl. Sicht der Dinge zu halten.
Auch Hans-Ferdinand Angel zitiert schliesslich den Religionspsychologen Bernhard Grom mit der Feststellung, “daß es >die< Religiosität nicht gibt, sondern nur eine Vielfalt von Einstellungen, Erlebnis- und Verhaltensweisen“. Im übrigen ist Angel kath. Theologe und räumt ein, dass seine Disziplin nur bedingt zur Erhellung des Phänomens Religiosität beiträgt. Die primäre Zuständigkeit hierfür sieht er bei Religionssoziologen und -psychologen.
»Was den religiösen Menschen aber vom nichtreligiösen unterscheidet, ist, dass der Religiöse bestimmte Erzählungen über Dinge, die außerhalb der sinnlichen Erfahrbarkeit liegen, für wahr halten kann und auch für wahr hält, während das dem Nichtreligiösen nicht möglich ist und deshalb auch nicht tut.«
Dieses Fürwahrhalten betrifft zuvörderst auch jene, die an Astrologie, an Homöopathie, an Erdstrahlen oder Psi-Kräfte glauben. Die gelten dann aber deshalb gemeinhin noch nicht als religiös. Und es wäre weiters zu fragen, ob denn nicht jeder an etwas ausserhalb der sinnlichen Erfahrbarkeit glaubt, der von der Richtigkeit irgendwelcher Normen resp. der Gültigkeit irgendwelcher Werte überzeugt ist, denn auch diese Überzeugungen sind letztlich weder logisch noch empirisch begründbar. So einfach geht das scheinbar nicht mir dem Wesen des Religösen.
»Summa summarum meine ich, dass Forschen über Religiosität zwar schwierig, aber nicht unmöglich ist.«
Eine Unmöglichkeit von Forschung über Religiosität hat doch auch niemand behauptet, oder? Zumindest nicht in den vier oder fünf Texten, aus denen ich meine diesbezüglichen Weisheiten schöpfe.
Dieses Fürwahrhalten betrifft zuvörderst auch jene, die an Astrologie, an Homöopathie, an Erdstrahlen oder Psi-Kräfte glauben. Die gelten dann aber deshalb gemeinhin noch nicht als religiös
Natürlich nicht. “Religiös” wird ein Wahn erst genannt, wenn die geglaube Ideologie als Religion anerkannt ist. Anerkannt ist die Religion dann, wenn die Anhängerschaft politisch wirksam wird.
Solange die Schafe es nur im stillen Kämmerlein treiben, ist es aus Sicht des Staates wenig bedeutsam. Es sei denn, dass sich an Freitagen mit Datum “13.” sich die Fehlzeiten in einer wachstums- und daher standortgefährdenden Art häufen. In diesem – und nur in diesem! – Fall müssten dann die Aufklärer wie Yogeshwar ran.
Eine Religion mit staatlichem Segen ist es dann, wenn die Anhänger ihre Unterwerfung unter den Staatsauftrag erklärt haben, dann belohnt der Staat die Organisation mit Körperschaftsstatus (mit langem u) und Sitzplätzen in öffentlich-rechtlichen Talkshows.
Und es wäre weiters zu fragen, ob denn nicht jeder an etwas ausserhalb der sinnlichen Erfahrbarkeit glaubt,
1. Nennen Sie mal ein konkretes Beispiel.
2. Was sollte daraus folgen?
der von der Richtigkeit irgendwelcher Normen resp. der Gültigkeit irgendwelcher Werte überzeugt ist, denn auch diese Überzeugungen sind letztlich weder logisch noch empirisch begründbar.
Nennen Sie mal eine richtige Norm oder einen gültigen Wert, der/dem Sie anhängen. Und dann schauen wir hier gemeinsam einmal nach, woher Sie die haben und wie man die begründet oder verwirft.
Da stimme ich Dir zu.
@Hinseher
“Die Rasse-Theorie des Herrn Blume wird zum kulturellen Artefakt.”
Auf welcher Textstelle von Herrn Blume beruht Ihre Einschätzung seiner Theorien als “Rasse-Theorien”?
Herr Blume redet nicht nur von genetischen Unterschieden, sondern verwendet sogar den biologischen Artbegriff: Homo religiosus.
Dies geht an Abgrenzung und Beurteilung noch deutlich über den Rassebegriff hinaus.
MfG
Herr Blume ist weder Sozialdarwinist noch verbreitet er kulturelle “Rasse-Theorien”. Im Gegenteil: Er engagiert sich gegen Sozialdarwinisten/Rassisten und setzt sich für kulturelle und weltanschauliche Vielfalt ein. LEIDER ist es so, dass Einige nicht mehr unterscheiden zwischen dem was sie glauben Blume mit seinen Forschungsergebnissen meint und dem was er tatsächlich sagt. Dadurch muss sich Blume häufig falscher Unterstellungen erwehren.
Lieber Herr Dramiga,
nie habe ich behauptet, dass Herr Blume ein Sozialdarwinist ist. Er erklärt lediglich die Unterschiede zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen durch genetische Unterschiede. Ansonsten würde er doch nicht von einer Evolution der Religiosität und einem Verebben reden, oder? >Survival of the fittest< setzt solche Unterschiede voraus, denn sonst macht der Kinderreichtum biologisch doch gar keinen Sinn.
Herr Blume postuliert die Unterschiede ja nicht zwischen Individuen, die sich genetisch vermischen können, sondern auf der Populations- bzw. völkischen Ebene, eben der Religionsdemographie. Und wenn von den „Religiösen“ gesprochen wird, dann definiert der Marker Religiosität exakt eine Population, ein Volk, etc., welches sich durch unterschiedliche Gene von anderen Populationen, Völkern, etc. abgrenzt. Ein Staat im Staate sozusagen, oder biologisch: eine sympatrische Artbildung.
Solche Marker sind nicht nur Hautfarben, sondern auch unterschiedliche Paarungsverhalten, wie sie hier diskutiert werden.Und da in der Biologie genetische Unterschiede – aber auch Verhaltensunterschiede im Paarungsverhalten – zu Rassen und Arten führen, ist der Gebrauch des Wortes Rasse hier vollkommen legitim, solange auf der Populationsebene diskutiert wird. Es sind die Religionsgemeinschaften, die dazu auffordern, dass ihre Schäflein unter sich bleiben, und sie tun es auch.
Auch wenn Herr Blume nicht explizit von Rassen redet, so ist das Hervorheben von genetischen Unterschieden und Fortpflanzungserfolgen exakt dass, was die Rasse Homo religiosus ausmacht. Vielleicht sollte er einfach auf die – in der Biologie übliche – Individualebene zu Erklärung dieser Phänomene zurückkehren. Dann entfällt der Begriff Rasse sofort;-)
MfG
Ganz vergessen:
Für die Definition von Rassismus sind die drei ersten Merkmale ausreichend:
a) es werden genetische Unterschiede zwischen Menschen postuliert (Religiosität), die
b) den den einen zum Vorteil gereichen (Kinderreichtum), und
c) durch die Abwertung der anderen Gruppen (s. Brights).
Als d) kann noch das Gruppendenken hinzukommen (Postulierung der Gruppenselektion),
und e) die pseudowissenschaftliche Begründung der Überlegenheit einer Gruppe (z.B. wenn Gottesdienstbesuche und Religionszugehörigkeit willkürlich als Religiosität interpretiert werden).
Zum Glück findet sich ja nichts davon auf dem Nachbarblog, so dass wir nicht von Rassen oder gar latentem Rassismus reden sollten;-)
@ Hinseher :
Das klingt gar nicht so doof, allerdings scheint der Begriff der Rasse hier mutwillig oder fahrlässig hinzugebaut, Herr Dr. Blume interessiert sich, im biologischen oder “biologistischen” Sinne, für die Weitergabe von Religion, die Fertilität sicher stellen soll, auch als Fähigkeit vererbt werden kann oder könnte.
Es bringt ja nichts die denkbare oder mögliche Vererbung von Eigenschaft, auch das Kulturelle und Religiöse meinend, zu tabuisieren, sozial auszugrenzen, sofern man nicht streng politisch unterwegs ist.
In der sogenanntem Hochbegabtenforschung scheint man beispielsweise zum Schluss gekommen zu sein, dass Eltern Eigenschaften vererben, die kulturell bedeutsam sein können.
MFG
Dr. W
PS @ Hinseher :
Gerne mal die von Ihnen verwendete Rassismus-Definition webverweisen…
@Hinseher
Blume behauptet:
“Sich selbst als religiös einschätzende, vor allem religiös praktizierende Bevölkerungsschichten haben durchschnittlich deutlich mehr Kinder als jene, die ihre Religiosität nicht systematisch praktizieren oder sich selbst als nicht religiös betrachten.”
(Marburg Journal of Religion 2006, Volume 11, No. 1, p4)
Er sagt aber nicht, dass Religiosität allein die durchschnittliche Anzahl der Kinder bestimmt.
Joe Dramiga schrieb in:
„Hyperactive Agency Detection Device (HADD) und Natürliche Selektion“
„Mein Blognachbar Michael Blume von Natur des Glaubens wird des Öfteren wegen seiner Studienergebnisse zur Religiosität und Kinderzahl, persönlich und fachlich angegriffen. Fazit seiner Forschungsarbeiten: Religiöse haben im Durchschnitt mehr Kinder als Nichtreligiöse. Viele Blogleser stellen dann die Frage: Kommt dieser Unterschied im Fortpflanzungserfolg durch natürliche (gerichtete) Selektion zustande?“
Ich denke, so simplifizierend wird es auch verstanden;-)
MfG
Denken wir an PEGIDA.
Nach längerer Zeit Distanz, muss ich feststellen, dass auch größere Anteile der deutschen Bevölkerung die Hypothesen von Herrn Blume dahin gehend interpretieren, dass religiöse Gruppen andere Bevölkerungsteile auf längere Sicht verdrängen werden. Die Hypothese vom genetischen „Verebben“ lädt anscheinend dazu ein, falsch verstanden zu werden.
@Chrys /27. Oktober 2014 10:41
Angesichts der Schwierigkeit, Religion und Religiosität zu definieren, kann man über die umfangreiche Literatur zu diesen Themen nur staunen.
»Speziell zur Frage nach evolutionären Aspekten und deren Einbezug wird dort [bei Koenig, M., & Wolf, C. (2013)] auf Robert N. Bellah verwiesen.«
Wenn ich von der älteren Publikation Religious Evolution (1964) ausgehe, dann definiert R. N. Bellah Evolution primär als die Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen. Ob man das nun einen „evolutionstheoretischen Entwurf“ (Koenig & Wolf, 2013) nennen kann, also im Sinne Darwins, erscheint mir zweifelhaft. Aber das kennt man ja inzwischen, der Evolutionsbegriff ist auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen, also außerhalb der Biologie, sehr beliebt.
Religion, meint Robert N. Bellah (1964), sei schwieriger zu definieren als Evolution.
/28. Oktober 2014 0:06
»Dieses Fürwahrhalten [bestimmter Erzählungen über Dinge außerhalb der sinnlichen Erfahrbarkeit] betrifft zuvörderst auch jene, die an Astrologie, an Homöopathie, an Erdstrahlen oder Psi-Kräfte glauben. Die gelten dann aber deshalb gemeinhin noch nicht als religiös. «
Exakt! Und warum nicht? Weil die Dinge, um denen es bei der Homöopathie, den Erdstrahlen und den Psi-Kräfte geht, nichts mit dem zu tun haben, was wir intuitiv dem Religiösen zuordnen. Was dem Laien intuitiv ganz leicht fällt, kann im Wissenschaftsbetrieb erhebliche Probleme bereiten. So kann in unserem Kulturkreis der Laie offenbar den Grad seiner Religiosität mühelos anhand einer 10er Skala bewerten. Aber der Fachwissenschaftler weiß dann nur, wie viele Menschen sich wie einschätzen. Ob sie es aber wirklich sind, ob es unterschiedliche Grade der Religiosität überhaupt objektiv gibt, diese Fragen bleiben offen.
»Eine Unmöglichkeit von Forschung über Religiosität hat doch auch niemand behauptet, oder?«
Habe ich behauptet, dass das wer behauptet hätte? Es war eher vorbeugend gemeint, falls jemand meinen sollte, man könne nicht wirklich wissenschaftlich fundiert über so etwas Schwammiges (oder Unscharfes) wie Religiosität empirisch forschen…
@Ano Nym (28. Oktober 2014 7:40): »Natürlich nicht. …«
@Balanus (28. Oktober 2014 11:21): »Exakt! …«
Darf ich das als einen Konsensus darüber interpretieren, dass sich — in Übereinstimmung mit diversen angeführten religionssoziolog. Positionen — das Attribut “religiös” nicht ausschliesslich durch einen Bezug auf Überempirisches charakterisieren lässt? (Was nicht einer Behauptung widersprechen würde, dass “religiös” stets einen solchen Bezug beinhaltet oder herstellt.)
By the way, es fällt irgendwann auf, dass das Adjektiv “religiös” sowohl auf Religion wie auf Religiosität bezogen werden kann. Das kann gegebenenfalls zu Missverständnissen führen, da diese beiden Begriffe nicht gleichwertig verwendet werden. Vgl. dazu auch Sec. 5 bei Jakobs.
—
@Balanus
»Ob man das nun einen „evolutionstheoretischen Entwurf“ (Koenig & Wolf, 2013) nennen kann, also im Sinne Darwins, erscheint mir zweifelhaft.«
Wenn die Biologen einfach “Evolution” sagen, wo sie speziell “Darwinsche Evolution” meinen, ist das doch eine sprachliche Bequemlichkeit. Das Wort wurde schliesslich auch schon vor und unabhängig von Darwin verwendet. Bei einem moderneren Sprachgebrauch wären sowohl Darwinsche wie auch sozio-kulturelle Evolution dann unter dem Oberbegriff Selbstorganisation einzuordnen. Auch “Evolution” evolviert offenbar.
»Religion, meint Robert N. Bellah (1964), sei schwieriger zu definieren als Evolution.«
Es kommt mir inzwischen auch so vor, dass er damit recht hat.
»Es war eher vorbeugend gemeint, falls jemand meinen sollte, man könne nicht wirklich wissenschaftlich fundiert über so etwas Schwammiges (oder Unscharfes) wie Religiosität empirisch forschen…«
Dann wäre ja alles klar.
—
@Ano Nym
»Nennen Sie mal eine richtige Norm oder einen gültigen Wert, der/dem Sie anhängen. Und dann schauen wir hier gemeinsam einmal nach, woher Sie die haben und wie man die begründet oder verwirft.«
Andersrum ist einfacher. Wenn Sie ein “Ought” benennen können, das sich aus einem “Is” herleiten lässt, dann hätten Sie auf einen Streich gewiss mindestens ein halbes Dutzend respektabler Denker von Sockel geschossen, die auf diese oder jene Weise argumentiert hatten, dass dies nicht möglich sei.
@Chrys /28. Oktober 2014 14:11
»Wenn die Biologen einfach “Evolution” sagen, wo sie speziell “Darwinsche Evolution” meinen, ist das doch eine sprachliche Bequemlichkeit.«
Ach woher, es handelt sich hier schlicht und ergreifend um den Gebrauch eines Fachbegriffs, nämlich ‚Evolution‘; im Gegensatz zum alltagssprachlichen Wort ‚Evolution‘, das von Fachfremden synonym zu ‚Entwicklung‘ gebraucht wird. Im Übrigen war die Rede von einem „evolutionstheoretischen Entwurf“. Und da gibt es meines Wissens nur in der Biologie so etwas wie eine „Evolutionstheorie“ (bzw. diverse Theorien zum Phänomen Evolution).
»Bei einem moderneren Sprachgebrauch wären sowohl Darwinsche wie auch sozio-kulturelle Evolution dann unter dem Oberbegriff Selbstorganisation einzuordnen.«
Auch im moderneren Sprachgebrauch wäre es sicherlich sinnvoll, zwischen Fach- und Alltagssprache zu unterscheiden. Ich wüsste auch nicht, wie ich mir die Selbstorganisation z. B. des Katholizismus vorzustellen hätte.
@Balanus
»Und da gibt es meines Wissens nur in der Biologie so etwas wie eine „Evolutionstheorie“ (bzw. diverse Theorien zum Phänomen Evolution).«
Nun, man lernt bekanntlich nie aus: Soziologische Evolutionstheorie
»Ich wüsste auch nicht, wie ich mir die Selbstorganisation z. B. des Katholizismus vorzustellen hätte.«
Hier sind gerade aktuelle News zur katholischen Evolution: Pope Francis says evolution is real and God is no wizard
Danke, ich hätte es wissen müssen….
(Erst googeln, dann schreiben, … beim nächsten mal…)
@Chrys
. Noch ein Gedanke zur „soziologischen Evolutionstheorie“:
Mal abgesehen davon, dass ich es schon reichlich merkwürdig finde, für das Treiben einer Spezies eigene Evolutionstheorien entwickeln zu wollen, so scheint mir dieser Ansatz unter wissenschafts- und vielleicht auch erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten doch bemerkenswert zu sein.
Mit Darwin hat der Begriff Evolution zumindest in der Biologie ja eine ganz neue Bedeutung bekommen, neben der alten Bedeutung „Entwicklung“. Unter den Begriff ‚Evolution‘ im darwinschen Sinne fallen auch alle Strategien, die helfen, die Existenz der Population zu sichern. Im Falle des Homo sapiens wäre das u. a. das Schaffen von sogenannten Sozialsystemen.
Nachdem sich nun in der Biologie die „Evolutionstheorie“ so weit durchgesetzt hat, dass von einer „Theorie“ gar nicht mehr gesprochen wird, sondern nur noch von dem Faktum der Evolution, gibt es offenbar noch das Bedürfnis nach einer allgemeinen, universellen, übergreifenden Evolutionstheorie, also eine Art Superevolutionstheorie, unter der sich dann die speziellen Evolutionstheorien der Biologen, Soziologen und Kulturwissenschaftler einordnen lassen.
Das heißt, auf Grundlage der Evolution biologischer Systeme wird versucht, eine Theorie zu entwickeln, um bestimmte Grundprinzipien, von denen man meint, sie seien elementar für natürliche Evolutionsprozesse, auch auf nichtbiologische Systeme anwenden zu können (in Modellen und so). Als nichtbiologische Systeme wären hier sämtliche Produkte tierlicher und menschlicher Aktivitäten anzusehen, vom einfachen Spinnennetz bis zum aufwendigen Waffen- oder Regierungssystem.
Ich frage mich ernsthaft, ob hieraus wirklich ein besonderer Erkenntnisgewinn gezogen werden kann hinsichtlich der treibenden Kräfte, die den soziologischen und kulturellen Wandel befeuern.
@Balanus
Diese kritische Sicht auf eine “Superevolutionstheorie” scheint mir anzuknüpfen an an bereits früher kommentierte Anmerkungen, wie etwa [hier]:
»Mir bleibt unverständlich, wieso Gerhard Vollmer in seinem Aufsatz „Menschliches Erkennen aus evolutionärer Sicht“ (in: Springer, 2011) meint, „dass man den Evolutionsbegriff sehr fruchtbar als integratives Konzept benutzen“ könne und glaubt, aufeinanderfolgende „Phasen der Evolution“ vom Urknall bis zu den Wissenschaften ausmachen zu können. Zumal er durchaus erkannt hat, dass sich die jeweiligen „Evolution“-Phasen durch unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten auszeichnen (was für eine allumfassende und integrative Evolutionstheorie wohl eher ungünstig ist).«
Und [hier]:
»Interessant, dass Janich die in der Grafik des Beitrags dargestellte universelle Evolution vom Urknall bis zu den Wissenschaften offenbar als „naiven naturhistorischen Realismus“ betrachtet.«
Sich einen Überblick zum Evolutionsbegriff in der Soziologie zu verschaffen, fällt einem Fachfremden wie mir ohnehin nicht ganz leicht, noch wird es einem online nennenswert erleichtert, weil das publizierte Wissen i.a. hinter mir unüberwindlichen Paywalls verborgen bleibt. Trotz dieser Einschränkungen ist es nachvollziehbar, dass Robert N. Ballah keineswegs eine auf dem Darwinismus aufbauende oder aus diesem abgeleitete Superevolution im Sinn hatte, wo er schreibt,
Der evolutionäre Aspekt hat soziologisch seine eigene Tradition und Berechtigung. Das ist mit dem Hinweis auf Comte auch ziemlich offensichtlich, denn der starb 1857 und kann schwerlich von Darwin inspiriert gewesen sein. Tatsächlich ist die Idee einer sozialen Evolution wesentlich älter als die einer biologischen, wie der Anthropologe Christopher Hallpike konstatiert:
Hallpike, C. R. (1985). Social and biological evolution I. Darwinism and social evolution. J. Social Biol. Struct., 8(2), 129-146.
DOI: 10.1016/0140-1750(85)90006-5
Im Abstract zu diesem Paper stellt Hallpike auch unmitelbar klar, dass die Prinzipien Darwinscher Evolution sich nicht einfach fur soziale Systeme übernehmen lassen. Der soziologische Evolutionsbegriff ist jedenfalls als ein eigenständiges Konzept zu betrachten.
Die Blumesche Graphik mit der Vollmerschen Superevolution scheint mir dann auch durchaus eine Fehldeutung zu suggerieren, da kann ich nicht widersrechen. Den Text von Vollmer kenne ich allerdings nicht.
@Chrys
. Sicher, der Evolutionsgedanke (bez. Organismen, Gesellschaften) ist älter als die darwinsche Evolutionstheorie. Aber er war und ist eben primär die Vorstellung von der Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten (wozu auch die „Selbstorganisation“ passt). Seit Darwin liegt aber der Fokus auf dem Prozess des Wandels des Bestehenden. Moderne soziologische Evolutionstheorien stellen nun offenbar auch den Wandel in den Mittelpunkt. Oder versuchen es zumindest.
Nach meinem Eindruck als (ignoranter) Laie (!) ist die Idee einer soziologischen Evolutionstheorie seit Comte et al. ein totgeborenes Kind, das man immer wieder versucht, wiederzubeleben. Man braucht ja nur mal die Fächer Biologie und Soziologie zu vergleichen. Kann man heute mit Recht sagen: Nichts in der Soziologie ergibt einen Sinn, außer im Lichte der Evolution? (wobei man wieder fragen müsste, was denn genau mit „Evolution“ gemeint sei).
Beim Schreiben des Postings mit der „Superevolutionstheorie“ stand ich unter dem Eindruck des Aufsatzes von Bernd Giesen und Michael Schmid: System und Evolution – Metatheoretische Überlegungen zu einer soziologischen Evolutionstheorie, in Soziale Welt (1975). Den habe ich auf JSTOR überflogen. Nach Anmeldung kann man dort alle 14 Tage kostenfrei drei Arbeiten online lesen. So z. B. auch den Aufsatz von Christoph Antweiler, der einen Überblick über die diesbezügliche neuere Literatur gibt: Social Evolution Revisited. Recent Trends in a Genuine Field of Anthropological Research, in: Anthropos, Bd. 100, H. 1. (2005).
»Der soziologische Evolutionsbegriff ist jedenfalls als ein eigenständiges Konzept zu betrachten.«
Vielleicht kommt es ja eines Tages dazu, dass, wenn einfach nur der Begriff „Evolution“ fällt, man automatisch an sich wandelnde soziale Systeme denkt.
@Balanus Du schreibst:
“Sicher, der Evolutionsgedanke (bez. Organismen, Gesellschaften) ist älter als die darwinsche Evolutionstheorie. Aber er war und ist eben primär die Vorstellung von der Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten (wozu auch die „Selbstorganisation“ passt). Seit Darwin liegt aber der Fokus auf dem Prozess des Wandels des Bestehenden. Moderne soziologische Evolutionstheorien stellen nun offenbar auch den Wandel in den Mittelpunkt. Oder versuchen es zumindest.”
Wenn wir verschiedene Kriterien für natürliche und kulturelle Evolution benutzen, dann sind Wandelbarkeit und Entwicklung die kleinsten gemeinsamen Nenner um auf beide Bereiche den Begriff Evolution anwenden zu können. Wandelbarkeit und Entwicklung wären dann notwendige aber keine hinreichenden Kriterien für eine Evolution im Darwinschen Sinne.
Die natürliche Selektion, als eine der Triebkräfte der natürlichen Evolution, hat im Gegensatz zur künstlichen Selektion kein Ziel. Die genetische Variation entsteht in der natürlichen Evolution zufällig. Gilt das auch für die Variation in der kulturellen Evolution?
Wenn wir die Andersartigkeit der kulturellen Evolution zulassen räumen wir damit nicht ein, dass sie nicht im Darwinschen Sinne sondern eher im Lamarckschen Sinne verläuft?
Wenn ich sage menschliche Werkzeuge, soziale Systeme oder Sprachen evolvieren kann ich das im Darwinschen Sinne tun? Wenn ja warum, wenn nein warum nicht?
Hallo @Joe,
ich versuche mal, auf die nicht ganz einfachen Fragen, die Du da aufgeworfen hast, zu antworten:
»Wenn wir verschiedene Kriterien für natürliche und kulturelle Evolution benutzen,… «
…dann fängt m. E. damit das Elend schon an. Mit „natürlicher Evolution“ ist kann wohl nur die Evolution gemeint sein, also jenes andauernde Naturgeschehen, das die Vielfalt der Lebensformen erklärt.
Im Begriff „kulturelle Evolution“ hat Evolution primär die Bedeutung von „Entwicklung“ (vom Einfachen zum Komplizierten), auch wenn manche sagen, kulturelle Evolution bedeute in erster Linie kultureller Wandel. In der Verbindung mit „kulturell“ erklärt der Begriff „Evolution“ überhaupt nichts, hier ist er, so scheint mir, ebenso rein deskriptiv wie seine Synonyme „Entwicklung“ und oder eben „Wandel“.
»…dann sind Wandelbarkeit und Entwicklung die kleinsten gemeinsamen Nenner um auf beide Bereiche den Begriff Evolution anwenden zu können. «
Ich verstehe das jetzt so: Bei dem evolutionären Geschehen in der Natur können wir Wandel beobachten und rückblickend hier und da Entwicklungen nachzeichnen. Bei kulturellen Artefakten ist es ganz ähnlich, wir sehen Wandel und Entwicklungen. Folglich, so der (Fehl)Schluss, haben wir es auch im Bereich der Kultur (im gewissen Sinne) mit einem evolutionären Geschehen zu tun, oder zumindest mit einem Geschehen, das mit dem Naturprozess Evolution bestimmte Gemeinsamkeiten aufweist.
Ich denke, es gibt da keinen kleinsten gemeinsamen Nenner, der sinnvoll anzuwenden wäre. Entweder es handelt sich um Evolution, oder eben nicht. Nicht alles, was rot ist, ist ein Apfel. Und nicht alles, was wie ein natürlicher Apfel aussieht, schmeckt auch wie auch einer.
»Wenn wir die Andersartigkeit der kulturellen Evolution zulassen räumen wir damit nicht ein, dass sie nicht im Darwinschen Sinne sondern eher im Lamarckschen Sinne verläuft?«
Man kann niemandem verbieten, kulturelle Entwicklungen oder kulturellen Wandel als „kulturelle Evolution“ zu bezeichnen, und ich kenne auch niemanden, der nicht von der völligen Andersartigkeit der kulturellen „Evolution“ ausgehen würde. So wie es natürliche und künstliche Äpfel gibt, so mag es auch die natürliche und eine kulturelle Evolution geben. Aber das eine ist Evolution, und das andere sieht nur aus wie Evolution.
Lamarck versuchte die Evolution durch den aktiven Erwerb von Merkmalen und Eigenschaften zu erklären. Er hat also die tatsächlichen Mechanismen der Evolution nicht erkannt. Mir ist jetzt nicht ganz klar, wie ich das mit der Idee von der kulturellen Evolution zusammenbringen könnte. Außer vielleicht, dass auch die kulturellen Evolutionstheoretiker die Mechanismen der Evolution nicht ganz verstanden haben.
»Wenn ich sage menschliche Werkzeuge, soziale Systeme oder Sprachen evolvieren kann ich das im Darwinschen Sinne tun? Wenn ja warum, wenn nein warum nicht?«
Meine Antwort wäre Nein, warum, siehe oben.
(Im Übrigen halte ich es für ziemlich fragwürdig, soziale Entwicklungen und Veränderungen als Evolution zu bezeichnen, grad so, als hätte der Mensch keinen Einfluss darauf. Wir sind aufgefordert, unsere Werkzeuge und sozialen Systeme aktiv zu unserem besten Nutzen zu gestalten; die Sprache hingegen fällt wohl in eine andere Kategorie.)
Prozesse des Wandels / @Balanus
»Man braucht ja nur mal die Fächer Biologie und Soziologie zu vergleichen. Kann man heute mit Recht sagen: Nichts in der Soziologie ergibt einen Sinn, außer im Lichte der Evolution?«
Zum Zwecke des Vergleichs sei einmal spekulativ angenommen, Ötzi wäre während seiner ca. 5,300 Jahre im Gletschereis so schadlos geblieben, dass man ihn hätte reanimieren können. Welcher den Menschen betreffende, zwischenzeitlich vollzogene Wandel wäre ihm dann wohl zuerst aufgefallen, der biologische oder der sozio-kulturelle?
Ötzi /@Chrys
. »Zum Zwecke des Vergleichs […] Welcher den Menschen betreffende, zwischenzeitlich vollzogene Wandel wäre ihm [Ötzi nach erfolgreicher Reanimation] dann wohl zuerst aufgefallen, der biologische oder der sozio-kulturelle?«
Ich schätze, ihm wäre rasch aufgefallen, dass sich die Art des Zusammenlebens der Menschen geändert hat, und dass neuerdings viele merkwürde Gegenstände hergestellt werden können. Das zu erkennen erfordert wohl keine allzu große intellektuelle Anstrengung. Ob er aber auf die Idee käme, dass sich in der neuzeitlichen Benutzung eines Essbestecks ein evolutionärer Wandel offenbart, darf bezweifelt werden, das müsste ihm ein Soziologe erst mal erklären. Denn es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass menschliche Verhaltensweisen und die Art, wie Menschen ihr Zusammenleben organisieren, als evolvierbare bzw. wandelbare Gegenstände betrachtet werden können. Darauf muss man ja erst mal kommen (im Gegensatz dazu waren und sind in der Natur die wandelbaren Dinge einfach vorhanden, es musste „nur“ erkannt werden, dass diese konkreten Dinge einem zeitlichen Wandel unterliegen).
Das sogenannte „sozio-kulturelle System“ ist also letztlich eine reine Konstruktion, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einmal dadurch, dass Menschen sich zu Gemeinschaften zusammenschließen, und zum Zweiten dadurch, dass er diese von ihm geformten Gemeinschaften als „soziale Systeme“ mit bestimmten „Eigenschaften“ betrachtet.
Gut, dass Du anhand des reanimierten Ötzis (schöner Einfall übrigens!) noch mal dezidiert auf das gravierende unterschiedliche wissenschaftliche Niveau der biologischen und soziologischen Evolutionsvorstellungen hingewiesen hast!
(Der Ötzi hätte sich sicherlich auch gefragt, wo denn all die Ungläubigen hergekommen sind in seiner Heimat, und wieso nur noch so wenige an das Wirken überempirischer Akteure glauben.)
@Balanus
“Der Ötzi hätte sich sicherlich auch gefragt, wo denn all die Ungläubigen hergekommen sind in seiner Heimat, und wieso nur noch so wenige an das Wirken überempirischer Akteure glauben”
Falls er nicht vieles. was so um ihn herumgeht, und mit dem alle Welt umgeht, durch letzlich “überempirische Akteure” bewirkt sieht.
@Balanus
In der britschen TV Serie Catweazle gelang einem Magier aus dem 11. Jhdt. ein Zeitsprung um 900 Jahre in die Zukunft. Dort bemerkte er (nach Vorstellung des Autors natürlich) vor allem die Fortschitte in der Magie, wobei er “electricity” und “telephone” als “electrickery” und “telling bone” verstand. Für Ötzi wäre unsere Gegenwart vermutlich eine Welt voller magischer Rituale, und ich meine auch, dass er “Ungläubige” kaum so ohne weiteres für ungläubig erachten würde. Vielleicht hielte er diese Leute nur für eine etwas spezielle Sekte, was dann eigentlich doch gar nicht so falsch wäre.
»(im Gegensatz dazu waren und sind in der Natur die wandelbaren Dinge einfach vorhanden, es musste „nur“ erkannt werden, dass diese konkreten Dinge einem zeitlichen Wandel unterliegen).«
Was in der Biologie als Spezies bezeichnet wird, ist ebenfalls nicht in der Natur einfach vorhanden. Die biologische Taxonomie ist ein geistiges Konstrukt, und es ist menschliches Denken, das die Kriterien zur Unterscheidung von Subspezies, Spezies, etc. festlegt. Auf die Darwinsche Evolution kommt man eben auch nicht durch schlichtes Betrachten konkreter Gegenstände. (Bei dieser Gelegenheit sei zudem auf diesen, mit Social Evolution betitelten Artikel von C. R. Hallpike bei JSTOR hingewiesen.)
Von Evolution wird ja speziell noch mit bezug auf Sprache(n) geredet, auch bei wissenschaftl. Wortgebrauch, vgl. etwa The mystery of language evolution. Unsere Sprache ist zweifellos kein gottgegebener, konkreter Gegenstand, und hierbei von Evolution zu reden wird i.a. dennoch für plausibel und zutreffend gehalten.
@ Chrys :
“Catweazle” oder “Ötzi” wären im Idealfall klug genug, um einerseits diese Welt als “magisch” (‘magher’, altiranisch, die ‘Macht’ spielt hier hinein) zu betrachten und andererseits die zeitgenössische Konzept- oder Begriffs- oder Wortwahl als auf bestimmter Ebene oder Systemgranularität (das Fachwort) als ‘plausibel’ (“zustimmungsfähig”).
KA, was es hier überhaupt näher zu erörtern gibt.
MFG
Dr. W
@Chrys Was Darwin über die Evolution von Sprache dachte und warum es für ihn ein sehr wchtiges Thema war Die Website “Darwin Correspondence Project hat mehr als 7500 Briefe Darwins online gestellt.
@Chrys
. »Für Ötzi wäre unsere Gegenwart vermutlich eine Welt voller magischer Rituale,… «
Dieser Vermutung kann ich mich durchaus anschließen, schließlich fehlen dem Ötzi rund 5000 Jahre kultureller Entwicklung (also „Evolution“ im herkömmlichen Wortsinne).
»…und ich meine auch, dass er “Ungläubige” kaum so ohne weiteres für ungläubig erachten würde.«
Auch das dürfte stimmen. Es gibt ja genug Leute, die nun nicht 5000 Jahre im Eis verbracht haben, aber dennoch von „Wissenschaftsgläubigkeit“ reden. In einer »Welt voller magischer Rituale« ist eben alles irgendwie magisch.
»Was in der Biologie als Spezies bezeichnet wird, ist ebenfalls nicht in der Natur einfach vorhanden.«
Sorry, ich hätte deutlich machen müssen, dass ich mit „Natur“ nicht allein die belebte Natur meine, gerade weil es ja um Evolutionsprozesse ging, wäre das an dieser Stelle wichtig gewesen.
Nein, was ich meinte, ist z. B. die Erkenntnis, dass ein Flusstal nicht schon immer ein Flusstal war, sondern mit der Zeit entstanden ist. Und dass Gebirge nicht von Anbeginn der Zeit an vorhanden waren, sondern sich irgendwann aufgetürmt haben. Und so weiter und so fort. Diese Erkenntnis vom Wandel der natürlichen konkreten Dinge über gigantische Zeiträume hinweg war für Darwins Entwicklung einer Evolutionstheorie der Organismen von zentraler Bedeutung. Desgleichen gilt für die Erkenntnis, dass die Erde deutlich älter sein muss als 6000 Jahre. Und klar, auf so etwas kommt man nicht »durch schlichtes Betrachten konkreter Gegenstände«. (Bei dieser Gelegenheit sei für den Link zu Hallpike auf JSTOR gedankt!)
»Von Evolution wird ja speziell noch mit bezug auf Sprache(n) geredet, auch bei wissenschaftl. Wortgebrauch, vgl. etwa The mystery of language evolution.«
In diesem Aufsatz von MD Hauser et al. (Front Psychol 2014; 5: 401) lese ich:
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. „Sprache“ wird in diesem Aufsatz als gottgegebenes phänotypisches Merkmal betrachtet (grad wie in The mystery of eye evolution)).
Ad Christopher R. Hallpike /@Chrys
Hallpike schreibt in seinem Aufsatz Social Evolution:
(Christopher R. Hallpike. Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE) / Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Vol. 152, No. 4 (December 1996), pp. 682-689)
Mit Verlaub, so etwas erinnert mich stark an eine „Verschwörungstheorie“. Man liest dergleichen ja öfter, aber außer, dass Darwin in eben dieser Zeit mit eben diesen Zeitgenossen gelebt hat und sicherlich auch Kenntnis von bestimmten einschlägigen Äußerungen hatte, sind die Belege für die obige starke Behauptung äußerst dünn.
Wenn man Darwins ON THE ORIGIN OF SPECIES liest, wird Spencer nur einmal im Zusammenhang mit Züchtungen erwähnt (Marx natürlich gar nicht). Der von Hallpike angesprochene Wettbewerbsgedanke war in der Biologie längst etabliert und brauchte von Darwin nur aufgegriffen werden:
Was entgegnet hierauf der Verschwörungstheoretiker? Wohl etwas in der Art: Darwin hat es eben gut verstanden, die wahre Quelle seiner Inspiration zu verschleiern.
@Balanus
Nach meinem Verständnis wären geomorphologische Vorgänge wie Gebirgsauffaltung eigentlich eher vergleichbar mit morphogenetischen als mit evolutionären Prozessen bei lebenden Organismen. Wäre der Paricutín ein Lebewesen, so liesse sich sagen, man habe den “Lebenszyklus” dieses Vulkans von seiner Entstehung 1943 bis zur Einstellung aller messbaren Aktivität 1952 mitverfolgt, sozusagen vom Ei bis zum Exitus. Da die Biologie mit unterschiedlichen Formen von Dynamik zu tun hat, ist es schon sinnvoll, zwischen diesen auch terminologisch zu unterscheiden.
Wenn von der “Evolution des Auges” die Rede ist, dann ist mit “Auge” in diesem Kontext demzufolge nicht ein konkreter Gegenstand gemeint, sondern ein strukturelles Element, das gewissen organischen Lebensformen zukommt. Jedes konkrete Auge absolviert immert nur einen morphogenetischen Prozess, wohingegen die “Evolution des Auges” sich auf Variationen solcher morphogenetischen Prozesse über Generationen bezieht. Das “evolvierende Auge” ist dann also kein Gegenstand, der unmittelbar beobachtbar wäre, sondern eine Abstraktion.
Bei der “Evolution von Sprache” ist es von vornherein etwas diffiziler, weil sich das einerseits auf biologische Bedingungen von Sprechfähigkeit wia auch andererseits auf die linguistischen Aspekte von Sprache beziehen lässt. Aber in keinem dieser Kontexte ist Sprache ein Konkretum, dessen “evolutionärer Wandel” direkt observabel wäre.
»Mit Verlaub, so etwas erinnert mich stark an eine „Verschwörungstheorie“.«
Das habe ich jetzt noch nicht recht verstanden, was es da mit einer “Verschwörungstheorie” auf sich haben soll.
@Chrys
Ach ja, das mit der „Verschwörungstheorie“: Gemeint war: Man unterstellt Darwin mit Blick auf die Evolutionstheorie Dinge, die er nicht getan hat oder für die es keine Belege gibt, so wie man z. B. der CIA mit Blick auf den Anschlag auf das WTC Dinge unterstellt, die sie nicht getan haben oder für die es keinerlei Beweise gibt.
In Punkto Darwin lehne ich mich natürlich weit aus dem Fenster, aber schaun wir mal.
@Chrys
Mir scheint, hier liegt ein kleines Missverständnis vor. Du schreibst:
»Nach meinem Verständnis wären geomorphologische Vorgänge wie Gebirgsauffaltung eigentlich eher vergleichbar mit morphogenetischen als mit evolutionären Prozessen bei lebenden Organismen.«
Das klingt, als hätte ich die geologischen Veränderungen irgendwie mit Evolution verglichen oder gar gleichgesetzt.
Ich hatte aber bloß geschrieben, dass „in der Natur die wandelbaren Dinge einfach vorhanden [sind]“, wobei es allein darum ging, dass diese Wandelbarkeit nicht ohne Weiteres zu erkennen ist (im Gegensatz dazu kann ein kultureller Wandel von heute auf morgen stattfinden, liegt also offen zutage).
»Wenn von der “Evolution des Auges” die Rede ist, dann ist mit “Auge” in diesem Kontext demzufolge nicht ein konkreter Gegenstand gemeint, sondern ein strukturelles Element…«
Was genau ist der Unterschied zwischen einem konkreten Gegenstand und einem strukturellen Element?
Aber ich stimme zu, das “evolvierende Auge” ist »kein Gegenstand, der unmittelbar beobachtbar wäre, sondern eine Abstraktion«. Das ändert aber nichts daran, dass das Auge ein konkretes Ding ist.
»Bei der “Evolution von Sprache” ist es von vornherein etwas diffiziler, weil sich das einerseits auf biologische Bedingungen von Sprechfähigkeit wia auch andererseits auf die linguistischen Aspekte von Sprache beziehen lässt. Aber in keinem dieser Kontexte ist Sprache ein Konkretum, dessen “evolutionärer Wandel” direkt observabel wäre.«
In dem von Dir erwähnten Aufsatz von Hauser et al. wird die Sprache (gemeint ist wohl das Sprachvermögen) aber als phänotypisches Merkmal betrachtet, vergleichbar mit dem Auge oder sonst einem konkreten Strukturelement. Im Gegensatz dazu meintest Du jedoch: »Unsere Sprache ist zweifellos kein gottgegebener, konkreter Gegenstand, und hierbei von Evolution zu reden wird i.a. dennoch für plausibel und zutreffend gehalten.«.
Und die Frage bleibt, ob überhaupt sinnvoll von einem „evolutionären“ Wandel der Sprache gesprochen werden kann.
@Balanus
Ja, womöglich kleine Missverständnisse infolge unterschiedlicher Denk- und Sprechgepflogenheiten von Biologen im Vergleich zu Nicht-Biologen. So etwas kann passieren, daher bringe ich noch einmal etwas aus nicht-biologischer Perspektive.
Die Encyclopedia of Nonlinear Science (A. Scott, ed., Routledge, 2005) hat einen von dem Theoret. Chemiker Peter Schuster verfassten Eintrag zu Biological Evolution (und nicht etwa nur Evolution). Dort heisst es:
Das mag vielleicht als neo-Darwinstisch durchgehen, von Genotyp konnte Darwin 1859 noch nichts wissen. Aber diese Charakterisierung ist sicherlich über Fachgrenzen hinweg nachvollziehbar und nach heutigem Verständnis sachlich angemessen.
In einem verallgemeinerten Sinne liesse sich von Darwinscher Evolution dann auch dort reden, wo “Genotyp” und “Phaenotyp” in hinreichender Analogie zum biologischen Vorbild interpretierbar wären. In Hinblick auf kulturelle Evolution ist das gewiss nicht der Fall. Aber in Hinblick auf artificial life Simulationen etc. kann es schon von Interesse sein, eine Darwinsche Evolution quasi auf einer anderen als der biologischen “Hardware” laufen zu lassen.
»Und die Frage bleibt, ob überhaupt sinnvoll von einem „evolutionären“ Wandel der Sprache gesprochen werden kann.«
Wenn wir das von den Biologen gekaperte Wort “Evolution” vom Schatten Darwins befreit haben, steht einer “Evolution von Sprache” grundsätzlich nichts mehr im Wege. Seit geraumer Zeit hat sich auch Murray Gell-Mann diesem Thema gewidmet, dazu hier sein Aufsatz Complex adaptive systems incl. anschliessender Diskussion, den er zu einem Workshop am Santa Fe Institute beigetragen hatte. Auf p. 23 kommt er dann zur Sprachevoluton.
@Chrys
»… Eintrag zu Biological Evolution (und nicht etwa nur Evolution).«
Klar, wenn man „Evolution“ (engl.) auch im Sinne von Entwicklung/Wandel gebraucht, muss man das „biologisch“ voranstellen, damit der Leser weiß, wovon jeweils die Rede ist.
(Peter Schuster, 2005)
Das klingt in meinen Ohren schon ziemlich schief: Fitness als Eigenschaft des Phänotyps. Ich bin ja nun kein Evolutionsbiologe, geschweige denn Populationsgenetiker, aber die evolutionstheoretische „Fitness“ ist, soweit ich weiß, vor allem eine statistische Größe. Wenn ein mutiertes Gen über Generationen hinweg positiv selektiert wird (d. h., sich in einer Population anhäuft), dann schreibt man diesem Gen eben eine entsprechend höhere „Fitness“ zu.
Unter anderem deshalb, Evolution primär ein mathematisch-statistisch beschreibbares Phänomen ist, eignen sich Evolutionsprozesse hervorragend für Computersimulationen.
»Wenn wir das von den Biologen gekaperte Wort “Evolution” vom Schatten Darwins befreit haben, steht einer “Evolution von Sprache” grundsätzlich nichts mehr im Wege.«
Ja, das ist dumm gelaufen, dass man den Prozess der Entstehung der Artenvielfalt „Evolution“ genannt hat. Ich vermute mal, dass auch in Zukunft sich viele von diesem Begriff in die Irre führen lassen. Man kann ja schon froh sein, wenn Evolution als Faktum überhaupt anerkannt wird, auch wenn damit oft die falsche Vorstellung von Entwicklung verbunden wird. Wenn man ein religiös gläubiger Mensch ist, geht das wohl gar nicht anders.
Gegen eine „Evolution des Sprachvermögens“ ist überhaupt nichts einzuwenden. Aber Sprache als solche ist bereits ganz überwiegend Kultur, und da wird es eben mit Evolutionsbegriff, sofern er aus der Biologie stammt, sehr sehr schwierig.
Ich habe den Aufsatz von Murray Gell-Mann jetzt (noch?) nicht eingehend studiert, aber zu der ersten Frage aus der Diskussion hätte ich eine Frage: Was bedeutet „adaptive“ im Zusammenhang mit Sprache? Dynamisch ja, aber adaptiv?
Mir ist da noch ein Gedanke oder Argument eingefallen: Wenn die Evolution der Organismen, oder sagen wir besser, die Entstehung der organismischen Vielfalt, grob vereinfachend durch die Mechanismen Zufallsvariation und natürliche Selektion erklärt werden kann, ist es dann wissenschaftstheoretisch zulässig bzw. sinnvoll, überall da, wo wir Variation und Selektion zu entdecken meinen, nun ebenfalls von „Evolution“ zu sprechen?
Das Paradigma der Evolution, also der Entwicklung, ist das Werden der Eizelle zum „reifen“ Organismus. Entscheidend ist, daß etwas, was im „Ursprung“ der Möglichkeit nach (oder der „Idee“ nach) schon vorhanden ist, sich ent-wickelt, daß die „Anlagen“ Realität werden, daß eine ursprüngliche Einheit sich zu etwas Vielfältigem ent-faltet. Das geschieht „normalerweise“, wobei dieser Begriff einen teleologischen Sinn haben kann oder auch nicht (sondern vielleicht im Sinne einer „Teleonomie“ gemeint ist). Nie hat der Begriff Evolution eine andere Bedeutung gehabt. Wenn wir von der Reifung einer Persönlichkeit sprechen, wenn wir davon sprechen, daß sich aus irgendwelchen anfänglichen Ideen heraus eine Kultur oder ein Staat ent-wickelt hat, dann verwenden wir diesen Begriff richtig.
Daß man das, was mit dem Namen Darwin verbunden ist, „Evolution“ nennt, ist einfach ein Fehler. Wie es zu ihm kam, weiß ich nicht, meine mich aber zu erinnern, daß Ernst Mayr dazu geschrieben hat. Es war ein folgenreicher Fehler, denn dadurch wurden teleologische Mißdeutungen der Darwin’schen Theorie begünstigt. In dieser Theorie gibt es nicht den Gedanken eines sich entfaltenden Ursprungs. Vielmehr steht in keiner Weise am Anfang fest, wie die „Entwicklung“ (die keine ist) verlaufen wird oder soll. Sie hängt im wesentlichen von zufälligen Ereignissen ab – unabhängig davon, daß es natürlich Einschränkungen der Möglichkeiten für Veränderungen durch das, was bisher entstanden ist, gibt.
@Chrys: Die „Selbstorganisation“ des Lebens oder des „Universums“ insgesamt kann man sicher als Evolution betrachten, aber man sollte sich darüber im Klaren sein, daß das Metaphysik ist. Es gibt naturwissenschaftlich keine Möglichkeit, festzustellen, ob „am Anfang“ (kein naturwissenschaftlicher Begriff!) es eine bestimmte Beschaffenheit des „Universums“ gab, in dem die „normalerweise“ durch Entfaltung entstehenden späteren Gestalten schon „angelegt“ sind.
Was die Menschengeschichte angeht, so fand ich sehr lehrreich den berühmten Aufsatz von Michel Foucault „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, wo er sich gegen die Betrachtung der Geschichte als Evolution wendet und sie als eine „Kreuzung von Spuren“, jede mit völlig von der der anderen verschiedener Herkunft, zu betrachten empfiehlt.
@ Chrys :
‘Wutauslösend’ wäre wohl der zutreffende Begriff, der die von Ihnen verursachte Nachrichtenlage am besten beschreiben könnte.
Es ist nicht so, dass Einzelnachrichten hier anleitend geworden sind, aber die langzeitige, langjährige Beobachtung oder Zurkenntnisnahme betreffend, sieht es für den Schreiber dieser Zeilen mau aus, bezogen auf das, was Sie unter beträchtlichem Fremdwortaufwand verlautbaren, Latinisierungen, Verweise auf Studien betreffend, denen kaum sinnhaft gefolgt werden kann und insbesondere gelegentlich hervorlugende Meinung, auch politische, betreffend.
Zudem ist Ihrem Kommentatorenkollegen mittlerweile klar geworden, wo Sie konkret Honig saugen, Fuß gefasst haben und vergütet werden.
MFG
Dr. W
Leider verstehe ich weder den Anlass noch die Absicht dieser Reaktion. Wenn Sie das von mir erwartet haben sollten, dann überschätzen Sie mich.
@Balanus
»Klar, wenn man „Evolution“ (engl.) auch im Sinne von Entwicklung/Wandel gebraucht, muss man das „biologisch“ voranstellen, damit der Leser weiß, wovon jeweils die Rede ist.«
Peter Schuster hat in den 1970er zusammen mit Manfred Eigen gearbeitet, und die beiden sprechen dabei ausdrücklich von non-Darwinian evolution. Noch aus dem einleitenden Abschnitt in diesem Text:
Schuster kennt und verwendet also mehr Bedeutungen von “Evolution” als nur a) Darwinsche Evolution und b) Folklore über Entwicklung oder Wandel. Hast Du Vorbehalte gegen das Wort Evolution auch bei prä-biotischer, molekularer Evolution?
»Das klingt in meinen Ohren schon ziemlich schief: …
Ein berechtigter Einwand, das mit der fitness hätte er in der Tat weglassen sollen. Fitness kann, wenn überhaupt, nur in Relation zu einer Umgebung (oder, wie bei genetischen Algorithmen, bezogen auf einen Zweck) beurteilt werden. Besser wäre an dieser Stelle eine Formulierung wie “selection operates on the phenotype” oder so ähnlich gewesen. Zu den generellen Schwierigkeiten mit dem Begriff von Fitness siehe auch Gell-Mann.
»Was bedeutet „adaptive“ im Zusammenhang mit Sprache? Dynamisch ja, aber adaptiv?
Darauf geht Gell-Mann in seiner Darstellung auch ein, vielleicht wird es dann etwas klarer.
Trifft übrigens die folgende Aussage betreffend Darwin and the Term ‘Evolution’ zu?
Da steht noch, dass er erst ab ca. 1872 das Wort verwendet habe. Ein adaptiver Bedeutungswandel, der zumindest für Biologen offenbar Evolution mit Darwinscher Evolution gleichsetzt, ist sicherlich historisch von niemandem verordnet worden. Das hat sich irgendwie so ergeben, oder?
@Chrys
»Hast Du Vorbehalte gegen das Wort Evolution auch bei prä-biotischer, molekularer Evolution?«
Mir geht es darum, dass man mit dem Begriff Evolution keine zweck- oder zielgerichtete Entwicklung verbindet, wenn es um biologische Phänomene geht. Der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs außerhalb der Biologie, also vor allem in bestimmten Kulturwissenschaften, wo man gezwungen ist, verschiedene „Evolutionen“ begrifflich zu unterscheiden, scheint mir in die falsche Richtung zu gehen.
Schuster und Eigen scheinen (im zitierten Buch) das richtige Verständnis von Evolution zu haben. Sie unterscheiden zwischen den Prozessen vor (non-Darwinian) und nach (Darwinian) der Entstehung der Organismen. Es geht hier um Prozesse der natürlichen Selbstorganisation. Dass diese Prozesse lange vor der Entstehung des Lebens begonnen haben müssen und bis hinab zur Ebene der Quantenfelder (oder so) reichen, ist klar. Und wenn man will, kann man die Prozesse der Selbstorganisation auch auf die Strukturänderungen der lebenden Systeme innerhalb der gesamten Biosphäre beziehen (was dann die darwinsche Evolution wäre).
Kurzum, die Evolution als Teil eines universellen Selbstorganisationsprozesses zu sehen, hat meinen Segen 😉
Man muss, und allein darauf kommt es mir an, eben immer wissen, was genau gemeint ist, wenn von Evolution die Rede ist. Wenn Kulturwissenschaftler es lieben, zwischen einer biologischen und kulturellen Evolution zu unterscheiden, bitteschön, von mir aus. Aber wenn sie dann beide Begriffe verschmelzen zu einer „biokulturellen Evolution“, dann ist die Schmerzgrenze überschritten, dann tut es weh.
»Trifft übrigens die folgende Aussage betreffend Darwin and the Term ‘Evolution’ zu? «
Das deckt sich so ziemlich mit dem, was ich dazu gelesen habe, in ganz verschiedenen Quellen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob bereits die alten Griechen (Aristoteles, Lukrez) das mit der „vorhersagbaren“ Entfaltung der Möglichkeiten (»predictable unfolding of possibilities«) so gesehen haben. Aber dass sich in der Natur alles von selbst entwickelt (und nicht kreiert wird), das hatten offenbar damals schon einige wenige bereits erkannt. Man sieht, der Evolutions- bzw. Entwicklungsgedanke hinsichtlich der Natur reicht schon ziemlich weit zurück.
@ Hinseher
Sie haben weder die Theorien von Blume verstanden, noch die Erläuterungen von Joe Dramiga und von Biologie und Genetik verstehen Sie offenbar auch nicht wirklich etwas. Wie kommen Sie auf die Idee, ein genetisches Merkmal (“Religiösität” ) würde schon eine Rasse definieren? Oder das Blume Religiöse für eine “Rasse” hält? Der Begriff “Homo religiosus” meint, dass der Mensch grundsätzlich eine Tendenz zur Religion hat, es meint keine Unterart des homo sapiens, sondern bezeichnet nur einen weiteren Charakterzug des homo sapiens. Schließlich ist auch nicht jeder Vertreter des “homo sapiens” auch persönlich “weise”, viele sind sogar ziemlich dumm. Auch bei Intelligenz besteht eine Erblichkeit, obgleich unklar ist, in welchem Ausmaße. Trotzdem gibt es keine Rasse von “Intelligenten”. “Religiösität” könnte hinsichtlich der Vererbung ein ähnlich komplizierter Fall sein wie “Intelligenz”.
Das Ringen um das Wort “Rasse” hat eine lange Tradition, wird heutzutage aber, weil ideologisch belastet, von der Wissenschaft weitgehend abgelehnt. Von “Unterarten” spricht man in der Biologie im Zusammenhang mit Homo sapiens jedoch ebenfalls nicht, da dies der Vielfalt und den fließenden Übergängen zwischen geografischen Populationen nicht gerecht wird. Der amerikanische Psychoanalytiker Erikson schlug im Zusammenhang mit religiösen oder kulturell bedingten Unterschieden den Begriff “Pseudospezies” vor. Inwieweit sich der Begriff auf die Blumsche Forschung anwenden lässt müsste jedoch erst noch diskutiert werden.
http://carvalhais.tumblr.com/post/30932780050/erik-erikson-a-psychoanalyst-who-met-konrad
Liebe Mona,
wenn aus tausend Einwandererfamilien heute nur noch 130 Familiennamen bei den Amish existieren, dann ist davon auszugehen, dass diese Gruppe genetisch weitgehend unter sich bleibt. Man könnte auch von Zucht durch genetische Rückkopplung sprechen. Einige Erkrankungen, wie die Hirschfeld-Krankheit, sprechen in dieser Glaubensgemeinschaft stark dafür, dass hier Inzucht vorliegt. Und durch die genetische Verarmung treten auch sichtbare Merkmale auf, die eine „Rasse“ als solches definieren könnten. Alle Ethnien sind in der Evolution durch topographische Abgrenzungen und Rückkreuzungen entstanden.
Natürlich wird der Begriff Rasse hier im Blog aus Gründen der political correctness nicht verwendet. Würden wir jedoch so etwas bei einem Hundezüchter beobachten, so würden wir jedoch von Zucht und Rasse reden.
Die Gruppen der Ultra-Religiösen, die Herr Blume untersucht, definieren sich fast alle durch diese Abgrenzungen von normalen Genausstausch in der „normalen“ Bevölkerung. Und wenn Herr Blume hier (zwar nicht von Überlegenheit) sondern von Vorteilen durch Reproduktion spricht, und die Gruppenselektion postuliert, dann ist er sich (höchstwahrscheinlich?) sehr wohl bewusst, dass hier bei kundigen Lesern exakt an die alten Rassetheorien erinnert.
MfG
Wenn Herr Blume die Allbus-Studie 2002 richtig auslegen würde, dann müsste er zu dem Ergebnis kommen, dass Ultra-Religiöse mehr Kinder haben als Normal-Religiöse und Nicht-Religiöse.
Weiterhin müsste das Thema des Nachbarblogs zur Zeit heißen: Normal-Religiöse und Nicht-Religiöse verebben. Nur Ultra-Religiöse pflanzen sich in ausreichender Anzahl fort.
In beiden Fällen klammert Herr Blume aber die Normal-Religiösen aus. Passt dies etwa nicht in die CDU-konforme Ideologie gegen Atheisten? Oder ist die Einsicht, dass ultra-religiöse Gruppen (z.B. Amish, Haredim) ihr Ding machen, wissenschaftlich einfach zu trivial?
Übrigens werden mit dem Begriff Rassen Betrachtungsebenen beschrieben, da genetisch immer ein Spektrum vorliegt (Danke Mona!). Und Betrachtungsebenen verwendet Herr Blume sehr wohl;-) Auch und gerade in abgrenzender und zum Teil wertender Bedeutung.
Und diese Betrachtungsebenen bringt er bewusst mit genetischen Vorteilen (Fortpflanzung) und Gruppenidentitäten (Gruppenselektion) in Verbindung. Natürlich würde er nie von Rassen reden, aber er sucht nach Begriffen (wie völkischen Gruppen), um dies zu umgehen.
MfG
P.S.: Ich habe Herrn Blume´s Kernaussagen wirklich nicht verstanden, da er sich permanent dreht und wendet und nur selten eine klare, wissenschaftlich eindeutige Aussage gemacht hat. Jeder, der versucht hat, ihn zu einer klaren Stellungnahme zu bewegen, ist bisher als Troll vom Blog verbannt worden (Wenn ich dies richtig nachvollziehen kann.)
Statistik / @Balanus (26. Oktober 2014 19:06)
»Kurzum, nach meiner Einschätzung sind die einzelnen Befunde von Blume et al. (2006) mit Vorsicht zu genießen.«
Zu eben dieser Einschätzung gelangte schliesslich auch unlängst Franz Wuketits in seinem WZ Artikel Naturgeschichte des Glaubens:
Es trifft doch zu, dass mit Blume et al. (2006) die oben von Joe (22. Oktober 2014 10:55) verlinkte Studie gemeint ist? So etwas wie eine statist. Aufbereitung der Daten wird dort in der Tat nicht ersichtlich, es wurden eigentlich nur Zahlen aus dem Survey herausgegriffen und in Diagramme gegossen, ohne dass sich die Signifikanz der behaupteten Befunde überhaupt beurteilen liesse. Existieren also vielleicht noch ergänzende Materialien zu dieser Studie? Andernfalls wäre das ja schon “not even wrong.”
@Chrys / “mit Vorsicht zu genießen“
»Es trifft doch zu, dass mit Blume et al. (2006) die oben von Joe (22. Oktober 2014 10:55) verlinkte Studie gemeint ist?«
Yep, genau die ist gemeint, die Studie von Michael Blume, Carsten Ramsel und Sven Graupner im Marburg Journal of Religion: Volume 11, No. 1 (June 2006).
Ob da noch weitere Materialien speziell zu dieser Studie vorliegen, weiß ich nicht, soweit ich mich erinnere, hat Michael Blume bislang nicht auf ergänzendes Material hingewiesen. Aber wer Lust und zu viel Zeit hat kann eine eigene Auswertung von ALLBUS 2002 versuchen. Der Datensatz ist online frei erhältlich, soweit ich weiß.
Ich würde mir ja mal eine Studie wünschen, in der die Zahl der Enkel und/oder Urenkel mit der Bethäufigkeit der Seniorinnen und Senioren korreliert wird. Wenn man denn schon meint, einen evolutionstheoretischen Ansatz verfolgen zu müssen.
Den Wuketits-Artikel in der WZ habe ich vor einigen Wochen, nachdem Michael Blume freundlicherweise verlinkt hatte, gelesen. Dass ich jetzt für die Blum’sche Studie eakt die gleiche Redewendung verwendet habe wie seinerzeit Wuketits für bestimmte andere Studien aus diesem Umfeld, ist schon lustig. Da denkt man doch prompt an ein Plagiat… doch woher wusste Wuketits, was ich mal in einem Blog-Kommentar schreiben würde? Es gibt wohl doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…
@Balanus / “mit Vorsicht zu genießen“
Hier ist in eurem Bunde der Dritte:
Jetzt schon dreimal, das kann doch kein Zufall sein!
Ist auch kein Zufall, dass so viele Wissenschaftler gegen Herrn Blume Stellung beziehen.
Würden die Studien ordentlich ausgewertet, so wäre als Ergebnis festzuhalten, dass es sowohl in der Gruppe der Nicht-Religiösen, als auch in den Gruppen der Normal-Religiösen sowie der Ultra-Religiösen jeweils Individuen (Familien) gibt, die weit überdurchschnittlich viele Kinder haben.
Ein direkter Vergleich der Nicht-Religiösen mit den Religiösen würde aber zeigen, dass dieses auf dem Individualverhalten und nicht auf der Religiosität basiert.
Studien von Alexander Courtiol an finnischen Gemeinden legen ebenfalls den Verdacht nahe, dass es sich um bestimmte Familien handelt, die über Generationen hinweg reproduktiv sehr erfolgreich sind. Aber solche Familien gibt es auch bei Atheisten!
Herrn Blume´s kruden Auslegungen würden hier wie Seifenblasen zerplatzen, wenn er die Studien nach dem wissenschaftlichen Stand der heutigen Biologie auswerten würde. Weshalb er dies auch tunlichst unterlässt und die Individualebene einfach ausklammert bzw. durch die krude Gruppenselektion und eine Totschlag-Statistik ersetzt.
Weiterhin zeigt die Allbus-Studie 2002, dass der Kinderreichtum nicht stetig mit der Religiosität ansteigt. Ein Sprungfunktion würde die Ergebnisse mathematisch besser beschreiben. Für eine Sprungfunktion wäre aber ein weiterer Koeffizient notwendig, der damit nahelegen würde, dass sich Normal-Religiöse und Ultra-Religiöse in einem weiteren Merkmal – außerhalb der Religiosität – unterscheiden würden. Auch dieses Ergebnis ist nicht gewollt und wird daher ausgeklammert, indem zusammenfassend und simplifizierend häufig nur noch von „Religiösen“ gesprochen wird.
Richtig interpretiert müssten es auch heißen, dass die „Normal-Religiösen“ bei einer Geburtenrate von 1,39 verebben. Aber davon ist kein Wort zu lesen.
Durch die Perspektive der Individualebene würde das „Verebben“ sowie die genetischen Vorteile der „Rasse“ Religiöse wegfallen. Womit aber kein Blumenstrauß zu gewinnen wäre;-)
An dem schlechten Ruf, der mit solchen (absichtlichen?) Fehlinterpretationen angerichtet wird, wird die Religionswissenschaft noch lange zu knapsen haben.
MfG
@Hinseher
. »Weiterhin zeigt die Allbus-Studie 2002, dass der Kinderreichtum nicht stetig mit der Religiosität ansteigt.«
Na eben nicht! Weder der ALLBUS 2002 (vermutlich) noch die darauf basierende Studie von Blume et al. (2006) zeigt so etwas.
Da sieht man mal wieder, welche Suggestivkraft Diagramme haben können. Man muss sich förmlich dazu zwingen, dieses auf und ab der Datenpunkte als Zufallsschwankungen zu sehen, hervorgerufen durch die geringe Zahl der Befragten.
Da kann man fast verstehen, dass Sie angesichts dieser irreführenden Darstellungen solch einen Brass auf Michael Blume entwickelt haben. Dennoch, bleiben Sie locker und vor allem sachlich… 😉
@balanus
die Studie zeigt erst einmal was sie zeigt: Häufigkeitsverteilungen. Nicht mehr und nicht weniger. Ob diese durch stochastische Schwankungen entstanden sind, müsste mit Hilfe der Rohdaten geprüft werden. Auch für extrem kleine Gruppengrößen gibt es entsprechende Tests in der Statistik.
Bis dahin tippe ich erst einmal auf ein Sprungverhalten;-)
MfG
P.S.: Keinen Brass, nur Unverständnis für die Religionswissenschaftler, die so etwas in ihren Reihen zulassen.
@Hinseher
»Bis dahin tippe ich erst einmal auf ein Sprungverhalten;-) «
Die Autoren der Studie (2006) schreiben:
So ist das eben, wo der eine Wellen sieht, sieht der andere Sprünge …
(Ich sehe übrigens ein stochastisches Rauschen)
@balanus
wenn Herr Blume eine Wellenfunktion in den Daten „gesehen“ hat, dann hätte er zwei zusätzliche Koeffizienten postulieren müssen, die die Frequenz und die Höhe der Welle bestimmt hätten.
Spätestens da wäre er über seine Interpretation gestolpert;-)
@Hinseher /29. Oktober 2014 10:17
. »P.S.: Ich habe Herrn Blume´s Kernaussagen wirklich nicht verstanden, …«
Vielleicht helfen die folgenden Ausführungen ein wenig:
Im Blog-Beitrag
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-anthropodizee-frage-wer-himmel/
findet sich eine Grafik, die die unterschiedlichen durchschnittlichen Geburtenraten von Konfessionslosen (Säkularen) und religiös Gebundenen vergleichend zusammenfasst.
Bei Säkularen reicht sie von etwa 0,5 bis 1,8, bei den Religiösen von 0,2 bis 6,8.
Da kann also nicht mehr davon gesprochen werden, dass Religiöse allein aufgrund ihrer Religiosität mehr Kinder bekommen als Säkulare, und das tut der Blog-Autor auch nicht an dieser Stelle. Die Rede ist demzufolge von einem „Potential“ für höhere Geburtenraten, den die Religiosität bereitstellt (was den Säkularen naturgemäß nicht gegeben ist). Die Fertilität der Religiösen ist, so darf geschlossen werden, somit abhängig von den Traditionen der jeweiligen Religionsgemeinschaft.
Könnte man die genetisch bedingte Nichtreligiosität durch ein Medikament „heilen“, dann würde ein solches Ergebnis wie in der Grafik gezeigt bedeuten, dass Religiosität vor allem die Variabilität der Fertilität dramatisch erhöht, aber nicht die Geburtenraten generell steigen lässt. Die alleinige Verabreichung des Medikaments gegen Nicht-Religiosität zur Erhöhung der Geburtenrate würde also nur dann nützen, wenn gleichzeitig die richtige Religionsgemeinschaft verordnet wird.
Ich müsste mich schwer täuschen, wenn das der Blum’schen Auffassung widersprechen würde.
@ Balanus
Danke für die Erklärung. Aber Herr Blume stellt auf der erwähnten Blogseite Durchschnittswerte vergleichend dar. Und ein Potential ist – für mich- ein total schwammiger Begriff.
Die Frage lautet doch, wer hat denn nun mehr Kinder?
Auf der Individualebene betrachtet, gibt es eben auch bei den nicht-religiösen Menschen Familien mit mehr als 10 Kindern. Die werden auch nicht „verebben“. Selektion greift am Individuum an, nicht am Durchschnitt. Herr Blume schlägt solche Grundlagen der Biologie einfach mit Statistik tot bzw. ignoriert sie wissentlich.
Es ist den Säkularen also sehr wohl „naturgemäß“ ein Potential gegeben. (Meine Großeltern hatten selbst 12 Kinder und ich kenne jede Menge Atheisten, die eine ausreichende Reproduktionsrate aufweisen).
Meine Frage würde lauten, warum sich in religiösen Gemeinden mehr Menschen finden, die mehr Kinder als der Durchschnitt haben wollen? Dies ist eventuell psychologisch bedingt, mit Sicherheit aber kulturell unterstützt.
Wenn Sie und ich Herrn Blume nun richtig verstanden haben (?), dann handelt es sich nicht (!) um eine Evolution der Religiosität, sondern um das Zurückwirken einer kulturellen Errungenschaft (richtige Religion) auf die Häufigkeitsverteilungen von Potential-Genen in einer Population. Wobei es sich allerdings nicht um Religiositätsgene handeln kann, da diese ja nicht vererbt wird.
Also geht es bei Herrn Blume auch nicht primär um Religiosität und Religion, sondern um die „richtige“ Religion, die die Kinderzahlen positiv unterstützt. Kurz: Er hat das Christentum im Auge?
MfG
@Hinseher
»Und ein Potential ist – für mich- ein total schwammiger Begriff.«
Ja natürlich, mit der Potentialität (oder Neigung, oder (Prä)disposition) ist man fein raus, was das individuelle Verhalten angeht. Aber anders geht es wohl auch nicht.
Das ist wie mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern, mit Blick auf das Verhalten, aber auch hinsichtlich vieler physischer Merkmale wie z. B. die Körpergröße.
Es gibt große Frauen und kleine Männer, aber im Schnitt sind Frauen kleiner als Männer. Der Mann (als solcher) hat sozusagen das „Potential“, größer zu werden als die meisten Frauen. Dieses Potential realisiert sich nicht in jedem Mann, aber eben in hinreichend vielen.
Aber bei der Blum’schen Grafik, um die es hier eigentlich geht, bezieht sich „Potential“ nicht auf Individuen, sondern auf die diversen Religionen. Eine Religionslehre oder -praxis kann, so die Vorstellung, fördernd oder hemmend auf die Geburtenrate wirken. Wenn sie fördernd wirkt, dann verbreiten sich eben die speziellen Gene, auf denen Religiosität möglicherweise basiert.
»Also geht es bei Herrn Blume auch nicht primär um Religiosität und Religion, sondern um die „richtige“ Religion, die die Kinderzahlen positiv unterstützt. …«
Es geht ihm, nach meinem Dafürhalten, eben um beides. Das genetische Erbe verhilft dem Menschen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zur Religiosität, und diese verhilft ihm zur Teilnahme an einer Religion, in der möglicherweise eine hohe Geburtenrate Tradition hat, was dann wiederum die Verbreitung der Religiositäts-fördernden Gene befördert.
»… Kurz: Er hat das Christentum im Auge?«
Nein, ich denke nicht, die Shaker sind/waren schließlich auch Christen.
@Balanus
„bezieht sich „Potential“ nicht auf Individuen, sondern auf die diversen Religionen. “
Dies ist ja gerade sein Denkfehler aus der Perspektive der Evolutionsbiologie. Wenn auch Säkulare Familien mit fast 10 Kindern haben können (und es gibt sie!), dann ist das „Potential“ unabhängig von der Religiosität.
Zweiter Denkfehler: Es vererbt sich nicht Religiosität, sondern höchstens die Fähigkeit, sich solche Sachen vorstellen/imaginieren zu können (s.a. HADD). Und diese Fähigkeit besitzen Säkulare auch. Nur werden sie nicht als Kinder darauf geprägt, dies für die Realität zu halten. Der Zweifel siegt, wenn er nicht kulturell ausgehöhlt wird.
Die Sekten von Ultra-Religiösen wären demnach nur Sammelbecken für „Egoisten“, die eine religiöse Rechtfertigung für ihren Kinderreichtum bräuchten. Immerhin geht der Reichtum des Einen ja häufig auf Kosten eines Anderen. Zudem werden die Egoisten wieder Egoisten zeugen, die in diese Religionen hineingeboren/ hineingetauft werden. Es sammelt sich also die Fähigkeit zu „rücksichtslosem Verhalten“ an.
In diesem Sinne würde auch die Kooperation gegen andere Gruppen Sinn machen.
MfG
P.S.: Danke, aber mir jetzt immer noch richtig klar geworden, was Herr Blume wirklich sagt. Mit dem Begriff Potential kann er alles erklären bzw. verschleiern! Da gibt es nichts zu greifen oder zu diskutieren. Das ist keine Wissenschaft, sondern Schwafeln.
@Hinseher:
“In diesem Sinne würde auch die Kooperation gegen andere Gruppen Sinn machen.”
In dem Buch “Die Wurzeln der Kriege: Zur Evolution ethnischer und religiöser Konflikte” geht der Autor Bernhard Verbeek auf diese Frage näher ein. Und in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift “Christ in der Gegenwart” wird Verbeek in einem Artikel erwähnt.
http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=4155593
@Hinseher /Denkfehler
Es wäre ein Denkfehler zu glauben, Michael Blume würde meinen, konfessionslose Paare hätten nicht das Potential, mehr als zwei Kinder kriegen zu können.
Das mit der Vererbung der „Religiosität“ ist kompliziert. Ich denke nämlich schon, dass manchen Menschen eine Affinität zu Religionen, Ideologien und dergleichen, in die Wiege gelegt wurde, wie man so schön sagt. Es gibt Persönlichkeitsmerkmale, die kann man nicht einfach jemandem eben mal so anerziehen, und ich vermute, die merkwürdige Fähigkeit, bestimmte religiöse Aussagen für wahr halten zu können, gehört dazu. Aber da die Reifung des Gehirns sich über zwei Jahrzehnte hinzieht, gibt es eben keinen einfachen Zusammenhang zwischen Gene und Persönlichkeit.
»…mir jetzt immer noch richtig klar geworden, was Herr Blume wirklich sagt.«
Beispielsweise dieses:
»…wenn ein Merkmal [wie Religiosität] zu Kinderreichtum beiträgt, ist es evolutionär erfolgreich. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. «
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/atheisten-sterben-nicht-aus-sie-verebben-nur-demografisch/#comment-44942
Man müsste mal den von Joe Dramiga verlinkten Aufsatz aus dem Hause Richard Sosis lesen, ob sich darin etwas findet, was Michael Blume zu diesem (wie ich meine) Fehlschluss (Religiosität Kinderreichtum Evolution) veranlasst haben könnte. Doch halt, vielleicht ist ja die soziologische oder sonst eine Evolution gemeint…
@Balanus:
Sie schreiben. “Das mit der Vererbung der „Religiosität“ ist kompliziert. Ich denke nämlich schon, dass manchen Menschen eine Affinität zu Religionen, Ideologien und dergleichen, in die Wiege gelegt wurde, wie man so schön sagt. Es gibt Persönlichkeitsmerkmale, die kann man nicht einfach jemandem eben mal so anerziehen, und ich vermute, die merkwürdige Fähigkeit, bestimmte religiöse Aussagen für wahr halten zu können, gehört dazu. Aber da die Reifung des Gehirns sich über zwei Jahrzehnte hinzieht, gibt es eben keinen einfachen Zusammenhang zwischen Gene und Persönlichkeit.”
Sollten Sie rechthaben, dann würden Blumes Ergebnisse in erster Linie zu den drei abrahamitischen Religionen passen, weil diese sehr vereinnahmend sind und streng gegen “Abweichler” vorgehen. Ansonsten wirft das Ganze mehr Fragen auf als das es Antworten gibt. Wie will man denn z.B. “gottlose Religionen”, wie den Buddhismus, einordnen? Buddhisten sind noch stärker wissenschaftsgläubig als Atheisten und bekommen fast ebenso wenige Kinder wie diese.
Japan beispielsweise hat eine ähnlich niedrige Geburtenrate wie Deutschland. Laut Statistik aus dem Jahre 2005 hängen rund 84 Prozent der Japaner dem Shintoismus an und 71 Prozent sind zudem Buddhisten. (Wobei eine Zugehörigkeit zu beiden Religionen möglich ist.) 2 Prozent sind Christen und 8 Prozent bekennen sich zu anderen Konfessionen. Obwohl es in Japan demnach sehr viele spirituelle Menschen gibt haben sie trotzdem eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt.
Auf der anderen Seite hat Japan einen sehr geringen Ausländeranteil. Bei einer Bevölkerung von 128 Millionen gibt es lediglich 1,3 Prozent Ausländer. Trotz massiver Überalterung haben die Japaner Schwierigkeiten damit ausländische Arbeitskräfte ins Land zu lassen. Wie es scheint lebt jeder die von Ihnen erwähnten “Persönlichkeitsmerkmale” unterschiedlich aus. Was dem einen seine Religion ist dem anderen seine Nation. Fatal wird es allerdings, wenn sich eine fanatische Religion mit einer ebensolchen Politik verbindet, wie man aktuell an der Terrorgruppe IS (Islamischer Staat) sieht.
Zu Japan: http://www.zeit.de/2012/50/Japan-Wirtschaft-Arbeitskraefte-Einwanderer
@balanus
„Ich denke nämlich schon, dass manchen Menschen eine Affinität zu Religionen, Ideologien und dergleichen, in die Wiege gelegt wurde, wie man so schön sagt. “
Was ist denn in die Wiege gelegt? Ich vermute, dass nur die Vorstufen zur Imagination vererbt werden. Auch Atheisten sehen solche „Geister“ in ihrer Jugend (s. HADD). Werden diese Eindrücke jedoch nicht von der Gesellschaft bestätigt und bekräftigt, dann hat es sich schnell erledigt mit solchen „Ideen“. Nicht-Religiöse überwinden solche „Schnaps-Ideen“ genau so, wie Religiöse die Götter der anderen Kulturen für Einbildung halten.
Religiosität fängt nicht da an, wo ich meine „etwas“ zu sehen oder wahrzunehmen, sondern dort, wo ich diese „Idee“ ritualisiert um etwas bitte. Und dies ist anerzogen, nicht angeboren. Daher bin ich vorsichtig, bei dem Phänomen Religiosität von einem Merkmal zu reden. Biologen assoziieren mit diesem Begriff Gene.
MfG
@balanus
sie schrieben oben: „bezieht sich „Potential“ nicht auf Individuen, sondern auf die diversen Religionen. “ wat denn nu?
„Ich denke nämlich schon, dass manchen Menschen eine Affinität zu Religionen, Ideologien und dergleichen, in die Wiege gelegt wurde, wie man so schön sagt. “
Was ist denn in die Wiege gelegt? Ich vermute, dass nur die Vorstufen zur Imagination vererbt werden. Auch Atheisten sehen solche „Geister“ in ihrer Jugend (s. HADD). Werden diese Eindrücke jedoch nicht von der Gesellschaft bestätigt und bekräftigt, dann hat es sich schnell erledigt mit solchen „Ideen“. Nicht-Religiöse überwinden solche „Schnaps-Ideen“ genau so, wie Religiöse die Götter der anderen Kulturen für Einbildung halten.
Religiosität fängt nicht da an, wo ich meine „etwas“ zu sehen oder wahrzunehmen, sondern dort, wo ich diese „Idee“ ritualisiert um etwas bitte. Und dies ist anerzogen, nicht angeboren. Daher bin ich vorsichtig bei dem Phänomen Religiosität von einem Merkmal zu reden. Biologen assoziieren mit diesem Begriff Gene.
MfG
In die Wiege gelegt /@Hinseher
»Was ist denn in die Wiege gelegt? Ich vermute, dass nur die Vorstufen zur Imagination vererbt werden. Auch Atheisten sehen solche „Geister“ in ihrer Jugend (s. HADD). Werden diese Eindrücke jedoch nicht von der Gesellschaft bestätigt und bekräftigt, dann hat es sich schnell erledigt mit solchen „Ideen“.«
Ich finde, es ist komplizierter. Meine These ist, dass in Fällen, in denen das sogenannte Überempirische das ganze Leben prägt, im Gehirn dieser Menschen das Bewertungssystem für nichtüberprüfbare Aussagen etwas anders funktioniert als bei denen, die nur an das glauben, was sie sehen und/oder begreifen können. Im Zusammenspiel von genetischen Instruktionen und sensorischem Input bilden sich (im Laufe von 15-25 Jahren) leicht unterschiedliche neuronale Verschaltungen aus, die zu den beobachteten Unterschieden bei der (primär emotionalen) Bewertung von Glaubensaussagen führen. Nach einem lokalen Infarkt oder epileptischen Anfall oder sonst einen Ereignis in den relevanten Bereichen des Gehirns kann sich die Funktion dieses Bewertungssystems schlagartig ändern. Ansonsten sind aufgrund der Plastizität des Gehirns auch langsame Modifikationen möglich.
Ich denke halt, um bestimmte Dinge überhaupt denken zu können, muss eine entsprechende Mikrostruktur vorliegen, um die erforderlichen neuronalen Erregungsmuster überhaupt erst zu ermöglichen. Bei mir fehlen z. B. diverse Verschaltungen, die mir das Betreiben von höherer Mathematik ermöglichen würden, oder das Spielen einer Geige. Man kann zwar viel lernen, aber eben nicht alles.
»sie schrieben oben: „bezieht sich „Potential“ nicht auf Individuen, sondern auf die diversen Religionen. “ wat denn nu?«
In der genannten Grafik im NdG-Blog-Beitrag bezieht sich „Potential“ auf die Religionen. Evolutionspsychologisch bezieht sich „Potential“ auf die mögliche Ausbildung der Religiosität (was immer das im Einzelnen ist). Und dann gibt es natürlich noch das individuelle Potential, eine Menge Kinder zeugen oder gebären zu können.
»Daher bin ich vorsichtig bei dem Phänomen Religiosität von einem Merkmal zu reden.«
Mit Recht! Vielleicht könnte man es so sagen: „Religiosität“ ist lediglich unsere Bezeichnung für ein bestimmtes vielschichtiges Verhalten (im weitesten Sinne), das sich vornehmlich auf eine sinnlich nicht wahrnehmbare Welt bezieht und für das Individuum von großer Bedeutung ist.
@Balanus
da haben Sie Recht. Wir lernen assoziativ und mit der Zeit kommen immer neue Verknüpfungen dazu. Am Ende wird unser Gehirn nicht nur trainiert wie beim Bodybuilding. Religiöse haben mit Sicherheit am Ende ihres Lebens andere „Verdrahtungen“ als Nicht-Religiöse.
Wie zum Beispiel bei Fremdsprachen oder Mathematiken ermöglichen diese ein Denken in anderen Weltanschauungen. Aber dies ist kulturell erlernt, nicht angeboren (hoffe ich, sonst wäre dies rasse-abhängig;-)
MfG
@Hinseher
»Aber dies [die „Verdrahtung“ des religiösen/nichtreligiösen Gehirns] ist kulturell erlernt, nicht angeboren (hoffe ich, sonst wäre dies rasse-abhängig;-)«
Nochmal, angeboren ist mMn lediglich, welche Arten von „Verdrahtungen“ im Laufe des Lebens überhaupt realisiert werden können, es wird sozusagen ein Rahmen abgesteckt. Mit Rasse hat das rein gar nix zu tun, wir haben es hier mit der ganz normalen Bandbreite kognitiver Varianten und Möglichkeiten zu tun. „Angeboren“ ist was anderes als „geerbt“.
Und Du weißt doch, eine neue Verdrahtung kann nur erfolgen, wenn Gene aktiviert werden.
@ ‘Hinseher’ :
Also, wenn Ihr Kommentatorenkollege hier genau “hin sieht”, dann kann so im wissenschaftlichen Sinne eigentlich nicht argumentiert werden.
—
Nichts gegen die Anekdote, nichts gegen die Bereitstellung von Befindlichkeit, beides ist wertvoll, beides kann anleiten über Mögliches zu erörtern, Theoretisierung in der Folge anleiten, die Anekdote meint im Gegensatz zur (wissenschaftlich erfassten) Datenlage ganz zuvörderst die Möglichkeit
… äh, also, das war’s eigentlich schon, das angemerkt werden sollte.
MFG + schönes WE,
Dr. W
@ Webbaer
oh, doch! Perspektivenwechsel! Evolution findet auf der Individualebene statt. Es sind Frauen und Männer, die Kinder bekommen. Nicht Religiöse oder sonstige Betrachtungsebenen. Das Potential liegt im Individuum.
Und wenn säkulare Menschen ebenso viele Kinder haben können, dann spielt der Faktor Religiosität eben gar keine Rolle. Und bis vor ein paar Jahrzehnten hätte man wahrscheinlich gar keine Unterschiede feststellen können.
Zu der Zeit als Religiosität zuerst tradiert wurde, lebten wir in Großfamilien. Da brauchten wir keine konfessionellen Kindergärten, sondern Verwandte, die halfen. Und wenn Herr Blume ehrlich ist, dann gibt er zu, dass er seine Kinder von den Großeltern betreuen lässt, und nicht von der Gemeinde. Religion spielt hier eine extrem untergeordnete Rolle.
MfG
@ ‘Hinseher’ :
Es gelang zumindest nicht sofort beim Schreiber dieser Zeilen mit derartiger Nachricht besondere persönliche Empfängerzufriedenheit sicher zu stellen.
Also Ihnen gelang dies nicht.
MFG
Dr. W (der auch nicht über die ‘Ehrlichkeit’ anderer spekulieren will; der aber anregt steifer und sachnäher kommentarisch vorzutragen, dem hiesigen Medium womöglich angemessen)
@Webbaer
Sorry, wir reden aneinander vorbei. Bevor ich jetzt Scherben anrichte, bleibe ich auf der sachlichen Ebene.
Ein Beispiel: Ich nehme jeweils vier Frauen mit ihren Geburtenraten:
Nicht-Religiöse: (0, 0, 3, 10)
Religiöse: (0, 3, 3, 10)
Diese Verteilung besagt nicht, dass Religiöse (im einzelnen) mehr Kinder haben als Nicht-Religiöse, und auch nicht, dass Religiosität ein Potenzial zu mehr Kindern bereitstellt!
In beiden Gruppen existieren Frauen mit der Maximalzahl. Das Potenzial ist also in beiden Gruppen vorhanden und Religiosität spielt hierfür folglich keine Rolle.
Die Statistik besagt lediglich, dass in der Gruppe der Religiösen mehr Individuen existieren, die höhere Geburtenraten zeigen. Auch hier ist keine Aussage über die Religiosität möglich. Die Statistik besagt nur, dass hier eine Anhäufung von Individuen mit dieser Eigenschaft vorliegt.
Eine solche Anhäufung kann aber auch hervorgerufen werden, wenn die Eigenschaft (Wille) zu mehr Kindern vererbt wird, und gleichzeitig die Kindern in eine Religion / in einen Glauben hineingeboren werden. Die „Egoisten“ reichen sich sozusagen an.
MfG
@Paul Stefan /28. Oktober 2014 21:17
. »“Religiösität” könnte hinsichtlich der Vererbung ein ähnlich komplizierter Fall sein wie “Intelligenz”.«
Das wäre auch meine Vermutung. Bislang konnte man offenbar nur einen marginalen Zusammenhang zwischen Gene und Intelligenz finden (siehe: http://www.nature.com/news/smart-genes-prove-elusive-1.15858#/b2 ). Ich schätze, mit den Genen für Religiosität dürfte das ganz ähnlich sein. Falls man überhaupt explizit danach sucht, denn das Vorhandensein eines validen Religiositäts-Test wäre dafür ja wohl die Voraussetzung.
Aber mir geht es hier um etwas anderes. Stellen Sie sich vor, es ginge bei Blumes Forschungen nicht um Religiosität, sondern um Intelligenz, und die Botschaft wäre: Mit zunehmender Intelligenz steigt die Zahl der Geburten/Frau; so würde sich erklären, dass (a) alle gesunden Menschen deutlich intelligenter sind als etwa Schimpansen, und (b) dass Intelligente gegenüber ihren nichtintelligenten Zeitgenossen einen Reproduktionsvorteil besitzen; existierende Dummen-Population verebben, und wir kennen keine Gesellschaft von Nichtintelligenten, die über Jahrhunderte hinweg Bestand gehabt hätte.
Das Ganze geht natürlich auch umgekehrt: Je mehr Punkte im IQ-Test, desto weniger Kinder, die Population der kinderarmen Intelligenten ist aktuell am Verebben, während die kinderreichen Dummen vielleicht dereinst die Erde beerben werden.
So ähnlich dachte man wohl mancherorts in vergangenen Zeiten, man war besorgt, dass der Kinderreichtum der Ungebildeten das Wohl der kinderarmen Elite gefährden könnte.
Wenn es damals falsch war, die Zahl der Kinder pro Familie mit Darwins Selektionstheorie in Verbindung zu bringen, dann ist es heute nicht minder falsch, die unterschiedlichen Familiengrößen mit dem evolutionstheoretischen differentiellen Reproduktionserfolg gleichzusetzen.
Ich habe nicht mehr alle Aussagen von Blume genau im Kopf, aber wenn ich mich recht erinnere und ihn richtig verstanden habe, dann hat er keinen Kurzschluss zwischen Fertilität und Religion ziehen wollen. Er geht davon aus, dass ein Teil der Religiösen sich säkularisiert. Außerdem leugnet er ja keineswegs die negativen Folgen von Religiösität, auch wenn mancher “Bright” meinen mag, diese Aspekte kämen bei ihm zu kurz. Religiösität wirkt m.E. wie ein Katalysator, der Bindungsenergie erzeugt, Gruppensolidarität und andere Dinge, z.B. Opferbereitschaft, die soziokulturell zu mehr Kindern führen kann.
Der Vergleich mit Intelligenz hinkt wohl, war nur so eine Idee. Religiösität kann bei einem Individuum als Verhalten auftauchen und Verschwinden, es gibt Bekehrungserlebnise und umgekehrt verlieren Menschen den Glauben über Nacht (aber nicht unbedingt grundlos). Wie hängt die Religiösität eigentlich mit der Bereitschaft zusammen, an säkulare Ideologien zu “glauben”, z.B. Kommunismus, Nationalismus, Nationalsozialismus? Diese Ideologien glauben nicht an übernatürliche Akteure, aber an eine zeitlose, abstrakte Entität wie Nation oder an die Utopie des Fortschritts, des Paradies auf Erden. Gibt es vielleicht eine (genetische?) Disposition des Menschen, sich Illusionen zu machen?
Ich hatte an anderer Stelle schon einmal angeführt, dass ein Wissenschaftler nach langem Nachdenken und studieren zum Schluss kam, dass zwei Dinge den Menschen vom Tier unterscheidet: komplexe, verschachtelte Szenarien zu entwerfen und intensiv mit Mitmenschen zu kommunizieren. In Religionen werden sicherlich komplexe, verschachtelte Szenarien entworfen. In manchen Religionen gibt es ja auch persönliche “Gespräche” des Individuums mit Gott.
Man könnte ja auch mal umgekehrt fragen, warum sind so relativ wenige Menschen vernünftig, wenn Vernunft doch ach so hilfreich ist? Was funktioniert da nicht?
Das aufklärerische Surrogate für echte Religionen bislang nicht überlebensfähig sind, wie Blume meint, finde ich einleuchtend. Das fehlt das Verbindliche, die “Wahrheit”, an die man glaubt.
Ja, warum ist Religion noch nicht als Phänomen ausgestorben, wenn diese darwinistische Metapher erlaubt sei? Ich denke, es liegt nicht nur an einem Mangel an Aufklärung (den es zweifellos immer gibt), sondern auch daran, das Religion ein Doping-Mittel ist, um psychisch zu überleben (“Doping” ist vielleicht eine treffendere Metapher als “Opium”). Die Menschen greifen immer wieder gerne darauf zurück. Die Einflussfaktoren auf den Menschen sind aber so zahlreich und interaktiv, dass es kaum möglich sein wird, Religiösität als Faktor methodisch streng isoliert in seiner Wirkung zu betrachten.
Interessieren wird Dich bestimmt folgender Aufsatz: Extending Evolutionary Accounts of Religion beyond the Mind: Religions as Adaptive Systems
Vielen Dank für den link!
Sie schreiben: “Religiösität wirkt m.E. wie ein Katalysator, der Bindungsenergie erzeugt, Gruppensolidarität und andere Dinge, z.B. Opferbereitschaft, die soziokulturell zu mehr Kindern führen kann.”
Soweit ich mich erinnere hat Michael Blume auch davon geschrieben, dass Menschen, denen es schlechter geht, eher zum Gauben neigen als solche denen es gutgeht. Also könnte Armut ein weiteres Merkmal für eine hohe Fertilität sein. Siehe dazu auch:
http://www.heise.de/tp/artikel/41/41869/1.html
Im Übrigen sind religiöse Gesellschaften nicht unbedingt solidarischer, sondern haben mehr Probleme mit Kriminalität etc. wie säkulare. Näheres dazu gibt es in dem oben verlinkten Artikel unter dem Stichwort (Link): “Sind religiöse Gesellschaften “besser”?”
Des Weiteren sind Sie der Ansicht: “In Religionen werden sicherlich komplexe, verschachtelte Szenarien entworfen.”
Wie es scheint liegt es nicht nur an den “verschachtelten Szenarien”, dass Religionen so erfolgreich sind, sondern auch an dem allumfassenden Konzept von “Wahrheit”, welches sie bieten und das so ziemlich alle Lebensbereiche abdeckt. Wer im Besitz der absoluten “Wahrheit” ist, der fühlt sich natürlich “höherwertig” und wird deshalb auch gewisse Rechte und Zuwendungen (Kirchensteuer) von der Gesellschaft einfordern. Von den ultraorthodoxen Haredim weiß man, dass sie nicht zum Wehrdienst müssen, wenn sie die Thora studieren. 1948 betraf die Freistellung vom Wehrdienst lediglich 400 Personen, inzwischen ist die Zahl der vom Wehrdienst freigestellten Personen auf rund 70 000 angewachsen. Abgesehen von ihren Thorastudien gehen die Männer der Haredim keinen Beruf nach und genießen die Vorteile, die ihnen der säkulare Staat zukommen lässt. Vermutlich würde die Anzahl ihrer Kinder etwas schrumpfen, wenn man ihnen ihre Privilegien streicht und sie zwingen würde einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
http://www.tagesschau.de/ausland/israel-wehrpflicht100.html
@Paul Stefan
»Religiösität kann bei einem Individuum als Verhalten auftauchen und Verschwinden, es gibt Bekehrungserlebnise und umgekehrt verlieren Menschen den Glauben über Nacht (aber nicht unbedingt grundlos).«
Sicher, wer wollte das bestreiten. Das Entscheidende dabei ist aber, meiner Meinung nach, dass man praktisch keinen willentlichen Einfluss darauf hat. Es sind Dinge, die einem passieren, wie etwa, dass einem plötzlich die Zigaretten nicht mehr so recht schmecken wollen (Autosuggestion einmal außen vor gelassen).
»Wie hängt die Religiösität eigentlich mit der Bereitschaft zusammen, an säkulare Ideologien zu “glauben”, z.B. Kommunismus, Nationalismus, Nationalsozialismus? Diese Ideologien glauben nicht an übernatürliche Akteure, aber an eine zeitlose, abstrakte Entität wie Nation oder an die Utopie des Fortschritts, des Paradies auf Erden.«
Hier kommt es wohl darauf an, was man unter „glauben“ versteht. Wenn eine Ideologie Aussagen macht, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden kann, man aber dennoch diese Aussagen zu seinem Lebensinhalt macht, dann speist sich dieses aus den gleichen (kognitiven) Quellen wie die Religiosität, würde ich sagen.
»Man könnte ja auch mal umgekehrt fragen, warum sind so relativ wenige Menschen vernünftig, wenn Vernunft doch ach so hilfreich ist? Was funktioniert da nicht?«
Inwiefern sind „relativ wenige“ Menschen vernünftig? Vernunft ist doch jedem gesunden Menschen gegeben. Oder meinen Sie, religiös zu sein sei ein Zeichen von Unvernunft? Das sehe ich nicht so. Die Vernunft wird gebraucht, um das, was man eh nicht ändern kann, also seinen Glauben oder Nichtglauben, rational zu begründen, so gut es eben geht (ein Rest wird wohl immer unerklärlich bleiben).
»Das aufklärerische Surrogate für echte Religionen bislang nicht überlebensfähig sind, wie Blume meint, finde ich einleuchtend. Das fehlt das Verbindliche, die “Wahrheit”, an die man glaubt.«
Wie wär’s denn mit der Wissenschaft? Ich habe nicht den Eindruck, dass die Wissenschaftsgemeinde dabei ist, zu verebben. Ich denke schon, dass auch Wissenschaftler letztlich der „Wahrheit“ näher kommen wollen.
Balanus:
“Vernunft ist doch jedem gesunden Menschen gegeben.”
Achja? Echt jetzt?
Und wenn, dann hat nicht jeder Mensch hat die seine auch wirklich gefunden. Rationalisierungen, d.h. rationale Gründe für seine emotional getroffenen Entscheidungen zu suchen, ist m.E. keine Anwendung von Vernunft, oder eben eine sehr eingeschränkte Anwendung von Vernunft. Wenn die Menschen wirklich intensiv von ihrer Vernunft Gebrauch machen würden, hätten wir meiner Meinung nicht alle paar Jahre irgendwo einen Völkermord oder dergleichen Scheußlichkeiten, von den vielen anderen Unvernünftigkeiten abgesehen, ich erspare mir eine Liste anzuführen.
Wissenschaft ist gut und schön, aber erstens sind nicht alle Menschen befähigt, Wissenschaftler zu werden und zweitens befriedigt sie eben auch nur einen gewissen Typ von Menschen.
Der Glaube an den Fortschritt ist auch nur bein ungedeckter Scheck auf die Zukunft.
Auch mit Vernunft lassen sich Völker morden. Ich denke, dass Sie in den Vernunftbegriff mehr hineinlegen, als in ihm steckt. Was er bedeutet, hat Mona um 23:56 Uhr zitiert.
“Auch mit Vernunft lassen sich Völker morden. Ich denke, dass Sie in den Vernunftbegriff mehr hineinlegen, als in ihm steckt. Was er bedeutet, hat Mona um 23:56 Uhr zitiert.”
Ja, der Begriff ist schwierig. Die von Mona zitierte Definition ist nicht falsch, aber der Begriff “Vernunft” hat in der europäischen Tradition eben oft auch eine ethische Komponente. Man kann effektiv, zweckmäßig, strategisch, zielorientiert und überlegt die schlimmsten Verbrechen begehen, aber ich kann das nicht als “vernünftig” bezeichnen, weil ich das Ziel, z.B. Völkermord, nicht für vernünftig halte. Diese Problematik lässt sich, wie viele andere auch, diskursiv wohl nicht völlig auflösen. Wien man es macht, man stößt auf Widersprüche.
Menschen leben in Gemeinschaften und Kulturen, Verbrechen, große Verbrechen, mögen Einzelnen oder Gruppen Vorteile bringen und deswegen diesen als “vernünftig” erscheinen, sie schädigen aber, denke ich, die überlebende Gesellschaft nachhaltig.
Sie stolpern über die (gute) Konnotation des Begriffs, die durch seine Verwendung nicht erschüttert werden kann, ohne eine kognitive Dissonanz beim Zuhörer hervorzurufen.
Man muss eben sauber trennen zwischen Zielen und den zu ihrer Erreichung eingesetzten Mitteln.
Woran machen Sie das fest?
@Paul Stefan [1. November 2014 23:10]
Eine Sache war noch offen (aus meiner Sicht):
»Wissenschaft ist gut und schön, aber erstens sind nicht alle Menschen befähigt, Wissenschaftler zu werden und zweitens befriedigt sie eben auch nur einen gewissen Typ von Menschen.«
Das war Ihre Entgegnung auf meinen Vorschlag, die Wissenschaft als überlebensfähiges, aufklärerisches Surrogat für echte Religionen zu nehmen. Mir ist nun nicht ganz klar, ob Sie mir mit ihrer Antwort letztlich zustimmen, oder ob Sie dabei bleiben, dass, wie Michael Blume nicht müde wird zu behaupten, »aufklärerische Surrogate für echte Religionen bislang nicht überlebensfähig sind« (Ihre Worte).
@Balanus:
Sie begeben sich in Teufels Küche, wenn Sie schreiben: “Die Vernunft wird gebraucht, um das, was man eh nicht ändern kann, also seinen Glauben oder Nichtglauben, rational zu begründen, so gut es eben geht”, denn damit ließe sich jedes Verbrechen und jede fehlgeleitete Ideologie “vernünftig” begründen.
Vernunft ist laut Duden: “geistiges Vermögen des Menschen, Einsichten zu gewinnen, Zusammenhänge zu erkennen, etwas zu überschauen, sich ein Urteil zu bilden und sich in seinem Handeln danach zu richten”.
@Mona
Aus des Teufels Küche (in Anlehnung an den Duden):
Vernunft ist das geistige Vermögen des Menschen, Einsicht in die Richtigkeit seines Glaubens zu gewinnen, die Zusammenhänge von z. B. Religion und Kinderreichtum zu erkennen, sich ein Urteil über andere Religionen sowie Atheisten zu bilden und sich in seinem Handeln danach zu richten.
@ Ano Nym
Ich stolpere nicht, ich stellte fest. Die “gute” Konnotation des Begriffes lässt sich ja nicht einfach so ausschalten. Die Differenzierung zwischen Ziele und Mittel ist ja bei dieser Diskussion kein Problem, das Problem liegt in der Benennung.
Schädigungen der Gesellschaft:
Da muss man sich nur etwas genauer in Gegenwart und Geschichte hinschauen. Verbrechen erzeugen bei den Überlebenden Traumata, die Generationen lang weiter gereicht werden. Verbrechen erzeugen bei den Tätern eine Verrohung, die insgesamt zu einer Verrohung in der Gesellschaft führt. Massive Gewalterfahrungen und Straflosigkeit zerrütten Gesellschaften.
Ich wollte wissen, woran Sie den Schaden an der Gesellschaft festmachen. Die traumatisierten Menschen sind nicht identisch gleich mit der Gesellschaft. Ich unterstelle einmal, dass Sie “die Menschen” und “die Gesellschaft” – also verschiedene Begriffe – verwenden, weil Sie damit verschiedene Dinge bezeichnen wollen.
Von Ludwig Trepl.
Mir ist unbegreiflich, wie man überhaupt angesichts dessen, was doch offen zutage liegt, auf die Idee kommen kann, die Frage der Erblichkeit von Religiosität sei eine, der nachzugehen man ernsthaft in Betracht ziehen sollte. Innerhalb von einer oder zwei Generationen nahmen ganze Gesellschaften Religionen an oder gaben sie fast vollständig auf (Rußland, DDR). Genetisch kann da gar nichts passiert sein. Auch der Begriff der Hyperactive Agency Detection Device bringt da nichts. Er mag allenfalls dazu beitragen zu erklären, warum der eine sein Leben betend im Kloster verbringt, der andere nur Sonntags in der Kirche betet, aber er braucht nicht weniger „gläubig“ zu sein (und die Zahl derer, die durch intensivstes Grübeln über Gott von religiösen Menschen zu nicht-religiösen wurden, ist gar nicht so klein). Aber so gut wie die ganze Gesellschaft betete ja. Religiös waren fast alle. Atheismus und Agnostizismus entstanden als Gedanken winziger intellektueller Minderheiten. Haben die etwa besondere biologische Mutationen erlebt? Welch abenteuerlicher Gedanke!
Von der merkwürdigen Vorstellung, Religiosität bestünde in „beliefs in unseen agents“, gar nicht zu reden. Er zeigt nichts als mangelnde Bildung: Man denkt über Religion so, wie es in atheistischen Milieus des 19. Jahrhunderts populär geworden ist: Da glaubt einer an die Existenz von Dingen, die man nicht sehen kann. Als ob das je Religiosität ausgemacht hätte. Abgesehen davon, daß der typische Gläubige etwa des Mittelalters gar nicht der Meinung war, an „unseen agents“ zu glauben: Es gab ja verläßliche Zeugen, die hatten sie gesehen. Den König hat er in der Regel auch nie gesehen, und doch glaubte er an seine Existenz, denn es gab verläßliche Zeugen.
@ Herr Dr, Trepl :
Bspw. die Epigenetik könnte zu derartigem Verdacht anleiten, könnte bspw. die Ratte auf erblicher Basis einladen bestimmte Regionen zu meiden oder im übertragenden Sinne dazu, zeitnahe und generationen-nahe Angepasstheit von Subjekten, Tier wie Mensch zu motivieren.
Es wäre evolutionär direkt erkennbar sinnvoll.
Diese Idee kann auch nicht qua Datenlage abgelehnt werden, biologisch,
Es könnte also sein,
MFG
Dr. W
Wenn aber eine ganze Population von Ratten innerhalb so kurzer Zeit, daß eine genetische Veränderung ausgeschlossen ist, diese Regionen nicht mehr meidet, dann kann man eine genetische Verursachung ausschließen.
Naja, werter Herr Dr. Trepl, man weiß halt nicht so recht, was die Zeitlichkeit oder spaßeshalber einmal evolutionäre Velozität genannt, betrifft, also die Evolution, die sich auch epigenetisch zum Ausdruck bringen könnte.
MFG
Dr. W (der hofft Sie ein wenig aufgemuntert zu haben, aber auch sonst so danken möchte, u.a. auch für die erbrachte Leistung – inbesondere vielleicht auch für die Herausarbeitung der sinnhaften Trennung von Tier und Biosphäre und der Abnehmerschaft allgemein)
@Ludwig Trepl
Ihrem Kommentar kann ich aus meiner Sicht eigentlich nur zustimmen. Nur einen Gedanken will ich dazu noch anflechten.
Jeder Versuch einer “evolutionären” Annäherung an Religiosität und Religion muss notwendigerweise doch davon ausgehen, dass diese Begriffe überhaupt kulturunabhängig methodisch erfassbar sind. Dass dies möglich ist, wird auch in den Religionswiss. verschiedentlich dort kritisch hinterfragt, wo man sich bewusst ist, dass solche Bergiffsbestimmungen stets nur vorgenommen werden unter einem kulturell geprägten Vorverständnis dessen, was da schliesslich definiert werden soll. So entstammt auch der in den Religionswiss. zugrundegelegte Religionsbegriff offenbar dem Sprachgebrauch des neuzeitlichen protestantischen Christentums, und in seiner heutigen Verwendung hat er sich erst seit der Aufklärung etabliert. Bereits auf die Lebenswelt des christlichen Mittelalters lässt sich das nicht so einfach übertragen, geschweige denn auf die Glaubensinhalte und -traditionen nichtchristlicher Kulturen. Bemerkenswert scheint mir in diesem Zusammenhang das im (weiter oben verlinkten) Aufsatz von M. Jakobs (2002) mit Verweis auf J. Matthes wiedergegebene Zitat einer westlich gebildeten Hindu-Frau:
Vor dem Hintergrund eines kulturell begrenzten Verständnisses von Religion und Religiosität kann von “genetischer Veranlagung” derselben wohl nicht sinnvoll die Rede sein. Da bestünde zumindest noch erheblicher Rechtfertigungs- und Klärungsbedarf für jemanden, der das tun will. Und sofern dies unterlassen wird, bleibt die Angelegenheit eher ein Fallbeispiel für mangelnde Reflexion der sprachlichen Mittel.
Ludwig Trepl, @Chrys
Zustimmung. Nur eine Kleinigkeit. Sie schreiben:
„So entstammt auch der in den Religionswiss. zugrundegelegte Religionsbegriff offenbar dem Sprachgebrauch des neuzeitlichen protestantischen Christentums, und in seiner heutigen Verwendung hat er sich erst seit der Aufklärung etabliert.“
Man sollte sagen: in dieser Art von Religionswissenschaft, um die es hier geht, es gibt auch andere. Und vor allem: Protestantisch kommt mir der Sprachgebrauch gerade nicht vor. Religion versteht man da nicht als ein Fürwahrhalten der Existenz „überempirischer Akteure“ oder so etwas. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ (Bonhoeffer), und wenn man sich gar ansieht, was Schleiermacher, wohl der führende protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts, unter Religion versteht, wird vollends klar, daß es das nicht sein kann. Mir scheint, dieser religionswissenschaftliche Religionsbegriff entstammt der schal und atheistisch gewordenen populären Aufklärung des 19. Jahrhunderts. Einfache Menschen mit einer kindlichen (in ihrer Kindheit geprägten) Vorstellung von Religion, die sich von ihr abwandten, dachten halt, das wesentliche daran seien Behauptungen wie daß es einen unsichtbaren Allmächtigen gebe, der die Welt in 7 Tagen geschaffen hat, und allerlei anderes, was eher in die Mythologie als in die Religion gehört.
Nun. Auch “kompliziertere” Menschen mit einer elaborierten Vorstellung von Religion kommen doch, wenn sie im Gottestdienst etwa das apostolische Glaubensbekenntnis [1] ablegen, nicht an dessen Inhalt vorbei.
(PS: Schön, dass Sie wieder von sich lesen lassen.)
[1] http://www.ekd.de/glauben/apostolisches_glaubensbekenntnis.html
@Ludwig Trepl: Das ist, wenn Sie mir den Vergleich gestatten, so wie mit dem kommenden thüringischen Ministerpräsidenten Ramelow (DIE LINKE), der sich wohl bis ans Ende aller Tage wird vorhalten lassen müssen, dass er seit 1994 Mitglied der Partei ist, die identisch mit (und nicht nur “Nachfolger” der) SED ist. Augen auf beim Parteieintritt!
Ludwig Trepl, @ AnoNym.
“Auch “kompliziertere” Menschen mit einer elaborierten Vorstellung von Religion kommen doch, wenn sie im Gottestdienst etwa das apostolische Glaubensbekenntnis [1] ablegen, nicht an dessen Inhalt vorbei.”
Doch, reden Sie mal mit einem. Keiner meint das wörtlich. Schon die meisten alten griechischen Philosophen meinten, man könne ohne weiteres all die Götterkulte des Volks mitmachen, aber der Weise weiß das eben anders, irgendwie symbolisch zu deuten. Der “Inhalt” der Glaubensbekenntnisse ist nicht, das das einer “am dritten Tage” und nicht am fünften auferstanden ist, und was “auferstanden” heißt, ist ihnen ein Problem, keinesfalls nimmt das einer so wörtlich. wie der kleine Atheist das gerne versteht.
Der Auferstehungsglaube ist schon im Alten Testament umstritten und wird von Kohelet kritisiert.
Siehe hier: http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/auferstehung-at-3/ch/30582ae9779fc16466a4abf81a7b62bf/
Ihre Beobachtung, dass ein Teil (aber gewiss nicht alle) der aufgeklärten gläubigen (?) Elite einräumt, den Sprechakt des Bekenntnisablegens nicht so zu meinen, wie er lautet, teile ich. Die Frage ist aber doch: Glauben die Angehörigen der Elite und die eines naiven Kinderglaubens dann überhaupt dasselbe? Gehören Sie dann zu derselben Glaubensgemeinschaft? Oder muss man sich das so vorstellen, dass die naiv Glaubenden zwar das Falsche glauben, aber zahlen- und kirchensteuermäßig auf sie aus naheliegenden, profanen Gründen nicht verzichtet werden kann (“Kanonenfutter”)?
Ein ähnliches Phänomen können Sie in einem anderen Bereich beobachten. Nämlich dort, wo es um das Bekenntnis zum Grundgesetz geht. Schon an Schüler werden Grundgesetze verteilt, aber leider ohne juristischen Kommentar. Die Allgemeinheit, der das Geld ausgegangen ist, und die sich unter Berufung auf Artikel 14 Abs. 2 [1] an Lebensmitteln schadlos hält, ist dann erstaunt, dass diese Norm ihnen gar nicht gestattett, sich an den Lebensmitteln zu sättigen, sondern dass sie nur dem Gesetzgeber das Recht einräumen soll, das Eigentum des EInzelhändlers an diesen zu beschränken.
Ihre Behauptung “keinesfalls nimmt das einer so wörtlich. wie der kleine Atheist das gerne versteht.” steht unbewiesen im Raum. Ich bin mir sicher, dass es mehr als eine handvoll erwachsener großer Gläubiger gibt, die noch als geschäftsfähig gelten aber gleichzeitig ihr Glaubensbekenntnis eins-zu-eins so meinen, wie sie es aufsagen. Die Beweislast liegt übrigens bei Ihnen.
[1] „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
@Mona: Dass der Auferstehungsglaube unstritten ist, sollten Sie m.E. am kommenden Sonntag im Gottestdienst vorbringen. Berichten Sie uns bitte, wie die Reaktion der Gemeinde und wie schlagfertig die/der Geistliche war.
@Ano Nym:
Das wird schwierig werden, ich habe nur ein Kind, da kann sich jeder ausrechnen wie oft ich in die Kirche gehe. 🙂
@Ludwig Trepl
Nur zur Erläuterung. Den Hinweis auf eine protestantisch-christliche Herkunft hatte ich wohl en passant hier aufgeschnappt:
Hans-Michael Haußig. Zum Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam.
DOI: 10.1007/978-3-531-91005-5_5
Vgl. die zweite Seite des Previews. Auf den kompletten Aufsatz habe ich keinen Zugriff, das Buch ist allerdings auch auch bei google books partiell einzusehen.
@Ludwig Trepl [5. November 2014 16:55]
»Mir ist unbegreiflich, wie man überhaupt angesichts dessen, was doch offen zutage liegt, auf die Idee kommen kann, die Frage der Erblichkeit von Religiosität sei eine, der nachzugehen man ernsthaft in Betracht ziehen sollte. Innerhalb von einer oder zwei Generationen nahmen ganze Gesellschaften Religionen an oder gaben sie fast vollständig auf (Rußland, DDR). Genetisch kann da gar nichts passiert sein.«
Es ist zu unterscheiden zwischen Religion und Religiosität. Eine Religion kann man wechseln wie das Hemd, die Religiosität nicht. Religiosität ist das, was im Einzelfall bleibt oder bleiben kann, wenn das soziokulturelle Umfeld religionsfrei (geworden) ist. Wenn man bejaht, dass Religiosität etwas Ähnliches wie ein Persönlichkeitsmerkmal ist, und ich wüsste nicht, was dagegen spräche, dann kann man auch nach der Erblichkeit dieses Merkmals fragen, also nach dem genetischen Anteil bei der Ausprägung des Merkmals Religiosität. Und zwar auch dann, wenn man der Überzeugung ist, dass man keinen relevanten Zusammenhang zwischen Genen und Religiosität finden wird (genauso wenig wie z. B. bei der Intelligenz).
Ludwig Trepl, @ Balanus
Weitgehende Zustimmung (hab ich so etwas nicht oben angedeutet?). Es könnte eine gefühlsmäßige Disposition geben z. B. dazu, zu grübeln, sich um alles Sorgen zu machen usw., die könnte genauso biologisch erblich sein wie etwa eine Neigung zur Aggressivität. Nur: auch so etwas bleibt nicht konstant, hat man nicht sein Leben lang wie die erbliche Haarfarbe. Zahllose Menschen quälten sich in einer bestimmten Lebensphase mit religiösen Fragen, etwa nach dem Sinn von allem oder nach der Erlösung, und später wurde ihnen das völlig gleichgültig, und umgekehrt. Auch muß aus der Neigung zu „Religiosität“ nicht folgen, daß sie im Sinne unserer empiristischen Religionswissenschaftler tatsächlich eher einer Religion zuneigen – und die wollen ja messen, zählen Kirchenbesuche usw. Wie viele Menschen waren nicht glühende Anhänger einer Religion, und dann wurden sie, ohne daß ihre „Religiosität“ nachließ, glühende Anhänger eines atheistischen Kommunismus! Was man sich vorstellen könnte an erblicher Disposition zu „Religiosität“, läßt sich zu allen möglichen realen Überzeugungen machen – auch zu völlig nüchternen moralischen. Kant, der sein Leben lang über religiöse Fragen grübelte und gewiß „Religiosität“ in höchsten Maße hatte, kam schließlich zu dem nüchternen Ergebnis: „’Es ist nicht wesentlich, und also nicht jedermann notwendig zu wissen, was Gott zu seiner Seligkeit tue, oder getan habe’; aber wohl, was er selbst zu tun habe, um dieses Beistandes würdig zu werden.“ Und genauso – beliebtes Thema in der Literatur – kann ihn seine Religiosität zu ganz unmoralischen Folgerungen treiben.
@Ludwig Trepl /Disposition zu „Religiosität“
»Was man sich vorstellen könnte an erblicher Disposition zu „Religiosität“, läßt sich zu allen möglichen realen Überzeugungen machen – auch zu völlig nüchternen moralischen.«
Das wäre dann nicht das, was ich mir unter einer solchen erblichen Disposition vorstelle. Mir geht es um Glaubensüberzeugungen, solche, wie sie z. B. Karl Barth hatte, nicht aber einer wie Bertrand Russell.
Wenn ich zwei außergewöhnlich begabte Menschen mit völlig unterschiedlichen Glaubensauffassungen vor mir habe, dann fällt es mir schwer zu glauben, dass dieser Unterschied in Sachen Glaube überwiegend auf Vernunft oder auf unterschiedlicher Erziehung/Erfahrung basieren soll. Nach meiner Auffassung liegen hier verschiedene, gengesteuerte Entwicklungsgänge vor, die zu unterschiedlichen Hirnarchitekturen und folglich unterschiedlichen Möglichkeiten des Für-wahr-haltens geführt haben. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum Zwillingstudien (Monozygote vs. Dizygote) zur Religiosität zu den bekannten Ergebnissen führen.
Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass die einmal entstandenen „Verdrahtungen“ im Hirn natürlich nicht in Stein gemeißelt sind. Da gibt es langsame Veränderungen (durch Lernen und Verlernen) und auch, wenn‘s schlimm kommt, schlagartige.
Jedenfalls ist das die Vorstellung, dass eine Eigenschaft durch ein sie ermöglichendes Vermögen mitbedingt ist (inwiefern diese Vorstellung schon verkehrt ist, müsste man gesondert erörtern).
Jetzt habe ich zwei Populationen. Deine eine hat eine Religion, ich weiß also, dass die auch religiös ist. Die anderen hat keine Relgioin. Woher weiß ich, ob die zweite Population relgiös ist? Muss ich dazu einen Missionar hinschicken? Gibt es Populationen, die nicht missioniert werden konnten?
@Ano Nym /Religion vs. Religiosität
»Jetzt habe ich zwei Populationen. Deine eine hat eine Religion, ich weiß also, dass die auch religiös ist.«
»Gibt es Populationen, die nicht missioniert werden konnten?«
1) Wenn in einer Population Religion vorkommt, ist anzunehmen, dass es dort hinreichend viele Menschen gibt, die religiös sind. Ansonsten müsste man annehmen, dass es sich um eine Schein-Religion handelt, die aus bestimmten Gründen heraus praktiziert wird.
»Die anderen hat keine Relgioin. Woher weiß ich, ob die zweite Population relgiös ist? Muss ich dazu einen Missionar hinschicken?«
2) Nein. Wenn in einer Population keine Religion vorkommt, dann vielleicht deshalb, weil jede Religionsausübung verboten ist. Dann muss man die Menschen beobachten und befragen, wenn man herausfinden will, ob sie religiös sind. Wenn man ein abgeschiedenes Volk finden sollte, in dem noch nie ein religiöser Kult praktiziert wurde und es keine Vorstellungen von einem „Jenseits“ oder irgendwelchen „höheren Mächten“ gibt, dann gibt es dort wohl nur nichtreligiöse Menschen.
Ergänzend sei hinzugefügt, dass man, wenn man „Religiosität“ abfragt, sich darüber im Klaren sein muss, dass man nur einen Teilaspekt des Komplexes „Religiosität“ erfassen kann, eben den, den man zuvor definitorisch festgelegt hat.
»Gibt es Populationen, die nicht missioniert werden konnten?«
Klar, die Population der Atheisten und Hardcore-Skeptiker.
@Balanus
»Religiosität ist das, was im Einzelfall bleibt oder bleiben kann, wenn das soziokulturelle Umfeld religionsfrei (geworden) ist.«
Religionsfrei? Dein Ansatz zur Religiosität setzt damit implizit eine Unterscheidung Religion/Nichtreligion als gegeben voraus. Eine solche Unterscheidung ist aber nicht gegeben — nicht in einer für wissenschaftl. Belange akzeptierten Form, wobei es nicht interessiert, dass vermutlich so gut wie jeder Laienbruder meint, eine treffliche Vorstellung davon zu haben, was Religion ist und was nicht. Lassen wir da lieber noch einen Fachmann zu Worte kommen:
J. Schlieter (2010). Paradigm lost? „Europäische Religionsgeschichte“, die Grundlagenkrise der „systematischen Religionswissenschaft“ und ein Vorschlag zur Neubestimmung. VSH-Bulletin, 36(1), 42-51. [PDF]
@Chrys /Religion
»Religionsfrei? Dein Ansatz zur Religiosität setzt damit implizit eine Unterscheidung Religion/Nichtreligion als gegeben voraus.«
Ich verfolge in etwa den gleichen Ansatz wie Hans-Michael Haußig (Zum Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, 2008) …
…und Pascal Boyer:
The Fracture of An Illusion: Science And The Dissolution Of Religion.
Vandenhoeck & Ruprecht, 2010.
Im Übrigen hast Du oben mal den Begriff „Hindu-Frau“ verwendet, und zwar so, als wäre damit etwas Wesentliches ausgesagt. Du setzt also implizit eine Unterscheidung Hindu/Nichthindu als gegeben voraus.
@Balanus
Zur Verdeutlichung dessen, was Haußig da anstrebt, hättest Du ihn vielleicht besser mit einer anderen Textstelle zitiert:
Der Versuch einer Charakterisierung von Religion, der sich auf das stützt, was “in irgendeiner Weise als transzendent oder heilig” erscheint, ist unzureichend für eine kulturunabhänhgige Begriffsbildung, vgl. auch Schlieter (2010).
Wenn ich es korrekt einschätze, dann möchtest Du gerne Religiosität als eine Art kulturunabhängiges Phänomen sehen, dessen kulturabhängige Ausprägungen sich in Gestalt von Religionen manifestieren. Nun, wie Pirner schreibt, ist es durchaus statthaft, eine der jeweiligen Untersuchungsmethodik zugepasste Arbeitsdefinition von Religiosität in Anschlag zu bringen. Entscheidend ist dabei jedoch, dies auf der Grundlage theoretischer Erwägungen vorzunehmen, sodass Nachvollziehbarkeit gewährleistet und eine unkontrollierte Übernahme unreflektierter Voraussetzungen vermieden wird. Bei Deinem Ansatz sehe ich speziell das “religionsfreie Umfeld” als nicht nachvollziehbar, das ist so nicht wohldefiniert.
Ich halte es übrigens auch für eine Form von Patternicity, wie manche Menschen zu glauben scheinen, dass praktisch allem, was sie durch eine sprachlich konstruierte Substantivierung (wie Religiosität) bezeichnen können, wie selbstverständlich eine vom Bezeichner unabhängige Realität zukommen müsse, und sich dann den Kopf darüber zerbrechen, wie das so Bezeichnete wohl “evolutionär emergiert” sein kann. Naiver naturhistorischer Realismus ist bestimmt eine Neurose, keine philosophische Position.
»Du setzt also implizit eine Unterscheidung Hindu/Nichthindu als gegeben voraus.«
Ach nein. Die Bezeichnung Hindu-Frau habe ich wörtlich von Monika Jakobs übernommen, und diese Hindu-Frau selbst war es, die das Wort “Hindu” als ein Unterscheidungsmerkmal zwischen sich und ihrem Gegenüber (mutmasslich der Religionssoziologe Joachim Matthes) in einer Gesprächssituation verwendet hat. Die sich für sie daraus ergebenden Konsequenzen hinsichtlich einer ihrem Gesprächspartner begreifbaren Ausdrucksweise hielt dieser berechtigterweise für bemerkenswert genug, um diesen Umstand in einer Publikation gesondert hervorzuheben.
@Chrys
»Ach nein.«
Oh doch!
„Hindu-Frau“ war nicht als Zitat gekennzeichnet, also muss der Leser annehmen, dass Du Dir diese Bezeichnung zu Eigen gemacht hast. Aber das ist nebensächlich, mir ging es darum, dass Hindu von Nicht-Hindu unterschieden wird, sei es von der „Hindu-Frau“ selbst, von Monika Jakobs, von Dir, oder von wem auch immer. Hindusein scheint etwas zu bedeuten.
»Zur Verdeutlichung dessen, was Haußig da anstrebt, hättest Du ihn vielleicht besser mit einer anderen Textstelle zitiert:«
Auch das ist ein Nebenkriegsschauplatz. Ob der Hinduismus unter den „christlich-europäischen“ Oberbegriff „Religion“ fällt oder nicht, sollen die Religionswissenschaftler unter sich ausmachen. Mir geht es um ein menschliches Verhalten und darum, was an diesem Verhalten lediglich Tradition und was Veranlagung ist, bzw., wie beides zusammenwirkt. Ich bin also immer noch bei Joe Dramigas Blog-Beitrag.
»Wenn ich es korrekt einschätze, dann möchtest Du gerne Religiosität als eine Art kulturunabhängiges Phänomen sehen, dessen kulturabhängige Ausprägungen sich in Gestalt von Religionen manifestieren.«
…manifestieren können, ja, so kann man das sagen. Mir geht es um eine mutmaßliche anthropologische Konstante.
»Bei Deinem Ansatz sehe ich speziell das “religionsfreie Umfeld” als nicht nachvollziehbar, das ist so nicht wohldefiniert.«
Es ging in diesem Kontext lediglich um politische Systeme (DDR, Russland), die der Religionsausübung negativ gegenüberstanden, eben darum, dass von einem Verbot einer Religion die individuelle Religiosität nicht unmittelbar betroffen ist.
»Ich halte es übrigens auch für eine Form von Patternicity, wie manche Menschen zu glauben scheinen, dass praktisch allem, was sie durch eine sprachlich konstruierte Substantivierung (wie Religiosität) bezeichnen können, wie selbstverständlich eine vom Bezeichner unabhängige Realität zukommen müsse, und sich dann den Kopf darüber zerbrechen, wie das so Bezeichnete wohl “evolutionär emergiert” sein kann.«
Wäre da nicht “evolutionär emergiert” gestanden, hätte ich mich fast angesprochen gefühlt. Aber ich sehe das angesprochene Problem auch. Neben „Religiosität“ und „Religion“ kennen wir auch das Bewusstsein, den Geist, die Seele, die Willensfreiheit, und so weiter und so fort, bis hin zu Gott.
Dennoch, die diesen Substantivierungen zugrundeliegenden (Natur-)Phänomene können durchaus Gegenstand der empirischen Wissenschaften sein. Denn (fast) nichts im Verhalten des Menschen ergibt einen Sinn, es sei denn im Lichte der Evolution.
@Balanus
Wie man sieht, es gibt mehr als eine Möglichkeit, mir einer Hindu-Frau zu Missverständnissen zu kommen. Wer hätte das geahnt?
Zum Glück lässt sich wenigstens “evolutionär emergent” klarer zuordnen. Dass dies in einer angedachten Anwendung auf Religiosität oder Religion mindestens cum grano salis zu nehmen ist, sollten eigentlich auch diejenigen einsehen, die in diese Richtung marschieren wollen. Allein das “Messen von Religiosität” sowie die Interpretation dessen, was man da gemessen zu haben glaubt, ist problematisch. Wie Monika Jakobs feststellt, zeigt es sich dabei, dass traditionelle Items wie Kirchgang oder Gottesglaube irgendwie praktikabel sind, “aber ihr Ziel verfehlen.” Wie ich meine, argumentiert sie insgesamt ausgesprochen plausibel und schlüssig, und ich wüsste ihr hier nicht zu widersprechen:
P.S. Ohne Deine NdG-Aussperrung wäre es bestimmt nicht dazu gekommen, dass ich derlei Texte herausgesucht und gelesen hätte. Immerhin etwas dazugelernt — always look on the bright side of life…
@Chrys
Auch wenn Monika Jakobs meint, dass das Religiöse nicht etwas ist, das es gibt, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass Menschen Opfersteine und Altäre errichtet haben. Egal, wie wir es nennen, aber die damit verbundenen Vorstellungen und Überzeugungen gab und gibt es, damals wie heute, und nicht jeder kann diese Vorstellungen und Überzeugungen teilen (selbst, wenn er wollte). Kann man die Frage, wie es zu diesem unterschiedlichen Vermögen in Glaubensdingen kommt, mit wissenschaftlichen Mitteln untersuchen? Ich meine, ja.
»…always look on the bright side of life…«
Yep, ein schönes Schlusswort.
@Balanus
Fraglos ist es so, dass sich über diskursive Tatsachen wissenschaftlich (durchaus auch empirisch) forschen lässt. Ein vielleicht weniger verfängliches Beispiel wäre Naivität, davon fühlt sich zumindest niemand persönlich betroffen. Gleichwohl liesse sich systematisch untersuchen, wie bestimmten Einstellungen, Verhaltensweisen, Behauptungen etc. das Attribut “naiv” zugeschrieben wird.
Als naiv erschiene mir beispielsweise die Behauptung, Naivität sei ein genetisch veranlagtes Merkmal, das irgendwann in grauer Vorzeit evolutionär emergiert sein soll.
@Chrys
. »Als naiv erschiene mir beispielsweise die Behauptung, Naivität sei ein genetisch veranlagtes Merkmal, das irgendwann in grauer Vorzeit evolutionär emergiert sein soll.«
Nun ja, wenn man Naivität zum Spektrum der kognitiven Merkmale zählt, also als eine Ausprägung oder Variante des Merkmals Denkvermögen, dann hat Naivität schon Wuzeln in der Evolution und steckt partiell auch in den Genen, nicht weniger als z. B. die Cleverness oder Intelligenz.
Aber hier ist halt nichts „emergiert“, das stimmt.
Auf NdG wurde das Emergenz-Rad ja inzwischen weitergedreht, „backward causation“ soll auch evolutionär emergiert sein, wenn ich das recht verstanden habe.
@Balanus
Von einem Merkmal lässt sich sinnvollerweise nur dann reden, wenn die Möglichkeit gegeben ist, im konkreten Falle festzustellen, ob das Merkmal zutrifft oder nicht. Bei dieser (an Einstein angelehnten) Formulierung wäre noch zu fordern, dass die Feststellung des Zutreffens nach Regeln zu erfolgen hat, die nicht massgeblich von einem subjektiven (e.g. kulturell geprägten) Vorverständnis des Feststellenden abhängen. Für die Beurteilung diskursiver Tatbestände lässt sich das so nicht gewährleisten, sonst wären sie nicht als diskursiv gekennzeichnet, und speziell hinsichtlich der Religiosität wurde das, wie ich meine, in den diversen angeführten Texten auch deutlich hervorgehoben. Demzufolge ist Religiosität dann auch kein Merkmal.
Was sich tatsächlich studieren lässt, ist eine Vielfalt von Ausdrucks- und Verhaltensweisen, und das kann u.a. mit sozio- oder psychologischen Ansätzen untersucht werden. Mit allen Aktivitäten von Hirnbesitzern gehen naturgemäss neuronale Erregungen einher, doch diese im konkreten Falle in geerbte oder erlernte Komponenten zerlegen zu wollen, wäre unsinnig, nicht zuletzt angesichts Deines obigen Hinweises auf Griffiths et al. (2000).
»Auf NdG wurde das Emergenz-Rad ja inzwischen weitergedreht, „backward causation“ soll auch evolutionär emergiert sein, wenn ich das recht verstanden habe.«
Gibt es auf NdG eigentlich noch irgendwas, das nicht evolutionär emergiert ist?
@Chrys
Religiosität—ein biologisches Merkmal?
Wie müssten wir denn „Religiosität“ definieren, damit aus dem kulturellen Begriff ein brauchbarer biologischer, also kulturunabhängiger Begriff wird? (Kulturunabhängig meint hier nur unabhängig von einer bestimmten Kultur).
In der Verhaltensbiologie spricht man auch von Verhaltensmodulen, die situationsbedingt aufgerufen werden können. Zum besseren Verständnis hier eine Auszug aus Martin Heisenbergs Essay „Is free will an illusion?“ (NATURE|Vol 459|14 May 2009):
Könnte man die Hinwendung an jenseitige Entitäten nicht als ein Verhaltensmodul ähnlich wie etwa Klavierspielen betrachten?
Klavierspielen ist eindeutig ein erworbenes Verhaltensmodul, aber nicht jedem ist es gegeben, es erwerben zu können (wenn wir Messlatte hinreichend hoch legen). Ganz ähnlich könnte es mit der „Religiosität“ sein.
Wie erklären Sie es sich aber dann, daß bis vor ca. 300 Jahren niemand auf die Idee kam, es könne Menschen ohne Religiosität (durchaus im Sinne unserer biologischen Religionswissenschaftler: Fürwahrhalten übernatürlicher, jenseitiger Akteure oder Entitäten) überhaupt geben? Un heute gibt es so viele. Hat da eine Mutation stattgefunden?
Ist das so, Herr Trepl, dass bis vor rund 300 Jahren alle Menschen von der Existenz jenseitiger Wesenheiten überzeugt waren?
Aber selbst wenn das stimmte, wäre das kein Argument gegen meine Vorstellungen. Wenn in einer Gesellschaft über kurze Zeiträume hinweg sehr viele Menschen vom Glauben abfallen, dann zeigt das nur, dass die Veranlagung, an jenseitige Wesenheiten glauben zu können, weit weniger verbreitet war, als der äußere Anschein vermuten ließ.
Nach meiner Auffassung gibt es einen relativ stabilen Anteil an Menschen (in einer Gesellschaft), die im Laufe ihres Lebens den während der Kindheit erworbenen Glauben vollends aufgeben können, oder zumindest aufgeben könnten, wenn die Umstände es zuließen.
Es gibt sicherlich mehr Menschen, die von ihrer Veranlagung her ein Instrument spielen könnten, als es dann auch tatsächlich tun.
@Balanus
»Mir springt die Ähnlichkeit zwischen wissenschaftlichem Denken und Wunderglauben nicht gerade ins Auge.«
Karl Popper sprang folgendes ins Auge:
»Aber interessanterweise erkennen wir es [das Religiöse] meist, wenn wir ihm begegnen. Es scheint, als hätten wir einen speziellen Sensor für derartige Verhaltensäußerungen.«
Du wirst garantiert nur das als religiös erkennen, was Du — weitestgehend unbewusst — von Kindesbeinen an mit “religiös” zu assoziieren gelernt hast. Und dazu braucht Dein Hirn gar keine spezielle Antenne für Religiöses.
Balanus, @Chrys
Ja, der Karl Popper.
Der hat vieles gesagt. Beispiel gefällig?
[Popper, 1976, p. 168]
Aber davon ab, was Popper da anspricht („For in our own time, the earlier, naturalistic, revolution against God…”), das war ja alles lange vor meiner Zeit.
»Du wirst garantiert nur das als religiös erkennen, was Du — weitestgehend unbewusst — von Kindesbeinen an mit “religiös” zu assoziieren gelernt hast.«
Das wäre auch meine Vermutung.
»Und dazu braucht Dein Hirn gar keine spezielle Antenne für Religiöses.«
Ok, vielleicht muss die Antenne nicht sonderlich speziell sein, aber doch spezifisch genug, um die richtigen Signale empfangen zu können. Und die Signale richtig deuten kann nur der, der das gelernt hat—ob bewusst oder unbewusst, ist nicht so wichtig.
Jürgen@Balanus
“Ja, der Karl Popper.Der hat vieles gesagt”
Ich habe ja gerade kaum Zeit mitzudiskutieren. Aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß Popper hier aus dem Zusammenhang gerissen ist. Was er noch gesagt hat:
“The fact that the theory of natural selection is difficult to test has led some people, anti-Darwinists and even some great Darwinists, to claim that it is a tautology. . . . I mention this problem because I too belong among the culprits. Influenced by what these authorities say, I have in the past described the theory as “almost tautological,” and I have tried to explain how the theory of natural selection could be untestable (as is a tautology) and yet of great scientific interest. My solution was that the doctrine of natural selection is a most successful metaphysical research programme. . . . [Popper, 1978, p. 344]
I have changed my mind about the testability and logical status of the theory of natural selection; and I am glad to have an opportunity to make a recantation. . . . [p. 345]
What Darwin showed us was that the mechanism of natural selection can, in principle, simulate the actions of the Creator and His purpose and design, and that it can also simulate rational human action directed towards a purpose or aim. [Popper, 1972, p. 267; see also Popper, 1978, pp. 342-343]
His theory of adaptation was the first nontheistic one that was convincing; and theism was worse than an open admission of failure, for it created the impression that an ultimate explanation had been reached. [Popper 1976, p. 172]
Ein interessantes Buch zur Evolution scheint mir übrigens ‘The Faith Instinct” von Nicholas Wade.
@Jürgen Bolt
»Aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß Popper hier aus dem Zusammenhang gerissen ist.«
Aber nicht so, dass es missverständlich wird. Dass er später seine Aussage revidiert hat (manche würde vielleicht sagen: zurückgerudert ist), wie Deine Zitierungen zeigen, ist eine andere Geschichte.
Wenn Chrys mit einer Autorität argumentiert, muss ich halt versuchen, diese Autorität ein wenig zu erschüttern. Mehr steckt da nicht dahinter.
Schöne Grüße in die Eifel…
@Balanus
Der Ansatzpunkt für die Soziobiologie liegt meines Erachtens darin, dass die Hominiden schon immer in sozialen Gemeinschaften gelebt haben, die, und das scheint wesentlich, stets durch ein gemeinschaftliches Praktizieren von Ritualen organisiert und stabilisiert werden. Soziale Insekten brauchen meines Wissen keine Rituale, und die eine Staatsqualle kostituierenden Individuen erst recht nicht. Diese sozialen Lebensformen funktionieren signifikant anders als menschliche Gemeinschaften, die u.a. Flaggen, Wappen, Hymnen etc. als identitätsstiftende Symbolik benötigen.
Man könnte sich vorstellen, dass unsere frühen Vorfahren kultische Rituale so unreflektiert herausgebildet haben, wie es noch heute beim Fankult im Fussball geschieht. Gemeinsames Singen von “Zieht den Bayern die Lederhosen aus” stiftet Gemeinschaft, indem gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber einem missliebigen Konkurrenten stattfindet. Einem scheinbar sinnlosen Hopsen und Singen kann eine wichtige soziale Funktion zukommen, wie auch die uns merkwürdig erscheinenden Balzrituale von Haubentauchern für das Zusammenleben dieser Tiere enorm bedeutsam sind.
Der sozial konstituierende Aspekt scheint mir jedenfalls primär für das Entstehen kultisch-ritueller Praktiken. Ein Glaube an Überempirisches ist dafür nicht vorauszusetzen. Zumal Naturgeister von unseren Ahnen sicherlich nicht als überempirisch erlebt worden sind, sondern in ihrem vermeintlichen Wirken durchaus in der Natur erkennbar waren. Ganz ähnlich, wie wenn Du in den Dir bekannten Naturgesetzen eine “kausale Abgeschlossenheit der Welt” zu erkennen meinst.
Eher ist das Erscheinen dessen, was als explizite Religiosität und Religionen angesehen wird, im Zuge einer kulturellen Entwicklung hin zu komplexeren Gemeinschaften plausibel vorstellbar. Das transzendiert dann aber auch den Bereich der Soziobiologie.
Was sich hinter dem verbirgt, worauf der Sammelbegriff Religiosität Anwendung findet, ist nach meinem Verständnis eine Familienähnlichkeit im Sinne Wittgensteins. Ich sehe da jedenfalls nirgendwo ein konkretes Merkmal, anhand dessen sich intersubjektiv und einvernehmlich festmachen liesse, was an einer Handlung, einem Text, einem Symbol etc. genau das Religiöse ausmachen soll.
@Chrys
»Der sozial konstituierende Aspekt scheint mir jedenfalls primär für das Entstehen kultisch-ritueller Praktiken. Ein Glaube an Überempirisches ist dafür nicht vorauszusetzen.«
Da kann ich mitgehen.
»Zumal Naturgeister von unseren Ahnen sicherlich nicht als überempirisch erlebt worden sind, sondern in ihrem vermeintlichen Wirken durchaus in der Natur erkennbar waren.«
Nun ja, verschieden von den Dingen der erlebten Natur wird man die Naturgeister schon wahrgenommen haben, insofern also sehr wohl außerhalb der greifbaren Natur, also als etwas Unbegreifliches. Und die Sache mit dem vermeintlichen Wirken der Geister in der Natur, das finden wir ja auch bei den Heutigen. Und das finde ich viel spannender als die Spekulationen über das mutmaßliche Denken unserer prähistorischen Ahnen.
»Ganz ähnlich, wie wenn Du in den Dir bekannten Naturgesetzen eine “kausale Abgeschlossenheit der Welt” zu erkennen meinst.«
Das müssten wir an anderer Stelle noch mal ausdiskutieren. Mir springt die Ähnlichkeit zwischen wissenschaftlichem Denken und Wunderglauben nicht gerade ins Auge.
»Ich sehe da jedenfalls nirgendwo ein konkretes Merkmal, anhand dessen sich intersubjektiv und einvernehmlich festmachen liesse, was an einer Handlung, einem Text, einem Symbol etc. genau das Religiöse ausmachen soll.«
Tja, da kann man wohl nichts machen. „Das Religiöse“ ist natürlich nicht so scharf zu fassen wie ein körperliches Merkmal. Aber interessanterweise erkennen wir es meist, wenn wir ihm begegnen. Es scheint, als hätten wir einen speziellen Sensor für derartige Verhaltensäußerungen.
@Balanus, @Chrys, @Ludwig Trepl
In dem PNAS-Paper Cognitive and neural foundations of religious belief
schreiben die Autoren:
“Our analysis reveals 3 psychological dimensions of religious belief (God’s perceived level of involvement, God’s perceived emotion, and doctrinal/experiential religious knowledge)”…
“The findings support the view that religiosity is integrated in cognitive processes and brain networks used in social cognition, rather than being sui generis. The evolution of these networks was likely driven by their primary roles in social cognition, language, and logical reasoning.”….
“Regardless of whether God exists or not, religious beliefs do exist and can be experimentally studied, as shown in this study.”
Oops, eine falsche Plazierung der Entgegnung
https://scilogs.spektrum.de/die-sankore-schriften/hyperactive-agency-detection-device-hadd/#comment-5587
Doch, was die “Zeitlichkeit” angeht, weiß man genug für unsere Frage. Genetische Veränderungen welcher Art auch immer müssen sich in Populationen ausbreiten, und das geht nicht schneller, als es die Generationenfolge zuläßt.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: auch eine biologische Vererbung nicht in der DNS festgelegter Eigenschaften springt nicht von erwachsenem Individuum zu erwachsenem Individuum, so daß etwa ein religiöser Mensch seinen Nachbarn damit anstecken könnte wie mit einer Grippe und die dann auf dessen Kinder vererbt wird.
@Chrys /Zwischenbemerkung
Ich lese gerade den von Dir verlinkten Aufsatz von Murray Gell-Mann und finde darin einen Absatz, der (a) genau zum Thema des Blog-Beitrags passt, und (b) auch ein mögliches Problem der evolutionären Religionswissenschaft anspricht:
—
PS: Hast Du auch Ludwig Trepls Kommentar bez. „Selbstorganisation“ weiter oben gesehen?
@Balanus
Jawohl, Murray Gell-Mann hat anscheinend die Kerbe geschlagen, in die dann nachfolgend Michael Shermer mit “Patternicity” und “Agenticity” gehauen hat. Da Shermer gelegentlich Gell-Mann zu erwähnen pflegt, ist anzunehmen, dass Shermer auch dieser Text von Gell-Mann durchaus zuvor bekannt war.
Danke für den Hinweis, hatte das tatsächlich übersehen. Schön, dass sich auch Ludwig Trepl hier noch eingefunden hat.
P.S. Und Joe Dramiga hat da noch einen interessanten Link eingebracht zu Darwins eigenem Interesse an Sprachevolution…
@Chrys /Sprachevolution
Dank Joe Dramigas Link zu dem Interview über Darwin und Sprachevolution habe ich mir den von Dir verlinkten Übersichtsartikel zur Evolution der Sprache als Phänotyp (M.D. Hauser, C. Yang, R.C. Berwick, I. Tattersall, M.J. Ryan, J. Watumull, N. Chomsky and R.C. Lewontin, 2014) näher angeschaut, und ich muss sagen, er ist wirklich lesenswert, ja geradezu mustergültig, was den kritischen Umgang mit den vorliegenden Daten angeht. Da könnte sich manch einer, der in diesem Feld forscht, eine Scheibe abschneiden.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Evolution der Sprache noch immer ein großes Rätsel ist, und dass die Aussichten, hier etwas Klarheit schaffen zu können, äußerst schlecht sind. Die Daten-Lücke zwischen Tier und Mensch ist einfach zu groß.
Da scheinen die Leute, die die Evolution der Religiosität (als phänotypisches Merkmal) erforschen, ja erheblich optimistischer zu sein. Man kann über diesen Optimismus eigentlich nur staunen. Aber wer weiß, vielleicht ist er ja berechtigt.
@Balanus Du schreibst: “Die Daten-Lücke zwischen Tier und Mensch ist einfach zu groß. Da scheinen die Leute, die die Evolution der Religiosität (als phänotypisches Merkmal) erforschen, ja erheblich optimistischer zu sein. Man kann über diesen Optimismus eigentlich nur staunen. Aber wer weiß, vielleicht ist er ja berechtigt.”
Ich denke, dass Darwins Perspektive auf die Evolution von Sprache allgemeiner und weniger anthropozentrisch als die eines Sprachwissenschaftlers ist. Sprache kann man auch als innerartliche Lautkommunikation des Säugetiers Mensch beschreiben. Das sie sich auf der semantischen Ebene nicht zufriedenstellend aus der Naturgeschichte der Landwirbeltiere erklären lässt, verursacht natürlich jedem Evolutionsbiologen Bauchschmerzen.
Ein Ausweg wäre vielleicht das Konzept des Punctuated Equilibrium auf die Evolution der Hirnfunktionen anzuwenden, das würde nebenbei den Vorteil bieten nicht-adaptiven Mechanismen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Sprache als Epiphänomen – Gibt es Biologen und Sprachwissenschaftler, die sich mit diesem Gedanken anfreunden könnten? Bloss würde man vermutlich erwarten, dass bei KI-Forschung an Robotern mit neuronalen Netzen bestimmte Phänomene der Sprachentwicklung, die man bei Kindern wahrnimmt, auch dort auftreten. Dann hätte man Roboter mit Universalgrammatik (im Kontext der sogenannten Prinzipien-und-Parameter-Theorie).
Jetzt stell Dir mal bitte einen Roboter vor mit dem enzyklopädischen Wissen einer Wikipedia und einer dem Menschen überlegenen Sensorik und Motorik der Religiosität entwickelt? Das wäre für mich eine größere Überraschung als die Sprache. Von daher würde mich interessieren wie sich so ein Optimismus begründet.
Von Tieren die in Rudeln und in Revieren leben zur Religion beim Menschen scheint mir da die kleinere Lücke.
“Sprache kann man auch als innerartliche Lautkommunikation des Säugetiers Mensch beschreiben.“
Nein. Sprache ist viel mehr. Sprache ist im Unterschied zur Lautkommunikation von Wirbeltieren Bestandteil eines Weltverhältnisses, in der die Welt zu einem Gegenüber wird – im Unterschied zum bloßen Vorhandensein, und der Sprecher zu einem Akteur unter anderen (also mit einem Blick von außen auf sich selbst). Der Unterschied zwischen tierischer Lautkommunikation und menschlicher Sprache ist kategorial, nicht quantitativ.
Sie werden eine Erklärung mit den Mitteln der Evolutionstheorie nicht hinbekommen.
@Joe Dramiga /Sprachevolution
»Sprache kann man auch als innerartliche Lautkommunikation des Säugetiers Mensch beschreiben.«
Gewiss, aber der Witz der Geschichte liegt eben in den Besonderheiten dieser innerartlichen Lautkommunikation, für die es im Tierreich offenbar keine Parallelen gibt, und wohl auch nichts, von dem man sagen könnte, hieraus ist mit der Zeit die sprachliche Kommunikation des Säugetiers Mensch entstanden (schreiben Hauser et al. 2014, und zwar recht überzeugend, wie ich finde).
»Ein Ausweg wäre vielleicht das Konzept des Punctuated Equilibrium auf die Evolution der Hirnfunktionen anzuwenden, das würde nebenbei den Vorteil bieten nicht-adaptiven Mechanismen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.«
Mit dem Effekt des Punctuated equilibrium lassen sich zum einen die paläontologischen Lücken in der Ahnenreihe der Spezies gut erklären (soweit ich weiß), zum anderen aber auch den forcierten Wandel in der Ausprägungen von Merkmalen. Aber gerade bei der Sprache kann ich mir nicht-adaptive Vorgänge, also zufällige Gendrift-Effekte und dergleichen, kaum vorstellen. Ich persönlich favorisiere da ein Modell der Selbstzüchtung: Je heller das Bewusstsein allgemein wurde, desto schwieriger hatten es Kinder, die nicht so helle waren, ins fortpflanzungsfähige Alter zu gelangen (oder eine(n) paarungswilligen Partner(in) zu finden). Das Ganze könnte man vielleicht als so etwas wie eine positive Rückkopplung bezeichnen (noch heute wird kaum etwas so hoch geschätzt wie die Intelligenz).
»Sprache als Epiphänomen…«
Da habe ich leider nicht verstanden, auf was Du hinauswillst.
»Von Tieren die in Rudeln und in Revieren leben zur Religion beim Menschen scheint mir da die kleinere Lücke [als bei der evolutionären Sprachentstehung]«
Würdest Du meinen, dass es erst die Sprache gab, und dann erst „religiöse“ Kulte, oder ist beides parallel entstanden? Oder war es gar genau andersherum, erst eine Art „religiöses“ Verhalten, und dann erst das Sprachvermögen?
(Bedenke: In der Bibel heißt es: ‚Am Anfang war das Wort‘, oder so ähnlich)
@Balanus »Sprache als Epiphänomen…« Damit meine ich, dass Sprache ein biologisches Nebenprodukt ist, das mit der Evolution des präfrontalen Cortex einhergegangen ist. Ich glaube Sprache kam vor „religiösen“ Kulten. Soviel ich weiß hat sich die Sprache vor spätestens 100.000 Jahren entwickelt. Religion gibt es erst seit der Jungsteinzeit.
@Joe Dramiga /Epiphänomen
Hmm, „biologisches Nebenprodukt“, im Sinne von Stephan Jay Gould, was der als „Sprandel“ bezeichnet hat, oder meinst Du das eher in Richtung eines „Funktionswandels“?
(Unter „Epiphänomen“ verstehe ich eine unbedeutende Begleiterscheinung irgendwelcher Vorgänge).
»Ich glaube Sprache kam vor „religiösen“ Kulten.«
Sorry, da hatte ich schlampig formuliert, als ich von religiösen „Kulten“ schrieb. Ich wollte den Begriff Religion vermeiden, aber gemeint waren bestimmte Vorstellungen, die wir heute rückblickend als religiös oder präreligiös bezeichnen könnten. Ich kann mir nur schlecht eine sprechende (bzw. denkende) Spezies vorstellen, die sich keine Gedanken über die Naturphänomene macht und diese nach den damals gegebenen Möglichkeiten interpretiert.
Ich meine das im Sinne von „Sprandel“.
@Joe Dramiga /Spandrel
Ich glaube, für die These, dass die Sprache ein Nebenprodukt irgendwelcher anderer evolutiver kognitiver Veränderungen sein könnte, gibt es so gut wie keine Anhaltspunkte. In diesem Punkt ist den Autoren Hauser et al. (2014) wohl zuzustimmen:
“The mystery of language evolution.”
http://dx.doi.org/10.3389/fpsyg.2014.00401
Geisterhand- und Außerkörperlichkeits-Illusionen können als Fehlinterpretation von wahrgenommenen Reizen entstehen – die Idee ´HADD´ ist damit überflüssig.
Unter http://www.spektrum.de/news/die-mechanische-Geisterhand/1317156 wird eine aktuelle Forschungsarbeit vorgestellt. Und die Zeitschrift ZEIT WISSEN Nr.6 Okt/Nov-2014 berichtet in einem Gespräch mit Prof. Blanke über den derzeitigen Stand der Forschung zur Außerkörperlichkeit.
@KRichard Setzt nicht die Illusion einer Geisterhand, den Glauben an eine Geisterhand (das Werkzeug eines Agenten) voraus und schaftt damit erst die Möglichkeit der Deutung? Wie nehmen das Menschen wahr die gar nicht wissen was Geister sind?
Im Spektrum-Artikel heißt dies FoP (Feeling of Presence); d.h. die gefühlte Gegenwart einer Person, auch wenn diese Person nicht wirklich gesehen wird bzw. vorhanden ist.
Nicht sichtbare Wesen als Geister zu bezeichnen wäre demnach eine sekundäre Deutung/Beschreibung, die sich erst aus kulturell erworbenem, gelerntem Wissen ergibt.
Ludwig Trepl, @AnoNym.
„Die Beweislast liegt bei Ihnen“: Ich kenne mich aus in dem Milieu, Sie können mich einfach als, wie ich meine, glaubwürdigen Zeugen nehmen.
Und natürlich gibt es „mehr als eine handvoll erwachsener großer Gläubiger, die noch als geschäftsfähig gelten aber gleichzeitig ihr Glaubensbekenntnis eins-zu-eins so meinen, wie sie es aufsagen“. Unter den Evangelischen in Deutschland gibt es ca. 1 Mio sog. Evangelikale, für die das gilt; und das sind nur die, die man erfassen kann. Geschäftsfähig sind die natürlich, aber sie gehören nicht zu denen, um die es mir geht. Ich dachte, das war deutlich genug. – Es gab mal eine Umfrage unter Schweizer reformierten Pfarrern, wer denn so einigermaßen an die Auferstehung wörtlich glaubt. Es waren nur wenige.
Man kann auch noch fragen, ob diejenigen, die sagen, sie meinen es eins-zu-eins so, wie sie es aufsagen, das tatsächlich glauben oder es sich nur einreden, so wie sich einer aus bekannten Gründen einredet „sie liebt mich noch“, aber das in Wirklichkeit nicht glaubt. Das sind vermutlich die meisten.
„Oder muss man sich das so vorstellen, dass die naiv Glaubenden zwar das Falsche glauben, aber zahlen- und kirchensteuermäßig auf sie aus naheliegenden, profanen Gründen nicht verzichtet werden kann (“Kanonenfutter”)?“
Ja, gewiß, und das war vor allem in der katholischen Kirche schon immer so: die Theologen glaubten etwas anderes als die Laien, etwas, was man denen nicht zumuten kann, sie verstehen es ja doch nicht. Man muß die entscheidenden Wahrheiten ihnen sozusagen kindgerecht präsentieren. Aber nur profane, „kirchensteuermäßige“(“Kanonenfutter”) Gründe hat das nicht, wenn auch nicht nie. Wenn man einem Kind Märchen erzählt, um ihm irgendwelche wichtigen Einsichten auf einem ihm zugänglichen Niveau zu vermitteln, dann bedeutet das nicht, daß man das Kind eigennützig hinters Licht führen will. Das mag ein Kind glauben, das gerade erfahren hat, daß der Weihnachtsmann gar nicht die Geschenke bringt, aber für einen Erwachsenen wäre das doch ein allzu platter Gedanke.
Sind die denn nicht religiös? Trauen Sie sich in einem sonntäglichen Gottestdienst aufzustehen und auf diejenigen Anwesenden mit naivem Kindsglauben zu zeigen und sie (oder sich selbst?) eines Verstoßes gegen das achte Gebot zu bezichtigen? Das würde mich mal interessieren.
Sie definieren die wahren Religiösen als alle Religösen abzüglich die, die falsch glauben. Die Frage, warum die, die falsch glauben, nicht von denen, die richtig glauben, über den falschen Glauben informiert werden, stellen Sie nicht. Sie beantworten auch nicht die Frage, warum die, die richtig glauben, sonntags zur selben Zeit im selben Raum zusammen mit denen, die falsch glauben, das selbe (!) Glaubensbekenntnis abgeben.
Glauben die dann noch dasselbe? Teilt der Hooligan, der nur anlässlich des Spiels am Stadion zum Zwecke der Schlägerei erscheint, mit dem Bengalo-Fan, der wegen des Spiels in den Tempel einzieht, im Kern dieselbe Geisteshaltung? (M.E.: Nein)
Natürlich nicht, da bin ich ja bei Ihnen. Die Frage ist aber doch, ob eine nicht nachweislich stattgefundene Begebenheit, die anschaulich erzählt wird, mit der Absicht erzählt wird, dass der Zuhörer sie nicht nur für möglich sondern auch für wahr hält. Das bestimmt den Unterschied zwischen Märchen und Lüge. Der messbaren Effekt, dass man in einer Gruppe von Protestanten durch die Bezeichnung ihrer heiligen Schriften als “Märchen” den Blutdruck signifikant erhöhen kann, den muss man schon irgendwie erklären. Ich erkläre mir das so: Der naiv Gläubige nimmt die Bezeichung der heilichen Schriften als”Märchen” wahr als den Vorwurf, eine Lüge schuldhaft nicht als solche erkannt zu haben.
Der Weihnachtsmann oder auch der Osterhase sind keine Märchengestalten und ihr Zweck ist auch nicht die Vermittlung von irgendwelchen Einsichten. Mit diesen Figuren spielen Eltern ein falsches Spiel, das ihnen von ihren Eltern vorgespielt und dann irgendwann hoffentlich von ihnen durchschaut worden ist, mit ihre Kinder weiter. Eltern, deren mentale Fähigkeiten zum Durchschauen dieser beiden “Narrative” nicht ausreichen, können diesen “Narrativ” nicht an ihre Kinder weiter”spielen”.
Ludwig Trep, @ AnoNym.
„Sind die (die Evangelikalen) denn nicht religiös?“
Sagte ich denn das? Es ging doch nicht um den Unterschied zwischen Religiösen und nicht Religiösen, sondern um den zwischen „Einfachen“ und „Komplizierten“. Allerdings: wenn jemand nur aus Angst vor einer als real gedachten Hölle nicht sündigt, weil ihm alle für glaubwürdig gehaltenen Personen sagen, die gäbe es, dann ist der wirklich nicht religiös. Er tut gute Werke aus keinem anderen Grund als einer, der aufhört zu trinken, weil er einen Leberschaden fürchtet und er den Arzt für glaubwürdig hält.
„Trauen Sie sich in einem sonntäglichen Gottestdienst aufzustehen und auf diejenigen Anwesenden mit naivem Kindsglauben zu zeigen und sie (oder sich selbst?) eines Verstoßes gegen das achte Gebot zu bezichtigen? Das würde mich mal interessieren.“
Wieso interessiert Sie denn das? Sie wissen doch die Antwort. Und warum sollte ich das tun? Kein auch nur ein bißchen höflicher Mensch würde das tun. Aber wenn es hinterher eine Diskussion gibt, würde ich schon reden.
“Glauben die dann noch dasselbe?“ Also sie, die reformierten Pastoren einerseits, die an eine leibliche Auferstehung Glaubenden andererseits. Ich meine: das kommt darauf an, was sie für den Kern ihres Glaubens halten.
„Sie definieren die wahren Religiösen als alle Religösen abzüglich die, die falsch glauben.“
Nein, ich glaub’ eher, daß (so gut wie) alle Religiösen falsch glauben; der Mensch ist fehlbar und wie in der Wissenschaft, so gibt es auch in religiösen Dingen bestenfalls Annäherungen. Nur: was einfach keiner sinnvollen Definition für „religiös“ gerecht wird (wie im Falle unseres die reale, physische Hölle fürchtenden und nur deshalb „guten“), sollte man auch nicht so nennen.
„Die Frage ist aber doch, ob eine nicht nachweislich stattgefundene Begebenheit, die anschaulich erzählt wird, mit der Absicht erzählt wird, dass der Zuhörer sie nicht nur für möglich sondern auch für wahr hält.“
Natürlich kann man einem Kind ein Märchen erzählen in der Absicht, daß es das für wahr hält, und so geschieht es in der Regel auch. Man sollte nur hinzufügen: Man sollte es ihm nicht mit der Absicht erzählen, daß es das sein Leben lang für wahr hält. Und so haben es die katholischen Priester immer gehalten: dem Bauern erzählte man das, wovon man meinte, daß es für ihn faßlich ist. Wenn er aber das Zeug zum Priester zeigte, führte man ihn allmählich an den „wahren Glauben“ heran. Daß man diese paternalistische Haltung politisch ablehnen kann und sollte, steht auf einem anderen Blatt.
“Weihnachtsmann oder auch der Osterhase sind keine Märchengestalten…“
Na und? Dann nehmen Sie eben andere Beispiele.
@Ludwig Trepl
Das ist der gleiche Mechanismus wie beim Rechtstreuen, der sich nur rechtstreu verhält, weil die Strafe droht. Das will ich gar nicht diskutieren.
Christlich ist der Glaube nur mit Bekenntnis. Das Bekenntnis umfasst aber die Auferstehung [1]. Da muss man schon viel freie Zeit haben, seinen Verstand so zu “ordnen”, dass da auf der einen Seite das wortwörtlich vollzogene Bekenntnis reinpasst und auf der anderen Seite auch noch Platz für das genaue Gegenteil davon ist. Warum sollte man sich dieser Zumutung eigentlich hingeben?
Sie schreiben das so, als hielten Sie das für ethisch vertretbar.
So wie man dem eigenen Partner den Seitensprung so lange verschweigt, bis er nicht mehr stattfindet? Läuft das unter “pragmatische Ethik” oder unter “ethischer Pragmatismus”? Jetzt haben Sie mich soweit ! – Ich äußere mich hier schon wie ein Moralist.
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Auferstehung_Jesu_Christi
Ach nee, ach nee, Herr Anonymus. Ob ich das für ethisch korrekt halte, wenn man Kindern Märchen erzählt so, als ob sie wahr wären? Wer außer Ihnen tut das denn nicht? Wie wollen Sie denn kleinen Kindern anders Märchen erzählen? Sagen Sie: Ich erzähle dir jetzt mal was über das tapfere Schneiderlein, aber das gibt es gar nicht. Das sagt man ihm erst, wenn es danach fragt, also einige Jahre später. Sie sind offenbar noch nie einem Kind begegnet. Oder sind Sie vielleicht ein modern ausgebildeter Lehrer? Das würde einiges erklären. Aber ich dachte bisher immer, Sie wäre Advokat.
Und dann das: „Das ist der gleiche Mechanismus wie beim Rechtstreuen, der sich nur rechtstreu verhält, weil die Strafe droht. Das will ich gar nicht diskutieren.“ Da bringen Sie aber etwas gewaltig durcheinander. Rechtlich ist es natürlich in Ordnung, aber ethisch nicht, wer sich so verhält, ist kein „guter Mensch“, er ist nur schlau. Und religiös gesehen ist es nicht in Ordnung, wenn einer Gutes tut aus Angst und nicht – falls er eine Religion hat, die einen Gott kennt – wenn er etwas wegen seines eigenen Vorteils tut. Dann belügt er nämlich seinen Gott, und nichts ist schlimmere Sünde.
„Christlich ist der Glaube nur mit Bekenntnis. Das Bekenntnis umfasst aber die Auferstehung.“
Von Anfang an gab es Kontroversen darum – wie auch im vorchristlichen griechischen Denken und im jüdischen – ob man so etwas wörtlich zu nehmen hat oder ob es nur die mythologische Verkleidung von „tieferen“ Wahrheiten ist oder so was, weil entweder der Mensch überhaupt oder doch die dumme Masse es nur so verstehen.
„Warum sollte man sich dieser Zumutung (durch das Sprechen des Glaubensbekenntnisses) eigentlich hingeben?“
Man sollte es in der Tat nicht sprechen, aber aus anderen Gründen Warum soll ich nicht alte Formeln aufsagen? Sie sind mir vielleicht ein Saubermann. So einer ist mir noch nie begegnet. Ich kann doch etwas in bildlicher Form oder so was sagen, wenn mir klar ist, was ich meine. Gemeinsame Bekenntnisse sollte man ablehnen (in der Schweiz war es schon mal abgeschafft, ist es vielleicht noch), weil es auch zum Aussprechen von wirklich Gemeintem verleitet, was man nicht meint oder einfach nicht versteht, also zur Lüge. Beispiel: der dreieinige Gott. Kaum einer versteht, was da gemeint ist, aber sie sagen es alle.
„So wie man dem eigenen Partner den Seitensprung so lange verschweigt, bis er nicht mehr stattfindet?“
Das soll also dem entsprechen, daß man einem Kind Sachen erst erzählt, wenn es sie fassen kann. Was für ein Quatsch, und Sie wissen das auch. Sie wollen mich auf den Arm nehmen. Ich verliere allmählich die Geduld.
Die Auferstehung scheint schon, vgl. mit Ihren Ausführungen ‘unter Schweizer reformierten Pfarrern’ weiter oben, ein zentrales christliches Wesensmerkmal zu sein, an das genau in dieser Ausprägung geglaubt werden darf.
Ähnliches gilt bspw. auch für das Wesen Gottes (“Dreifaltigkeit”) und die zehn Gebote, an das Sakrament der Ehe, wie auch für die Ablehnung bestimmter (Un-)Sittlichkeit.
Schwierig, in Zeiten der Kässmänner und Schneiders, die mal eben so ausscheiden, um sich “nicht ganz” glaubenskonform zu bemühen, zynisch formuliert, womöglich diesbezüglich noch gläubig bleiben zu können, christlich und reformatorisch oder protestantisch.
Ansonsten, aufklärerisch und freiheitlich betrachtet, sozusagen von der Seite her, muss all dies nicht schlecht sein,
MFG
Dr. W (den, mal ganz unter uns angemerkt, die Ewigkeit in einem Paradies auch eher höllisch vorkommen würde; der aber das Christentum grundsätzlich schätzt (und zu anderen Religionen außer dem Islam mangels Kenntnis nicht anmerken kann))
* dem
@Mona, @Ludwig Trepl: Zum Auferstehungsglauben. Die EKD – also nicht irgendwelche Kinder oder Evangelikalen – schreibt [1]:
Haben diese Begegnungen stattgefunden? Welches “Wirklichkeitsverständnis” muss man an den Tag legen, um diese Begegnungen für ein “reales Geschehen” zu halten?
Etwas “als Wunder verstehen” heißt: Ein Phänomen sei kein Traum, keine Täuschung und kein Irrtum, sondern schon das, als was es sich präsentiert. Und der Widerspruch zum gesammelten Weltwissen wird als Ausnahme, als singuläres Ereignis, als Sonderfall zu den Akten genommen. Deshalb finden wir auch in dem Register eines jeden Pathologie-Lehrbuchs unter A die Auferstehung.
[1] http://www.ekd.de/glauben/abc/auferstehung.html
Ludwig Trepl, @ Ano Nym
“Die EKD – also nicht irgendwelche Kinder oder Evangelikalen – schreibt“
Ja, in der EKD gibt’s so’ne und solche. Vor allem in Baden-Württemberg viele von den ersteren.
Was mich ärgert, ist, daß Sie sich (wie unter unseren bekennenden Atheisten üblich) immer die dümmsten Religiösen vornehmen und dann natürlich leicht widerlegen. Was die Klügeren sagen, verstehen Sie einfach nicht. Ich jedenfalls würde nie wagen, jemanden wie Karl Barth zu kritisieren. Auch wenn ich nicht viel verstehe von dem, was er schreibt: Soviel verstehe ich doch, daß er mir intellektuell himmelweit überlegen ist und ich gar keine Chance gegen ihn hätte.
Ich glaube, dass da auf Ihrer Seite ein MIssverständnis vorliegt. Die “dümmsten” Religösen lassen sich ja gleichmaßen von Atheisten wie von “aufgeklärten” Gläubigen widerlegen. Mein Punkt ist vielmehr: Warum setzen sich aufgeklärte Gläubige mit den “Dümmsten” ins selbe Kirchenschiff und beten dieselbe (!) Litanei herunter obwohl sie – wenn ich Ihnen folge – doch Verschiedenes damit meinen?
Warum sind die “aufgeklärten” Gläubigen während der rituellen Praxis von den “Dummen” ununterscheidbar? Und warum sind sie fernab davon bemüht zu betonen, dass man all das, was sie selbst gerade eben noch von sich gegeben haben, dann aber doch als etwas anderes verstehen soll, als was es bei und den “Dummen” bedeutet?
Mir erscheint das Paradox.
Ludwig Trepl, @ AnoNym.
“Warum sind die “aufgeklärten” Gläubigen während der rituellen Praxis von den “Dummen” ununterscheidbar?“
Warum soll man sich denn in der rituellen Praxis unterscheiden? Nun, ich würde mich sogar mit Moslems oder Juden oder Hindus in einen Raum setzen, bzw. habe das gemacht, und wenn es dort zum Ritual gehört, die Schuhe auszuziehen oder den Kopf zu bedecken, dann tue ich das auch.
Ich finde, Sie sollten Ihre Stoßrichtung ändern. Die Leute, an denen Sie sich hochziehen, sind in der Tat gefährlich. Natürlich, die meisten christlichen Fundamentalisten sind, wenigstens hierzulande, sehr friedlich, und bei kaum einem Menschen kann man sich so sicher sein, daß sie das auch bleiben, wie bei vielen von ihnen. Die Mennoniten erdulden seit Jahrhunderten Verfolgungen, weil sie keine Waffe anrühren.
Gefährlich aber ist prinzipiell die Art des Denkens: Man muß etwas glauben, was man gar nicht glaubt, weil man es nicht einsieht oder gar nicht versteht. Und man verlangt von allen anderen, daß sie das auch so machen. Und weil es dabei immer um das Höchste geht, ist letztlich alles zu rechtfertigen. – Man redet heute nur über die islamischen Fundamentalisten, aber Fundamentalist ist Fundamentalist. Der grausigste „Gottesstaat“ der Weltgeschichte war ein christlicher, und das ist erst 150 Jahre her: der Tai-ping-Staat in China. Kein Mensch im christlichen Abendland weiß etwas davon, man hat es extrem erfolgreich verdrängt. Dabei erreichte die Zahl der Todesopfer die Dimension eines der Weltkriege.
Also ich meine: statt immerzu nachzuweisen, daß man das doch unmöglich glauben kann als heutiger Mensch, was die sagen, und wie schlimm das Christentum insgesamt ist, weil es solche Leute unter sich hat, sollten Sie besser der Art des fundamentalistischen Denkens und seinen möglichen Konsequenzen nachgehen.
Sie umschiffen den Punkt des Glaubenskerns wenig gekonnt. Mich würde mehr interessieren, ob Sie bei Ihrer Zusammenkunft mit Moslems den Satz – Vorsicht Konversionsgefahr, nicht laut lesen! – “Ich bezeuge, dass es keinen G*** außer A*** gibt und M*** Sein Diener und Gesandter ist” [1] ausgesprochen haben. Schuhe ausziehen und Kippa aufsetzen gehören zwar zu rituellen Praxen, konstituieren aber nicht die Glaubenskern.
Hab ich doch gar nicht. Mich interessiert schon diese Glaubensdifferenz zwischen dem aufgeklärter Christentum und dem unaufgeklärten.
[1] (gegoogelt) http://www.way-to-allah.com/islam_zum_kennenlernen/wie_kann_ich_dem_Islam_beitreten.html
Probleme bereiten nicht der Fundus oder der Fundamentalist einer Ideenlehre, sondern die Ideenlehre selbst, sofern sie Probleme bereitet.
MFG
Dr. W (der hier eine Form des Relativismus zu erkennen hat)
@KRichard
Sie schreiben im Nachbarblog NdG betreffs Willensfreiheit:
»Wir müssen nicht die erste Reaktion unseres Gehirns automatisch/zwangsweise ausführen, sondern haben die Möglichkeit, mehrere Alternativen abzuwägen – bevor wir handeln.«
Darauf würde ein Gegner der Willensfreiheit (wie vielleicht Gerhard Roth) vermutlich antworten, wo denn da das Moment der Freiheit liegen soll, wenn ein Entscheidungsprozess länger dauert und/oder weiter in die Zukunft weist als bei einer Spontanhandlung.
Eine Spontanhandlung ist eine Reflexhandlung, ohne großes Überlegen. Aber sogar Tierexperimente zeigen bereits hier, dass es eine nicht festgelegte Variabilität des Verhaltens gibt – bei gleichen Voraussetzungen – die als Reaktion unterschiedliche Verhaltensweisen zulässt. (z.B. per Google [Sogar Fruchtfliegen haben einen freien Willen] [Die Freiheit der Fruchtfliege])
Ein Entscheidungsprozess, bei dem mehrere Alternativmöglichkeiten gegeneinander abgewogen werden können, erlaubt es zusätzlich, viel mehr Varianten auf ihre Brauchbarkeit zu analysieren. Bei jeder Variante kommt noch die oben angesprochene Variabilität bei Entscheidungsprozessen hinzu – sowie andere Einflussgrößen (aktuelle emotionale Stimmung, aktuelle Erlebnissituation, Dauer des Entscheidungsprozesses, usw.).
Je mehr Möglichkeiten für eine Entscheidung vorhanden sind, um so weniger kann man von einer Unfreiheit der Willensentscheidung sprechen. D.h. im Vergleich zu einer Spontanentscheidung bietet das Abwägen von mehreren möglichen Varianten eine größere Willensfreiheit.
@KRichard /Freiheit der Fruchtfliege
Wenn gegen Leute wie Gerhard Roth oder Wolf Singer gewettert wird, dann geht es selten um Willensfreiheit im Sinne von Selbstbestimmung, wie das z. B. von der Arbeitsgruppe um Martin Heisenberg (und mir) gesehen wird.
Bei Roth weiß ich es nicht, aber bei Singer bin ich mir ziemlich sicher, dass er lediglich dualistische Konzepte der Willensfreiheit ablehnt—wie ja auch die meisten Philosophen des Geistes. Dennoch tun sich viele schwer mit dem Gedanken, dass es eben auf der neuronalen Ebene keine Freiheit geben kann, sie aber dennoch auf irgendeine Weise im neuronalen System auftauchen muss, damit dem Subjekt Willensfreiheit zugeschrieben werden kann. Oder man sagt schlicht und einfach, dass der Freiheitsbegriff als abstraktes Konstrukt überhaupt nicht auf der physischen Ebene verhandelt werden kann.
Aber gut, wir wollen das hier auf Joe Dramigas Blog nicht weiter vertiefen, ich wollte es nur mal Ihnen gegenüber angesprochen haben. Jetzt weiß ich, wie Sie das mit dem Abwägen mehrerer Handlungsalternativen gemeint haben.
Wenn man A) einen Täter deswegen für unschuldig hält, weil er nicht für Handlungen verantwortlich gemacht werden kann – an denen das Gehirn schuld ist. Dann ist dies eine unzulässige Trennung Mensch/Gehirn als unabhängige Einheiten. Außerdem berücksichtigt diese (Roth´s) Sichtweise nicht – ich habe bei @Blume darauf hingewiesen – dass B) Gesetzgeber, Polizisten, Juristen und Gefängniswärtern dann ebenfalls Schuldunfähigkeit für ihre Handlungen zugestanden werden MUSS (wenn sie den Täter fangen, verurteilen und einsperren); da deren Gehirne genau so arbeiten.
Man muss Roth vorwerfen, dass er A) und B) nicht gleichwertig gewichtet – wenn A) unschuldig betrachtet wird, dann kann man nicht stillschweigend davon ausgehen, dass die Gehirne der Gruppe B) anders arbeiten würden. Dafür gibt es keinerlei Belege.
@KRichard /Schuldfrage
Mir ist, als würde Roth etwas unterstellt, was er so (hoffentlich) nicht gesagt hat. Ich glaube, man muss die Schuldfrage von der der Frage der Verantwortlichkeit (im Sinne des Verursachers) trennen, und ich denke, dass auch Roth das getan hat. „Schuldig“ sein zu können setzt m. E. voraus, dass man frei über sein Wollen oder seinen Willen bestimmen kann. So, als gäbe es eine höhere Instanz, die den Willen befehligt. Verantwortlich für sein Tun ist aber stets der Handelnde, denn der tut, was er will, und zwar mittels seines Gehirns, sei er nun geistig gesund oder krank. Und das trifft natürlich nicht nur auf Straftäter zu, sondern auch auf die Strafverfolger. Ich würde mich wundern, wenn Roth das anders sehen würde oder damals anders gesehen hätte.
Aber gut möglich, dass ich mich irre in dem, was Roth meinte.
Davon abgesehen finde ich es schon bemerkenswert, dass man sich immer noch an Roth abarbeitet, wenn es um die Frage des freien Willens geht. Seine Äußerungen scheinen sich besonders gut zu eignen, wenn man die Willensfreiheit verteidigen will. Es ist, als würde man sich das schwächste Opfer aussuchen, um seine eigene Position zu stärken.
Ludwig Trepl, @ Balanus (14. November 2014 12:17):
„Ist das so, Herr Trepl, dass bis vor rund 300 Jahren alle Menschen von der Existenz jenseitiger Wesenheiten überzeugt waren?“
Ich weiß nicht, ob es in Tibet früher Leute gab, die nicht von der Existenz jenseitiger Wesenheiten überzeugt waren. Aber in Europa, soweit es aufgeschrieben ist, gab es das nicht oder so gut wie nicht. Auch was man damals „Atheisten“ nannte, läßt sich dadurch nicht charakterisieren.
Ich verstehe schon, wie Sie das meinen. Vor 150 Jahren war wohl kein einziger Mensch in der Lage, eine Marathonstrecke zu laufen. Heute weiß man, daß das bei entsprechendem Training die allermeisten könnten. Natürlich haben sie dann eine biologische Veranlagung dazu, einen trivialeren Schluß kann es kaum geben: Zu absolut allem, was ein Mensch kann, muß er eine biologische Veranlagung haben, wenn man die Voraussetzungen akzeptiert, die in den Begriffen Genotyp und Phänotyp stecken; das ist nur ein analytisches Urteil.
Aber folgt daraus in unserem Fall, daß es unterschiedliche biologische Veranlagung zu Religiosität (in dem von Ihnen, von Michael Blume und dieser ganzen Szene definierten und, wie ich meine, seltsamen Sinn) gibt? Keineswegs. Jeder Mensch kann lernen, bis 5 zu zählen. Aber das eine Kind lernt es einige Monate später als das andere – biologisch bedingt. Danach ist dieser Unterschied aber völlig irrelevant. Niemand würde auf die Idee kommen, da ein biologisches Forschungsprogramm zu starten (wohlgemerkt: zur Fähigkeit, bis 5 zu zählen, ich rede nicht nicht von der Mathematik überhaupt).
Was nun das Überzeugtsein von der Existenz jenseitiger Wesenheiten angeht, so ist es doch völlig selbstverständlich, daß andere Faktoren eine ungeheuer viel größere Bedeutung dafür haben als eine biologische Veranlagung. Dazu gehört vor allem, was in der Gesellschaft gilt. Wenn alle, auch die allergrößten Denker, zu dem Schluß kommen, daß es einen Gott gibt, dann werden auch die, denen die Zeit zum Philosophieren fehlt, das glauben, so wie halt heute alle an den Urknall glauben und kein anderes Argument dafür haben als daß „die Physiker“ das sagen. Und wenn die gesamte von Stalin übriggelassene Intelligenzia sagt, es gibt keinen Gott, dann glauben das am Ende auch die Bauern.
Das ist, wie gesagt, völlig selbstverständlich. Eine angeborene Religiosität ist dabei allenfalls ein vernachlässigbar schwacher Faktor. – Es ist ja nichts dagegen zu sagen, wenn einer Biologie studiert, hab’ ich auch getan, aber man muß doch nicht gleich seinen ganzen Alltagsverstand an der Garderobe abgeben.
Balanus, @Ludwig Trepl
»Es ist ja nichts dagegen zu sagen, wenn einer Biologie studiert, hab’ ich auch getan, aber man muß doch nicht gleich seinen ganzen Alltagsverstand an der Garderobe abgeben.«
Der schlichte Alltagsverstand fragt sich, wieso der eine 50jährige von der Existenz einer Gottheit (oder Ähnlichem) überzeugt ist, während der andere, der im gleichen soziokulturellen Umfeld genauso lange und genauso intensiv darüber nachgedacht hat, vom glatten Gegenteil überzeugt ist, wobei beide dank ihrer überragenden geistigen Fähigkeiten mit Auszeichnungen überhäufte Zeitgenossen sind. Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Überzeugungen, die zudem extrem stabil sind und nur in Ausnahmefällen revidiert werden?
Diese beiden konträren Auffassungen sind natürlich die Grenzfälle im breiten Spektrum nicht-/religiöser Überzeugungen. Die überwiegende Mehrheit mag da relativ indifferent sein und ihr Fähnchen nach dem gerade wehenden Wind hängen.
»Was nun das Überzeugtsein von der Existenz jenseitiger Wesenheiten angeht, so ist es doch völlig selbstverständlich, daß andere Faktoren eine ungeheuer viel größere Bedeutung dafür haben als eine biologische Veranlagung. Dazu gehört vor allem, was in der Gesellschaft gilt.«
Die große Bedeutung der kindlichen oder gesellschaftlichen Prägung wird keineswegs negiert. Dennoch gibt es bemerkenswert viele, bei denen sie nicht ein Leben lang anhält. Gerade in westlichen Gesellschaften, wo es alle möglichen Glaubensüberzeugungen gibt, hat das Individuum eine sehr viel größere Chance, sich seinen Neigungen gemäß zu entfalten und erzieherische Einflüsse mit dem Erwachsenwerden abzustreifen. Wenn in Glaubensdingen kein gesellschaftlicher Druck besteht, weder in die eine noch in die andere Richtung, dann zeigt sich, wie die Verteilung der religiösen Glaubensfähigkeit in der Bevölkerung wirklich ist.
»…einen trivialeren Schluß kann es kaum geben: Zu absolut allem, was ein Mensch kann, muß er eine biologische Veranlagung haben,… «
Aber der Witz in unserem Falle ist doch, dass er, der Mensch als solcher, beides kann bzw. nicht kann, nämlich von der (Nicht-)Existenz jenseitiger Wesenheiten überzeugt sein. Das ist fast so, als würde einem Teil der Menschheit natürlicherweise das Sprachvermögen fehlen, oder die Fähigkeit zum aufrechten Gang (das ist jetzt natürlich übertrieben, aber in diese Richtung geht es meiner Meinung nach schon).
Außerdem stellt sich angesichts des Könnens bzw. Nichtkönnens die nicht triviale Frage nach der Wahlfreiheit in Bezug auf den religiösen Glauben.
Ludwig Trepl, @Balanus:
„Der schlichte Alltagsverstand fragt sich, wieso der eine 50jährige von der Existenz einer Gottheit (oder Ähnlichem) überzeugt ist, während der andere, der im gleichen soziokulturellen Umfeld genauso lange und genauso intensiv darüber nachgedacht hat, vom glatten Gegenteil überzeugt ist, wobei beide dank ihrer überragenden geistigen Fähigkeiten mit Auszeichnungen überhäufte Zeitgenossen sind.“
Der schlichte Alltagsverstand fragt sich, wieso der eine 50jährige von der einen wissenschaftlichen Theorie überzeugt ist, während der andere, der in der gleichen kleinen, engen Wissenschaftler-Community genauso lange und genauso intensiv darüber nachgedacht hat, von der gegenteiligen Theorie überzeugt ist, wobei beide dank ihrer überragenden geistigen Fähigkeiten mit Auszeichnungen überhäufte Zeitgenossen sind.
Tja, da hat der eine halt ein paar andere Bücher gelesen, oder auch nicht, sondern hat nur an einer zunächst unauffällig wirkenden Stelle einen anderen Schluß gezogen (vielleicht weil er gerade müde war), und von da an ging alles einen anderen Gang. Da gibt es 1000 Möglichkeiten. Das Überzeugtsein von den überempirischen Wesen ist da nichts Besonderes.
Es macht aber nicht Religiosität aus. Chrys hat da völlig recht. Es ist die Sicht bestimmter heutiger Atheistenkreise in unserer heutigen Kultur, die diese für die Welt halten. Das von Joe Dramiga verschickte PNAS-Paper (ich hab nur den abstract gelesen, das reicht auch) ist ein schönes Beispiel dafür, wie Amerikaner ihre enge Welt mit der Welt verwechseln. – Schleiermacher, der wohl einflußreichste Theologe (und Geisteswissenschaftler) des 19. Jahrhunderts, hat definiert: „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“ Damit trifft er auch nicht alles, weil eben Chrys recht hat: es handelt sich nur um eine Familienähnlichkeit im Sinne Wittgensteins. Aber besser ist es schon.
Und was einen Menschen mit „Religiosität“ in unserer Kultur seit jeher ausmacht, ist die Neigung, über die „letzten Fragen“ zu sinnieren, wie etwa, ob das Leben oder die Welt einen Sinn haben, ob der Mensch gut oder böse ist, ob ihm seine Sünden vergeben werden, usw. Und bei letzterem ist es ganz egal, ob es ein persönlicher Gott ist, der ihn frei spricht, oder ein unpersönlicher, wie er im vorchristlichen antiken Denken üblich war, oder „deus sive natura“ wie bei Spinoza, oder einfach die Vernunft. Götter oder nicht Götter, das sind Möglichkeiten, auf die der religiöse Mensch kommen kann oder auch nicht. Der „Prediger Salomon“ war doch sicher ein religiöser Mensch, aber was halten Sie von seiner Antwort – hätten Sie die nicht auch geben können?
„Wer weiß, ob der Geist des Menschen aufwärts fahre
und der Odem des Viehes unterwärts
unter die Erde fahre?
Darum sahe ich, daß nichts Bessers ist,
denn daß der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit.
Denn das ist sein Teil.
Denn wer will ihn dahin bringen, daß er sehe, was nach ihm geschehen wird?“
(Keine Angst, ich bin kein Bibelleser, den Text kenne ich, weil ihn Brahms vertont hat.)
Diese Religiosität mag in der Tat eine starke angeborene Komponente haben, aber nicht das, was von Ihnen, Blume usw. definiert wurde. Denn das Fürwahrhalten der überempirischen Akteure bekommen auch die ganz unreligiösen, nüchtern-geschäftmäßigen Leute seit jeher hin, es muß nur üblich sein in der Gesellschaft. Wer weiß, ob die ersten Atheisten nicht gerade unter den Religiösen zu finden waren, es scheint mir wahrscheinlicher, als daß Unreligiöse auf solche Ideen gekommen sind, denen war das sicher so unwichtig, daß sie darüber nicht nachdachten.
Balanus, @Ludwig Trepl
Wenn religiöse Glaubensüberzeugungen hinsichtlich ihrer kognitiven Basierung mit wissenschaftlichen Theorien vergleichbar wären, wären Studien wie z. B. die von Joe Dramiga verlinkte in der Tat völlig absurd. Aber so einfach ist es eben nicht.
Wenn der Mensch Tempel, Synagogen, Moscheen oder Kathedralen baut, dann geht es zwar auch um irdische Belange, aber eben nicht nur. Und dieser spezielle Mehrwert dieser Bauten, der—in der Vorstellung der Menschen—auf Bereiche verweist, die außerhalb des Irdischen liegen, ist jenes Alleinstellungsmerkmal, welches „das Religiöse“ von allen anderen neuropsychologischen Merkmalen oder Verfassungen unterscheidet und es darum für bestimmte Wissenschaftsbereiche interessant macht.
Ich sage ja nicht, dass die hier in Rede stehende pragmatische Religiositäts-Definition die beste ist, die es gibt, man kann Religiosität auch anders definieren, etwa so wie Schleiermacher, oder eben noch weiter gefasst, damit praktisch ein jeder unter diesen Begriff fällt—auch wenn damit der Begriff fast jede differierende Bedeutung verliert. Am Ende hat man dann die Religiosität als ein besonderes Unterscheidungsmerkmal (etwa zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden) einfach wegdefiniert. Die sogenannten überempirischen Entitäten scheinen mir insofern ein doch recht brauchbarer Aspekt der meisten Religionen zu sein, um Religiöses von bloß ideologischen oder philosophischen Ideen abzugrenzen.
»Und was einen Menschen mit „Religiosität“ in unserer Kultur seit jeher ausmacht, ist die Neigung, über die „letzten Fragen“ zu sinnieren, wie etwa, ob das Leben oder die Welt einen Sinn haben, ob der Mensch gut oder böse ist, ob ihm seine Sünden vergeben werden, usw.«
Sehen Sie, hier würde ich die „Religiosität“ lieber an den Antworten festmachen, nicht an den gestellten Fragen. Fragen kann jeder Mensch gleichermaßen, aber die Antworten, die er sich und anderen gibt, die sind meiner Ansicht nach das Entscheidende, wenn es um die Religiosität geht.
»Der „Prediger Salomon“ war doch sicher ein religiöser Mensch…«
Wer weiß das schon (wenn ich meine enger gefasste Definition von Religiosität zugrunde lege). Es liegen wohl keine validen Daten vor, die solch weitreichende Schlussfolgerungen erlauben würden. Die Antwort, die er da im Zitat gibt, lässt Zweifel an seiner Religiosität aufkommen. (Hat Epikur nicht Ähnliches verlautbart?)
Ludwig Trepl, @ Balanus:
„Wenn der Mensch Tempel, Synagogen, Moscheen oder Kathedralen baut, dann geht es zwar auch um irdische Belange, aber eben nicht nur.“
Um „irdische Belange“ geht es in der Tat überhaupt nicht, wenn es nur darum geht, dann hat es mit Religiosität nichts zu tun. Aber die Frage der Erlösung von den Sünden fällt auch dann nicht unter die irdischen Belange, wenn man keine Begnadigung durch einen „überempirischen Akteur“ als Lösung ansieht. In der französischen Revolution ordnete man an, daß die Vernunft zu verehren und anzubeten sei. Das Verehren und Anbeten macht, wenn schon, die Religiosität aus, nicht die Antwort „Gott“.
„oder eben noch weiter gefasst, damit praktisch ein jeder unter diesen Begriff fällt—auch wenn damit der Begriff fast jede differierende Bedeutung verliert. Am Ende hat man dann die Religiosität als ein besonderes Unterscheidungsmerkmal (etwa zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden) einfach wegdefiniert.“
Chrys hat geltend gemacht, daß es sich um eine Wittgenstein’sche Familienähnlichkeit handeln dürfte. Das scheinen Sie überlesen zu haben. Wenn man die Frage mit einer abstrakten Definition beantworten möchte, gar, wie in den westlicheren Ländern mit Monotheismus üblich, die Differenz zwischen „Glaubenden“ und „Nichtglaubenden“ zugrundelegt, so ist das zwar eine wichtige Differenz in bestimmten Kulturen, aber nicht die, die man auch da mit „Religiosität“ meint, schon gar wenn man meint, da könnte eine biologische Vererbung dahinterstecken, also eine Art psychischer Disposition. Dann kann man die Antwort nicht als Kriterium nehmen. Die für Sie so verschiedenen Antworten liegen oft derart dicht beieinander, daß Sie überhaupt nicht unterscheiden könnten, wo sie nun hingehört. Was war denn Kant? Über Gottes Existenz können wir nichts wissen, sagte er, aber er war religiös, und wie. Oder lesen Sie mal etwas über das Judentum oder die Mystik im Mittelalter. Da gab es jede Menge tief religiöser Menschen, die aber nicht an Gott glaubten in irgendeinem Sinn, den heutige Atheisten im Sinn haben. Und übrigens: „praktisch ein jeder“ fällt keineswegs unter diesen (meinen) Begriff von Religiosität. Im Gegenteil, die große Masse derer, die über Jahrtausende an der Existenz von Göttern oder Gottes keinen Zweifel hatten, waren vielleicht überhaupt nicht religiös. Für sie – das schrieb ich schon mal – war das vielleicht eine Meinung wie „in Ägypten gibt es Krokodile“ oder „in Äthiopien haben die Menschen zwei Köpfe“, und sie glaubten es, weil man es glaubte, aber sie scherten sich nicht weiter darum, außer daß sie auf eventuelle handfeste Folgen des Unglaubens wie die Hölle Rücksicht nahmen.
„Sehen Sie, hier würde ich die „Religiosität“ lieber an den Antworten festmachen, nicht an den gestellten Fragen. Fragen kann jeder Mensch gleichermaßen …“
Kann schon, aber wenn er nicht religiös ist in meinem Sinn, dann fragt er halt nicht, er interessiert sich einfach nicht dafür, auch wenn er alles für richtig hält, was der Pfarrer an Wundergeschichten und sonstigem mythologischem Zeug erzählt. Dem Arzt glaubt er ja auch, nur weil er als kundig gilt. Es ist eine ganz junge Entwicklung, daß man das, was Sie für nicht-religiös halten, vom Religiösen in Ihrem Sinne unterscheiden kann, und noch vor wenigen Jahrzehnten war es auch in unserer Kultur eine Sache einer kleinen Minderheit, da überhaupt unterscheiden zu können.
»Der „Prediger Salomon“ war doch sicher ein religiöser Mensch…« (Zitat von mir) „Wer weiß das schon (wenn ich meine enger gefasste Definition von Religiosität zugrunde lege). Es liegen wohl keine validen Daten vor, die solch weitreichende Schlussfolgerungen erlauben würden. Die Antwort, die er da im Zitat gibt, lässt Zweifel an seiner Religiosität aufkommen.“
Na, die „Daten“ lassen Sie mal lieber weg, das wirkt arg deplaziert, auf diesem Gebiet arbeitet man nicht mit Daten. – Wer weiß, ob es den Prediger Salomon überhaupt gegeben hat. Aber einer oder viele haben das Buch doch geschrieben, und der ganze Text läßt keinen Zweifel an seiner/deren Religiosität aufkommen. Sonst hätte ihn die herrschende Orthodoxie wohl nicht in die Bibel aufgenommen. Und auch die zitierte Stelle zeigt seine Religiosität: Die Frage, „ob der Geist des Menschen aufwärts fahre“, hat ihn umgetrieben.
Balanus, @Ludwig Trepl, @Chrys
. »Chrys hat geltend gemacht, daß es sich um eine Wittgenstein’sche Familienähnlichkeit handeln dürfte. Das scheinen Sie überlesen zu haben.«
Nicht überlesen, ignoriert habe ich das, weil mir der Bezug zur Religiosität unklar war (und noch immer ist).
Welche Vorstellungen, Einstellungen und Handlungen, die gemeinhin als Zeichen für Religiosität gedeutet werden, besitzen denn mit welchen Vorstellungen, Einstellungen und Handlungen, die nicht als Zeichen für Religiosität gedeutet werden, eine Familienähnlichkeit im Sinne Wittgensteins?
Oder geht es darum, dass es keine Vorstellungen, Einstellungen und Handlungen gibt, die allein der Religiosität zugeordnet werden können?
Oder bezieht sich die Wittgenstein’sche Familienähnlichkeit auf neurokognitive oder psychische Merkmale?
Bei der Religiositäts-Definition, die ich hier vertrete, scheint mir die Familienähnlichkeit besonders gering zu sein, weil die Antworten wenig Spielraum lassen. Der Nachteil dieser Definition liegt halt in der gewissen Engführung des Begriffs, subtilere oder elaboriertere Formen der Religiosität werden da womöglich nicht mit erfasst.
»Es ist eine ganz junge Entwicklung, daß man das, was Sie für nicht-religiös halten, vom Religiösen in Ihrem Sinne unterscheiden kann, und noch vor wenigen Jahrzehnten war es auch in unserer Kultur eine Sache einer kleinen Minderheit, da überhaupt unterscheiden zu können.«
In unserer heutigen westlichen Gesellschaft, die sowohl säkular als auch religiös geprägt ist, ist der Mensch beiden Einflüssen ausgesetzt und kann oder muss sich entscheiden, welche Lebensform er für sich am besten hält. Ob er sein Leben darauf ausrichtet, dass seine Seele dereinst nach oben fahren wird (dann würde er bei mir als religiös eingestuft), oder ob er dem Rat Salomons folgt und sich auf das Diesseits konzentriert, weil wir vom Jenseits nichts wissen können und auch nicht darauf vertrauen sollten (dann wäre er nicht religiös).
Wer sich nicht für die letzten Sinnfragen interessiert, der fällt wohl in die Kategorie „nicht religiös“, unabhängig davon, ob er dem Pfarrer oder Richard Dawkins folgt.
»Was war denn Kant? Über Gottes Existenz können wir nichts wissen, sagte er, aber er war religiös, und wie.«
Weil er auf Gottes Existenz vertraut hat? Oder weil er nach Gottes Existenz gefragt hat? Danach fragen tun auch Menschen, die sich selbst als a- oder gar antireligiös bezeichnen.
»Na, die „Daten“ lassen Sie mal lieber weg, das wirkt arg deplaziert, auf diesem Gebiet arbeitet man nicht mit Daten.«
Ich habe halt immer noch das Blog-Thema im Hinterkopf, wo es auch um die Frage geht, ob man Religiosität messen kann.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass ich deshalb von Michael Blumes Blog geflogen bin, weil ich gegen eine Erblichkeit der Religiosität argumentiert habe, sofern Religiosität als der Glaube an das Wirken überempirische Akteure definiert wird.
@Balanus
Um nicht die Kommentarübersicht noch weiter zu verlieren, setze ich im Anschluss an [Balanus, 15. November 2014 22:53] jetzt hier unten fort.
Mit Googles Hilfe kam mir die Erleuchtung, dass Du noch eine Stelle mit dem Zitat in Roads to Freedom gefunden hast. (In Conjectures and Refutations (1963) fehlt das vorangestellte “For in our own time.”) In jedem Falle stellt er die besagte frühere, naturalistische Revolution einer späteren, historizistischen gegenüber, die allerdings auch lange vor Deiner Zeit war.
Worauf es Popper da ankommt ist, dass diese Revolutionen die christliche Kontaminierung europäischer Denktradition nicht überwunden haben. Mit dem “For in our own time” knüpft Popper an den vorausgehenden Absatz an:
Die naturalistischen Missionare ticken eben auch nicht anders als die christlichen, sie merken es nur nicht. Eine naturalistische Metaphysik von einer “kausalen Abgeschlossenheit der Welt” ist so überempirisch wie ein christlicher Katechismus, dergleichen ist kein Ergebnis wissenschaftl. Wissens. Die gängige Vorstellung von Kausalprinzip (das nie wissenschaftl. formuliert wurde), steht ja schon in Konflikt mit der klass. Mechanik — denke nur an die eigenwillige Kugel von John Norton.
Mir ist problemlos vorstellbar, dass Maya-Priester ihren Wettergott Hurakan, der anscheinend nach wie vor im “Hurricane” steckt, als so wenig überempirisch wahrgenommen haben wie Du Dein Kausalprinzip. Hurricanes sind nun einmal verdammt empirisch, und selbst heute erhalten sie Namen wie Andrew, Isabel, Katrina, Sandy, als ob sie lebendige Wesen wären und sogar als Männchen oder Weibchen auftreten.
Popper und Darwinismus — ist das denn so falsch, was er dazu sagt? Das schreibt ja auch C.R. Hallpike (1996), vgl. JSTOR Link weiter oben.
Eine testbare Vorhersage lässt sich aus Darwins Darstellung doch ganz gewiss nicht gewinnen, daher scheint mir Poppers Einschätzung durchaus zutreffend und konsequent.
Ludwig Trepl, @ Chrys:
“Eine testbare Vorhersage lässt sich aus Darwins Darstellung doch ganz gewiss nicht gewinnen“.
Das kommt darauf an. Was die Populationsgenetiker heute machen, beruht auf „Darwins Darstellung“. Und die machen Experimente, in denen durchaus Vorhersagen getestet werden, etwa über gewisse Veränderungen, die man mit Bakterien oder mit Drosophila unter verschiedenen Umweltbedingungen macht. Eine andere Frage ist, ob damit die ganze Theorie Dawins getestet wird.
Popper sagt an anderer Stelle etwa, daß es sich bei der Darwinschen Theorie nicht um eine Theorie handle, sondern um einen singulären Satz. Tatsächlich ist es so: was man „Darwinismus“ nennt, enthält zwei Teile: (1) die deskriptive Abstammungslehre. Das ist in der Tat ein „singulärer Satz“. (2) Die Erklärung der Abstammung. Diese Erklärung ist, sagen wir mal vorsichtig mit Poppers Worten, „etwas Theoretisches“, sie enthält zumindest Systeme von Immer-wenn-dann-Sätzen.
Die Abstammungslehre ist keine Theorie in dem Sinne, wie die Theorie des Magnetismus der Physiker eine ist, sie ist ein singulärer Satz. Vom üblichen Sprachgebrauch ist es aber auch gedeckt, von Theorie zu sprechen. Der Detektiv hat eine Theorie. Die umfaßt allgemeine Gesetzesaussagen (immer, wenn ein Mensch mehr als x Gramm Zyankali nimmt, dann stirbt er innerhalb von …) und singuläre Sätze (die Ehefrau ist tatsächlich zur fraglichen Zeit in dem Zimmer gewesen). Also „Theorie“ wird da gebraucht für das zur Erklärung insgesamt Nötige (nach Popper), nicht nur für die Gesetzesbehauptungen, sondern auch für die singlulären Sätze, sofern sie hypothetisch sind. Wenn die Anwesenheit der Ehefrau fraglos feststeht, nennt man das nicht Theorie des Detektivs.
Dem, was Sie über die Maya-Priester schreiben, kann ich voll zustimmen. Beim Kausalprinzip ist es komplizierter. Sie haben nur recht, wenn man unter den prominenten historischen Positionen die Hume’sche zugrundelegt. Bei Kant dagegen ist Kausalität eine Kategorie des Denkens und hat damit einen ganz anderen Charakter als ein Glaube, der im Hume’schen Falle tatsächlich vom mythologischen oder religiösen Glauben an eine metaphysische Entität nicht prinzipiell unterschieden ist.
@Ludwig Trepl
Eine allgemeinere Heuristik als bei der Darwinschen Evolution hat man dort, wo heute gern von Selbstorganisation mit Bezug auf form- oder strukturbildende Prozesse die Rede ist, wobei irgendein Zustandsraum durch eine geeignete Dynamik rekursiv “geknetet” wird. Mit “Kneten” ist gemeint, dass dabei wie bei einem Teig qualitativ zwei antagonistische Momente auftreten, nämlich etwas, das ausdehnt, und etwas, das zusammenstaucht. Dies wird im Darwinschen Fall durch Variation und Selektion ausgedrückt, Darwinsche Evolution passt damit in ein allgemeineres Schema. Doch das alles ist soweit nur Heuristik, und man würde sicherlich kaum davon sprechen können, dass von einer Heuristik testbare Vorhersagen zu erwarten oder zu fordern wären. Solche Forderungen wäre hingegen für Modelle zu erheben, wozu dann im Darwinschen Fall auch konkrete Mechanismen für “Variation” und “Selektion” zu benennen wären. Für die “Variation” hat man durch die Genetik tatsächlich etwas an der Hand, die “Selektion” bleibt hingegen noch weitgehend unspezifisch. Die Genetik kam allerdings erst später hinzu, Darwin und Wallace konnten davon zunächst noch nichts wissen. Und spricht man nicht bereits von Neo-Darwinismus, wenn dabei die Genetik einbezogen wird?
Sie haben natürlich recht, wenn Sie von Kausalprinzip als einem Prinzip des Denkens reden. Dass wir eigentlich unentwegt von Ursachen und Wirkungen, von Gründen und Zwecken reden, ist eine unvermeidliche Tatsache. Das ist praktisch untrennbar mit unserer Wahrnehmung und unserer natürlichen Sprache verflochten. Doch das ist es nicht, was Bertrand Russell meinte und wogegen er argumentierte; der zielte auf die Frage von Kausalität bei Naturgesetzen. In der math. Sprache, derer sich insbesondere die Physik zur Darstellung von Gesetzmässigkeiten bedient, kommt das nicht wie bei natürlichen Sprachen als unterschwelliges Element herein, da ist ein signifikanter Unterschied zwischen natürlichen und formalen Sprachen. Naturalisten haben halt schwer daran zu schlucken, dass für das Denken Regeln gelten sollen, die ihnen nicht unmittelbar aus irgendwelchen Naturgesetzen ersichtlich sind, die sehen bekanntlich darin ja nur ein “Feuern von Neuronen”.
@Chrys
. 16. Nov. 2014 10:49:
»Um nicht die Kommentarübersicht noch weiter zu verlieren…«
Die Antwortfunktion ist wohl vor allem für den Blog-Autor gedacht, mit vielleicht einer Entgegnung auf die Entgegnung des Autors, und fertig.
»Die naturalistischen Missionare ticken eben auch nicht anders als die christlichen, sie merken es nur nicht.«
Da würde ich nicht alle über einen Leisten schlagen wollen. Wer ein naturalistisches, antimetaphysisches Programm vertritt, der weiß in der Regel, dass am Ende immer ein metaphysischer Rest bleibt, der sich nicht auflösen lässt.
»Eine naturalistische Metaphysik von einer “kausalen Abgeschlossenheit der Welt” ist so überempirisch wie ein christlicher Katechismus, dergleichen ist kein Ergebnis wissenschaftl. Wissens.«
Ergänzend zu dem, was Ludwig Trepl bereits hierzu anmerkte, und ohne Scheu vor Wiederholungen: Die Idee des Kausalprinzips stammt letztlich aus unserer evolutionären Entstehungsgeschichte (siehe Kants Denknotwendigkeit). Die Evolution kann nicht irren, alle Individuen, die heute existieren, hatten Ahnen, die sich hinreichend oft gemäß der „Existenz“ eines Kausalprinzips verhalten haben.
Schon mal daran gedacht, dass die eingebaute Integrationsleistung unseres Gehirns, seine Fähigkeit, kausale Zusammenhänge erkennen zu können, das kümmerliche Vermögen zur Formulierung physikalischer Gesetze bei weitem übersteigen könnte?
Im Übrigen, was soll daraus folgen, dass es keine wissenschaftliche Formulierung des augenscheinlichen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung gibt? Hat das irgendeine Bedeutung für unser tägliches Leben? Bislang bin ich ganz gut damit gefahren, dass ich das „Kausalprinzip“ nur selten ignoriert habe. Manchmal liest man in der Zeitung von Leuten, die offenbar glaubten, Kausalzusammenhänge existierten nur in der Phantasie spinnerter Naturalisten.
»Mir ist problemlos vorstellbar, dass Maya-Priester ihren Wettergott Hurakan, der anscheinend nach wie vor im “Hurricane” steckt, als so wenig überempirisch wahrgenommen haben wie Du Dein Kausalprinzip.«
Hurakan selbst ist aber nie in Erscheinung getreten, nur die von ihm geschickten Stürme. Oder wurde der Sturm als materiale Manifestation des ansonsten unsichtbaren Wettergottes wahrgenommen? Ich weiß es nicht.
Letztlich spielt das aber keine Rolle. Wenn ich z. B. davon überzeugt bin, dass mein Hund mein wiedergeborener Opa ist, und ich aus kulturellen Gründen es nicht anders wissen kann, dann macht eine Unterscheidung von empirisch und überempirisch wenig Sinn, denn ich sehe den Hund ja vor meinen Augen und weiß, es ist Opa.
Interessant würde es erst dann, wenn Teile des Mayavolkes zeigen könnten, dass die Sache mit Hurakan Humbug ist, weil sich alles Wettergeschehen aus den Gesetzmäßigkeiten der Natur erklären lässt, was ja nichts anderes hieße, als dass da kein böser Wille am Werke ist. Wenn andere Teile des Volkes sich davon aber nicht beirren ließen und an ihren Überzeugungen festhielten, dann könnte man die Frage stellen, worin sich die beiden Bevölkerungsteile kognitiv unterscheiden, damit es überhaupt zu diesen einander widersprechenden Auffassungen kommen kann—wo doch alle die absolut gleichen Phänomene vor Augen haben.
Und wohlgemerkt, es geht hier nicht bloß um unterschiedliche Theorien über einen bestimmten Sachverhalt, sondern es geht um fundamentale Überzeugungen, sogar um Leben und Tod, falls die nächste Opferung ansteht.
Meine These ist nun, dass es die unterschiedlichen neuronalen Verschaltungen sind, die (zunächst) verhindern, dass alle zu derselben Auffassung über ein und dasselbe Naturphänomen gelangen (können).
»Popper und Darwinismus — ist das denn so falsch, was er dazu sagt? Das schreibt ja auch C.R. Hallpike (1996), …«
Immerhin hat sich Popper in den folgenden Jahren korrigiert…
Zu den „testbare[n] Vorhersage[n]“, die sich aus dem „Darwinismus“ ergeben, hätte ich ganz ähnlich geantwortet wie Ludwig Trepl.
————
16. November 2014 18:52
»Doch das alles ist soweit nur Heuristik, und man würde sicherlich kaum davon sprechen können, dass von einer Heuristik testbare Vorhersagen zu erwarten oder zu fordern wären. Solche Forderungen wäre hingegen für Modelle zu erheben, wozu dann im Darwinschen Fall auch konkrete Mechanismen für “Variation” und “Selektion” zu benennen wären.«
Wozu müssten „konkrete Mechanismen“ für ‚Variation‘ und ‚Selektion‘ benannt werden? Genügt nicht die einfache Beobachtung, dass eine Kopie immer geringfügig vom Original abweicht? Wozu muss man wissen, wie genau es zu diesen Abweichungen von der Vorlage kommt, wenn man ein Modell mit Variation und Selektion entwickeln will?
@Balanus
»Wer ein naturalistisches, antimetaphysisches Programm vertritt, der weiß in der Regel, dass am Ende immer ein metaphysischer Rest bleibt, der sich nicht auflösen lässt.«
Das naturalistische Programm mag ja antitheistisch sein, aber antimetaphysisch ist es ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, der metaphysische Anspruch wird sogar ganz offen bekundet, so wie hier:
Mahner, M. (2012). The role of metaphysical naturalism in science. Science & Education, 21(10), 1437-1459.
DOI: 10.1007/s11191-011-9421-9
»Die Idee des Kausalprinzips stammt letztlich aus unserer evolutionären Entstehungsgeschichte (siehe Kants Denknotwendigkeit).«
Dass Kant hier mit unserer evolutionären Entstehungsgeschichte argumentiert hätte, glaube ich zwar nicht. Aber wenn man es schon aus diesem Blickwinkel betrachten will: Für ein CAS erscheint es als lebensweltlich vorteilhaft, wahrgenommene Ereignispaare als “kausal” oder “intentional” zusammenhängend einzuschätzen, da ihm dies gestattet, möglichst schnell und effektiv auf typische Situationen adaptiv zu reagieren. Schon mal daran gedacht, dass die eingebaute optimization for speed bei der pattern recognition massgeblich dafür sein könnte, dass wir diese Unterscheidung überhaupt vornehmen?
Die Analyse zeigt, dass Menschen seit Jahrhunderten immer wieder daran gescheitert sind, Kauslität zu einem für wissenschaftl. Belange brauchbaren Prinzip zu machen (vgl. Norton). Da diese wissenschaftl. Belange nun ganz andere sind als die lebensweltlichen, muss dieses Scheitern nicht länger verwundern, wenn man die Zuschreibung von Kausalität als ein Feature von Optimisierung für sehr spezielle Aufgaben begreift, die im wissenschaftl. Konetxt reichlich atypisch sind.
»Hurakan selbst ist aber nie in Erscheinung getreten, nur die von ihm geschickten Stürme.«
Auch Sokrates ist uns nie persönlich in Erscheinung getreten. Dennoch tun wir tun so, als ob er tatsächlich gelebt und gewirkt hätte, ohne dies strikt nachweisen zu können. Und die frommen Katholiken tun so, als ob die heilige Maria anno 1858 in Lourdes herumgeirrt wäre. Die Frage ist halt, welche historischen Berichte man als plausibel und glaubhaft erachtet. Und das ist doch eher eine Frage der Konditionierung als eine der genetischen Veranlagung.
Nebenschauplatz Popper und Darwinismus. Ich denke, dass Popper die Evolutionsheorie nicht nur als eine historische Theorie gesehen hat, die den unwiederholbaren Ablauf des Lebens auf diesem Planeten retrodiktiv nacherzählen will, ähnlich wie die Kosmologen eine Historie des Universums erzählen wollen. Dazu habe ich auch gerade noch etwas gesucht und gefunden.
Hull, D. L. (1999). The use and abuse of Sir Karl Popper. Biol. Philos., 14(4), 481-504. [PDF]
So ungefähr habe ich mir das auch immer vorgestellt. Und unter diesem Aspekt hatte er eigentlich nichts einzuschränken an seinem Statement, mit dem er offenbar etwas ausgelöst hatte, das nach meinem Eindruck mit “Geschrei der Böotier” treffend etikettiert wäre.
Dessen ungeachtet, an seiner von mir zitierten Einschätzung zum Naturalismus hatte er wohl nichts nachzubessern, oder?
Balanus, @Chrys
»Das naturalistische Programm mag ja antitheistisch sein, aber antimetaphysisch ist es ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil,… «
Zum Kernstück eines naturalistischen Programms gehört notwendigerweise, dass der Anteil an metaphysischen Behauptungen aufs allernotwendigste beschränkt wird („…so wenig Metaphysik wie möglich“, hat Gerhard Vollmer sinngemäß geschrieben).
»Dass Kant hier mit unserer evolutionären Entstehungsgeschichte argumentiert hätte, glaube ich zwar nicht.«
Das behauptet ja auch keiner. Aber woher kommen denn „Denknotwendigkeiten“? Eine Möglichkeit scheint mir eben die evolutionäre Herkunft zu sein. Dazu zählt meines Erachtens das fundamentale Wissen: Wenn ich A tue, folgt B (also das Kausalitätsprinzip). Das lässt sich wohl auch mit einer im System eingebauten ‚optimization for speed‘ bei der ‚pattern recognition‘ vereinbaren.
»Die Analyse zeigt, dass Menschen seit Jahrhunderten immer wieder daran gescheitert sind, Kauslität zu einem für wissenschaftl. Belange brauchbaren Prinzip zu machen (vgl. Norton).«
Weil das Erkennen von kausalen Zusammenhängen eher mit der Wahrnehmung von Farben und Tönen vergleichbar ist, als mit einem physikalisch beschreibbaren Phänomen. So, wie Farben physikalisch auf elektromagnetischen Wellen beruhen, so beruhen wahrgenommene Ursache-Wirkungs-Beziehungen physikalisch auf regelhaft oder gesetzmäßig aufeinanderfolgenden Ereignissen.
Nicht umsonst kann man in der klassischen Physik durchaus so etwas wie ein „Kausalgesetz“ formulieren, etwa so:
(Höfling, 1978)
Weil es dieses „Gesetz“ wahr ist, funktionieren z. B. Autos und Computer.
»Auch Sokrates ist uns nie persönlich in Erscheinung getreten. Dennoch tun wir tun so, als ob er tatsächlich gelebt und gewirkt hätte, ohne dies strikt nachweisen zu können.«
Auch ‚Chrys‘ ist mir nie persönlich in Erscheinung getreten. Soll ich deshalb glauben, ich unterhalte mich hier mit einem Geist (im Sinne von Gespenst)? Wenn ich das nun täte, also felsenfest davon überzeugt wäre, dann wiese diese Überzeugung (als Gedanke) phänomenal eine große Ähnlichkeit auf mit der Überzeugung, ‚Chrys‘ sei ein lebender Mensch. Beide Gedanken besitzen, wie wir wissen eine „Geltungsdimension“, sie sind entweder wahr oder falsch.
Meine Behauptung oder These ist nun, dass das Ergebnis der internen Prüfung und Bewertung eines Gedankens zu einem Gutteil von der aktuellen Vernetzung der hierbei beteiligten Neuronenverbände abhängt.
Das heißt, es ist eben nicht nur »eine Frage der Konditionierung«, sondern auch »der genetischen Veranlagung«, und zwar insofern die Hirnentwicklung von den Genen gesteuert wird (das bedeutet natürlich nicht, das jede Synapsenbildung im Genom codiert wäre).
Zu Popper: Wenn Hull (1999) recht hat mit dem, was Popper wollte, dann wirft das aber auch kein besonders gutes Licht auf dessen Evolutionsverständnis. Die Prinzipien der (biologischen) Evolution auf kulturelle Entwicklungen übertragen zu wollen, ist ein schwerwiegender Fauxpas.
»Und unter diesem Aspekt hatte er eigentlich nichts einzuschränken an seinem Statement, mit dem er offenbar etwas ausgelöst hatte, das nach meinem Eindruck mit “Geschrei der Böotier” treffend etikettiert wäre.«
Wow, „Geschrei der Böotier“! Ich musste nachkucken, was das bedeutet. Die durch Popper angeregte philosophische Diskussion „Geschrei der Böotier“ zu nennen, das hat was. Respekt!
(Oder denkst Du da an die Kreationisten, die Poppers Statement natürlich dankbar aufgenommen haben)
»Dessen ungeachtet, an seiner von mir zitierten Einschätzung zum Naturalismus hatte er wohl nichts nachzubessern, oder?«
Ist es denn kein Fortschritt im Denken, wenn „Gott“ als Erklärung bestimmter Naturphänomene durch die Prozesse der Selbstorganisation der „Natur“ ersetzt wird?
@Balanus
»(„…so wenig Metaphysik wie möglich“, hat Gerhard Vollmer sinngemäß geschrieben).«
Für jeden Anhänger eines -ismus ist doch immer gerade diejenige Metaphysik in genau dem Umfang nötig, die sein -ismus erfordert. Oder wäre Dir auch nur eine weltanschauliche Gesinnung bekannt, die programmmatisch ein Streben nach überflüssiger Metaphysik vertritt?
»Wenn ich A tue, folgt B (also das Kausalitätsprinzip).«
Soweit wir wissen, kann ein hinreichend komplexes CAS durch Konditionierung lernen, ein Erregungsmuster vom Typ A mit einem diesem typischerweise nachfolgenden Erregungsmuster vom Typ B zu assoziieren. Pavlovs Hund hat auf diese Weise gelernt, Muster von “Glöckchen” und “Futter” zu assoziieren. Wenn Du erwartest, dass ein B eintritt, wenn ein A vorliegt, dann deshalb, weil das so bei Dir konditioniert ist, weil Du das so gelernt hast, auch wenn Du Dir dessen nicht bewusst bist. Genetisch veranlagt ist sicherlich die neuronale Architektur, die Dein Hirn zur adaptiven Konditierbarkeit befähigt. Aber was dann da konkret konditioniert wird, ist dadurch bestimmt, was Dir im Leben so begegnet und hinreichend typisch auftritt, um dergestalt gelernt zu werden. Mehr “Kausalprinzip” wirst Du bei Deinen Neuronen schwerlich finden.
»Nicht umsonst kann man in der klassischen Physik durchaus so etwas wie ein „Kausalgesetz“ formulieren, etwa so: …«
Was dann als Zitat kommt, ist falsch. Das weisst Du inzwischen doch auch. Nortons genial einfaches Beispiel mit der Kugel macht bereits jede Hoffnung auf ein Kausalprinzip in der klass. Mechanik zunichte. Und dass sich Lösungen von Anfangswertaufgaben “grundsätzlich berechenen” lassen, ist grundsätzlich falsch für jedes klass. System mit positiver Kolmogorov-Sinai Entropie.
»Soll ich deshalb glauben, ich unterhalte mich hier mit einem Geist (im Sinne von Gespenst)?«
Nein, sollst Du nicht. Umgekehrt geht es mir ja ganz entsprechend, aber hätte ich einen mit Catweazle vergleichbaren Erfahrungshintergrund, dann würde ich womöglich glauben, dass ich hier mit einem electrickery Daemon Konversation mache. Und zwar unabhängig von meinem Genotyp.
»Zu Popper: Wenn Hull (1999) recht hat mit dem, was Popper wollte, dann wirft das aber auch kein besonders gutes Licht auf dessen Evolutionsverständnis.«
Wie schon gesagt, interessant ist am Darwinismus, dass er heuristisch die rekursive Herausbildung einer Vielfalt von Erscheinungsformen durch nur zwei antagonistische Aktionen nahelegt. Das reicht weit über die Biologie hinaus. Doch ich fürchte fast, Dir würde sogar das Evolutionsverständnis von Stuart Kauffman in keinem guten Licht erscheinen. Einen solchen Eindruck habe ich bei Kauffman indessen überhaupt nicht.
»Ist es denn kein Fortschritt im Denken, wenn „Gott“ als Erklärung bestimmter Naturphänomene durch die Prozesse der Selbstorganisation der „Natur“ ersetzt wird?«
Von einem Fortschritt wäre zu reden, wenn berücksichtigt würde, dass die Kategorie des eigentlichen Glaubens und die des Wissens gar nicht in Konflikt stehen. Dazu hatte ich wohl andernorts schon einmal aus Eislers Kant-Lexikon zitiert (“Zwischen Wissen und Glauben kann kein Widerspruch oder Konflikt bestehen, da das Gebiet des Wissens die Welt des Erfahrbaren, der Erscheinungen ist, während der Glaube sich auf etwas richtet, was jenseits aller Erfahrung und der Formen derselben liegt, dessen Annahme aber ein “Bedürfnis” der Vernunft ist.“) Vielleicht kann ja Herr Trepl dazu noch etwas anmerken, das mehr Eindruck hinterlässt.
Ist es schon kausal gedacht, wenn ich gewohnheitsmäßig B erwarte, falls A geschieht? Oder erst, wenn ich die Fragerichtung umkehren kann? Also:
Steinzeitpapa tritt morgens vor die Höhle – o Schreck, es ist kein Wasser im Bach. Dann fragt er sich – wie kommt das? Sitzt eine Kröte in der Quelle? Stiehlt der Nachbarstamm das Wasser? Haben wir dem Flußgott nicht genug geopfert?
Dann wendet er m.E. das Kausalitätsprinzip an.
Wenn es regnet, erwarte ich, dass es nass wird. Aber nicht jede Nässe hat ihre Ursache im Regen.
Warum sollte überhaupt jemand nach der Ursache von irgendetwas fragen, wenn es, wie ‚Chrys‘ behauptet, in der Natur kein Kausalprinzip gibt?
(Ich weiß, genau genommen behauptet ‚Chrys‘ nur, dass die Physik kein Kausalprinzip kennt–oder so ähnlich.)
Balanus, @Chrys
»Oder wäre Dir auch nur eine weltanschauliche Gesinnung bekannt, die programmmatisch ein Streben nach überflüssiger Metaphysik vertritt?«
Ich habe keine philosophische Ausbildung genossen. Gelesen habe ich mal, dass Kant hin und wieder als der „Zertrümmerer der Metaphysik“ bezeichnet wird. Aber bevor ich da was Falsches sage, lasse ich lieber nochmal Gerhard Vollmer zu Wort kommen (fowid, Textarchiv TA-2003-13):
»Wenn Du erwartest, dass ein B eintritt, wenn ein A vorliegt, dann deshalb, weil das so bei Dir konditioniert ist, weil Du das so gelernt hast, auch wenn Du Dir dessen nicht bewusst bist.«
Die Konditionierung ist ein klassischer Anwendungsfall des Ursache-Wirkungs-Prinzips.
»Nortons genial einfaches Beispiel mit der Kugel macht bereits jede Hoffnung auf ein Kausalprinzip in der klass. Mechanik zunichte.«
Nortons mathematische Trickserei wirkt wenig überzeugend auf jemanden, der nur physikalische Kräfte gelten lässt und deren mathematische Beschreibungen als lediglich defizitäre Näherungen eines Naturgeschehens ansieht. Was hättest Du denn den klassischen Physikern erzählt, wieso die Kugel sich „von selbst“, also ohne jegliche äußere Einwirkung, aus der Ruhelage fortbewegt? (Kolmogorov und Sinai traten wohl später auf den Plan). Und wie kam die Kugel überhaupt in ihre prekäre Lage?
»…aber hätte ich einen mit Catweazle vergleichbaren Erfahrungshintergrund, dann würde ich womöglich glauben, dass ich hier mit einem electrickery Daemon Konversation mache. Und zwar unabhängig von meinem Genotyp.«
Darum geht es mir hier nicht. Ich rede von Menschen innerhalb einer (modernen) Population oder Gesellschaft, die alle den gleichen Erfahrungshintergrund haben, soweit das eben für Individuen möglich ist. Es ist wohl nicht völlig abwegig, anzunehmen, dass es in solch einer hinreichend großen Gesellschaft Menschen gibt, wir z. B. als „Leichtgläubige“ oder „Skeptiker“ bezeichnen können.
So, wie Du bislang argumentiert hast, müsstest Du nun sagen, falls es „Leichtgläubige“ oder „Skeptiker“ gibt, dann liegt das alleine an der unterschiedlichen „Konditionierung“, die sie im Laufe ihres Lebens erfahren haben (auch wenn Du dafür dann das Kausalprinzip bemühen müsstest).
Ich hingegen meine, dass wir es hier mit veranlagten Persönlichkeitsmerkmalen zu tun haben, die sich im Laufe der Individualentwicklung herausgebildet haben, mal mehr, mal weniger. Und solche Persönlichkeitsmerkmale sucht man sich nicht aus, die stellt man an sich fest, jeder weiß das („Ich bin nun mal skeptisch/leichtgläubig veranlagt…“).
»Wie schon gesagt, interessant ist am Darwinismus, dass er heuristisch die rekursive Herausbildung einer Vielfalt von Erscheinungsformen durch nur zwei antagonistische Aktionen nahelegt.«
Dieses Prinzip kannte man aber schon lange vor Darwin, jeder Tierzüchter hat es angewandt und wendet es bis heute an. Nur, in der freien Natur gibt es niemanden, der die lebenstüchtigen Varianten „selektiert“, zumindest nicht so, dass man sinnvoll von einer „Aktion“ sprechen könnte.
Ich frage mich, warum das aus der Tierzucht altbekannte Prinzip von Variation und Selektion erst mit Darwin so populär geworden ist, dass man es auf alles Mögliche anzuwenden versucht, sogar auf menschliche Kulturen.
»Doch ich fürchte fast, Dir würde sogar das Evolutionsverständnis von Stuart Kauffman in keinem guten Licht erscheinen.«
Will der denn auch Evolutionsprinzipien auf kulturelle Entwicklungen anwenden?
Rosi Redfield meinte vor einigen Jahren :
Mit anderen Worten: Zu Stuart Kauffman habe ich mangels Kenntnis [noch] keine eigene Meinung.
Aber wenn Du doch so ein „Fan“ von Kauffman und den Prinzipien der Selbstorganisation bist, warum sperrst Du Dich dann so gegen die Erkenntnis, dass die Selbstorganisation des Gehirns zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich Struktur und kognitiven Möglichkeiten führen kann?
»Von einem Fortschritt wäre zu reden, wenn berücksichtigt würde, dass die Kategorie des eigentlichen Glaubens und die des Wissens gar nicht in Konflikt stehen.«
Ob ein Konflikt besteht, hängt wohl maßgeblich von den Glaubensinhalten und –aussagen ab.
»“…während der Glaube sich auf etwas richtet, was jenseits aller Erfahrung und der Formen derselben [Welt des Erfahrbaren, der Erscheinungen] liegt, dessen Annahme aber ein “Bedürfnis” der Vernunft ist.”«
Ach, sieh einer an… Der Glaube richtet sich auf Überempirisches und ist ein „Bedürfnis“! Dann sind meine Vorstellungen ja keineswegs neu und sonderlich originell…;-)
Es mehren sich also die Hinweise darauf, dass diejenige, die ein Bedürfnis nach Überempirischem empfindet, anders gestrickt sein muss als derjenige, dem ein solches Bedürfnis wesensfremd ist.
Mehr Eindruck könnte wohl auch eine diesbezügliche Anmerkung von Herrn Trepl nicht hinterlassen, zumindest nicht bei mir!
“Kausalprinzip” / @Balanus
Mario Bunge drückt das beispielsweise [hier] folgendermassen aus:
Immerhin vermeidet er es geschickt, Verursachung im wissenschaftl. Kontext definieren zu wollen, das gehört für ihn zum metaphysischen (ontologischen) Vokabular. Und von einer “kausalen Abgeschlossenheit” lässt er offensichtlich die Finger, aus gutem Grund.
Bunge hat recht viel über Kausalität geschrieben, aber mit dem naturalistischen Brett, das er sich vor den Kopf genagelt hat, ist er ausserstande, das Nächstliegende auch nur in Betracht zu ziehen, nämlich Kausalität als ein Instrument des praktischen Denkens zu sehen. Wer Kausalität draussen in der Natur finden will, sucht an der falschen Stelle.
»Es ist wohl nicht völlig abwegig, anzunehmen, dass es in solch einer hinreichend großen Gesellschaft Menschen gibt, wir z. B. als „Leichtgläubige“ oder „Skeptiker“ bezeichnen können.«
So etwa gegen Ende meiner Schulzeit war auch ich hochgradig gefährdet, wissenschaftsgläubig zu werden. Rückblickend würde ich mich sehen als einen Leichtgläubigen in bezug auf alles, was als Wissenschaft deklariert daherkam, obgleich ich mich für einen Skeptiker hielt. Als selbsternannter Skeptiker ist man typischerweise nur skeptisch in einer bestimmten Richtung. In einer hinreichend grossen Gesellschaft findet man sich immer in einer Position wieder, zu der es Gegenpositionen gibt, und während man Gegenpositionen skeptisch beäugt, nimmt man die eigene gerne allzu unkritisch hin. Im Verlaufe meiner akademischen Menschwerdung habe ich gelernt, auch der Wissenschaft nicht mehr alles ganz naiv abzukaufen. Und zu einem solchen Lernprozess bedarf es keiner speziellen Begabung, keiner genetischen Veranlagung.
»Dieses Prinzip kannte man aber schon lange vor Darwin, jeder Tierzüchter hat es angewandt und wendet es bis heute an.«
Wenn Stiglers Gesetz der Eponymie zutrifft, dann hat muss ohnehin jemand vor Darwin auf den Darwinismus gekommen sein. Aber im Ernst, Selektion bei der Tierzucht ist nicht die natürliche Selektion des Darwinismus, sondern da nimmt jemand eine gezielte Selektion vor. Sofern ein als teleologisch eingestufter Mechanismus eingreift, ist das ein Spiel nach anderen Regeln, das interessiert so nicht in Hinblick auf Selbstorganisation.
»Aber wenn Du doch so ein „Fan“ von Kauffman und den Prinzipien der Selbstorganisation bist, warum sperrst Du Dich dann so gegen die Erkenntnis, dass die Selbstorganisation des Gehirns zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich Struktur und kognitiven Möglichkeiten führen kann?«
Ein isoliertes Gehirn organisiert seine kognitiven Fähigkeiten ja nicht selbst. Was käme wohl dabei heraus, wenn eine menschliche Morphogenese komplett ohne sensorischen Kontakt zu einer Umgebung vonstatten ginge? Bestimmt nichts, was wir einen Menschen zu nennen geneigt wären, auch wenn es biologisch ganz gewiss ein H. sapiens wäre. Selbstorganisation “offener” Systeme muss deren rekursive Interaktion mit ihrer Umgebung einbeziehen.
»Will der [Kauffman] denn auch Evolutionsprinzipien auf kulturelle Entwicklungen anwenden?«
Kauffman hat gar keine Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass Darwinsche Evolution auf ganz unterschiedlichen physischen Plattformen ablaufen kann. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Variation und insbesondere Selektion im Zusammenhang mit Darwinisscher Evolution eben nur heuristische Begriffe sind, die theoretisch recht unterschiedlich eine Konkretisierung erhalten können.
»Ob ein Konflikt besteht, hängt wohl maßgeblich von den Glaubensinhalten und –aussagen ab.«
Was Dir dabei als ein Konflikt erscheint, könnte auch ein Katgorienfehler sein.
Balanus, @Chrys
»Wer Kausalität draussen in der Natur finden will, sucht an der falschen Stelle.«
Ich denke, hier kommt es darauf an, was man unter „Kausalität“ verstehen will. Wenn Bunge schreibt: „A possible formulation of it is this: ‘Every event is caused by some other event’”, dann erscheint das schon ein wenig schief, denn „verursacht” (so muss man “caused” wohl übersetzen) klingt stark nach einem „Verursacher“. Aber das ist nicht das, was gemeint ist. Das Nachfolgeereignis wird nicht vom vorhergehenden Ereignis „verursacht“ oder „hervorgerufen“, sondern es folgt einfach zwangsläufig (naturgesetzlich, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit) nach, wobei das, was als „Ereignis“ betrachtet wird, keineswegs festgelegt ist. Dass auf der Quantenebene Spontanereignisse und sprunghafte Änderungen die Regel sind, ändert überhaupt nichts daran, dass wir grundsätzlich zu (fast?) jedem gedachten makroskopischen Ereignis ein vorheriges Ereignis finden können, ohne welches das nachfolgende Ereignis so nicht aufgetreten wäre. Die gedachte Kausalkette endet dann wohl bei einer zufälligen Quantenfluktuation ober beim Urknall.
In meinem Weltbild gehören Quantenereignisse zu einem physikalisch geschlossenen Universum selbstredend dazu (oder geht das etwa gar nicht, schließt das eine das andere aus?).
Unter „wissenschaftsgläubig“ kann ich mir nichts rechtes vorstellen. Wer wissenschaftliche Ergebnisse unkritisch für wahr hält, verhält sich nicht wie ein Wissenschaftler, sondern wie ein Gläubiger. In einer guten wissenschaftlichen Ausbildung wird einem das blinde Vertrauen aber aberzogen. Eine religiöse Erziehung hat da wohl andere Ziele.
»Im Verlaufe meiner akademischen Menschwerdung habe ich gelernt, auch der Wissenschaft nicht mehr alles ganz naiv abzukaufen.«
Ah, dann hat die wissenschaftliche Ausbildung also gefruchtet, wie schön.
»Und zu einem solchen Lernprozess bedarf es keiner speziellen Begabung, keiner genetischen Veranlagung.«
Nun, dass überhaupt eine wissenschaftliche Laufbahn gewählt wurde, zeigt doch schon, dass sich bei Dir andere Interessen und Neigungen entwickelt haben, als bei dem Klassenkameraden, der Pfarrer geworden ist.
»Wenn Stiglers Gesetz der Eponymie zutrifft, dann hat muss ohnehin jemand vor Darwin auf den Darwinismus gekommen sein.«
Der Begriff „Darwinismus“ wurde wohl von Darwins Zeitgenossen Alfred R. Wallace geprägt (1889, da war Darwin schon tot). Aber schon damals aus einem gewissen Missverständnis der Theorie Darwins heraus.
»Sofern ein als teleologisch eingestufter Mechanismus eingreift, ist das ein Spiel nach anderen Regeln, das interessiert so nicht in Hinblick auf Selbstorganisation.«
Das ist wahr, mit Selbstorganisation hat das nichts zu tun.
Ich komme noch mal auf diese etwas ältere Aussage zurück:
»Wie schon gesagt, interessant ist am Darwinismus, dass er heuristisch die rekursive Herausbildung einer Vielfalt von Erscheinungsformen durch nur zwei antagonistische Aktionen nahelegt. Das reicht weit über die Biologie hinaus.«
Dass dieser „Darwinismus“ nur zwei wesentliche Mechanismen kennt, liegt vermutlich an Alfred R. Wallace, denn der hat irgendwie die Erblichkeit der variierenden Merkmale übersehen. Und seither wird diese Erblichkeit häufig unterschlagen, wenn von einem über die Biologie hinausreichenden darwinistischen Prinzip gesprochen wird.
Ohne die Erblichkeit der variablen Merkmale gäbe es keine Evolution im Reiche der Organismen, Variation und Selektion sind zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Daraus folgt meiner Meinung nach, dass eine Evolution im Sinne Darwins nur dann auf beliebigen „physischen Plattformen“ ablaufen kann, wenn diese im Wesentlichen die gleichen Eigenschaften hinsichtlich Reproduktionserfolg und Erblichkeit besitzen wie lebende Systeme.
» Was käme wohl dabei heraus, wenn eine menschliche Morphogenese komplett ohne sensorischen Kontakt zu einer Umgebung vonstatten ginge?«
Der sensorische Apparat ist natürlich Teil der Selbstorganisation des Gehirns. Es bleibt also dabei, diese Selbstorganisation führt zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich Struktur und kognitiven Möglichkeiten. Das kann nicht ignoriert werden.
» “Ob ein Konflikt besteht, hängt wohl maßgeblich von den Glaubensinhalten und –aussagen ab.“
Was Dir dabei als ein Konflikt erscheint, könnte auch ein Katgorienfehler sein.«
Ursache der Konflikte sind sicherlich meist Kategorienfehler. Wer z. B. die Bibel wörtlich nimmt, begeht einen Kategorienfehler und gerät zwangsläufig in Konflikt mit der Wissenschaft, keine Frage.
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Übrigens, vielleicht interessiert es Dich, auf dem ‚Sandwalk‘-Blog haben sich gerade einige Leute über Nortons Gedankenexperiment ausgetauscht (auf ähnlich hohem Niveau wie wir hier). Es ging zunächst ein wenig um Kausalität, aber dann hat ein gewisser ‚Piotr Gąsiorowski‘ folgendes gepostet:
“Even a purely Newtonian “classical” model is inherently indeterministic (as opposed to just chaotic) and must allow for unpredictable events not triggered by anything. Examples upon request.”
Und das Beispiel war eben Nortons Kugel auf der Kuppelspitze.
Dank Dir wusste ich sofort, um was es da geht,… schön, nich‘?
(Joe hat einen neuen Beitrag geschrieben, vielleicht sollten wir hier zum Ende kommen…)
@Balanus
Einverstanden, wir sollten hier zum Ende kommen. Wobei ich noch eine Schlussbemerkung loswerden möchte.
»Aber das ist nicht das, was gemeint ist. Das Nachfolgeereignis wird nicht vom vorhergehenden Ereignis „verursacht“ oder „hervorgerufen“, sondern es folgt einfach zwangsläufig (naturgesetzlich, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit) nach, wobei das, was als „Ereignis“ betrachtet wird, keineswegs festgelegt ist.«
Deine hier zum Ausdruck gebrachte Auffassung von Kausalität und Verursachung (causation) entspricht nach meinem Eindruck eher dem, was Bunge mit Gesetzmässigkeit (lawfulness) bezeichnet. Und er geht auch beiläufig darauf ein, dass diese häufig nicht sorgsam unterschieden werden. (“Unfortunately most psychologists have failed to analyze the notion of causation and thus tend to lump the question of the ‘perception’ of causation with the problems of conceiving of the world as lawful, of explanation, and of inference.“) Das birgt also gewisse Verständigungsprobleme in sich, und Bunge ist garantiert nicht einzige, der mit Kausalität einen Zusammenhang der “Verursachung”, “Hervorrufung” oder “Bewirkung” von Ereignissen meint.
Möglicherweise erscheint Dir dieses kleine Fundstück noch interessant [Kausalität – Die Wahrnehmung von Ursache und Wirkung].
Nortons Überraschungskugel ist schon sehr nützlich, offensichtlich auch bei Sandwalk. Dabei sei nochmals betont, dass sie sich mit allem, was sie tut, innerhalb der klass. Mechanik bewegt, also total gesetzmässig. Nur ist ihr spontanes Abrollen halt nicht irgendwie verursacht.
Damit will ich es hier bewenden lassen. Vielleicht ist ja Ludwig Trepl motiviert, das eine oder andere nochmals thematisch aufzugreifen.
@Chrys
Zur Schlussbemerkung:
Ja, das stimmt, ich habe nicht explizit unterschieden zwischen (philosophischer) ‚Kausalität‘ und (physikalischer) ‚Gesetzmäßigkeit‘. Das erschien mir notwendig, um das Kausalitätsprinzip verteidigen zu können. Mit dieser Vermengung verschiedener Begriffe habe ich im Grunde das Gleiche getan, was ich bei anderen immer kritisiere, wenn es z. B. um Evolution geht und nicht sorgfältig zwischen dem Naturgeschehen und der Kultur unterschieden wird.
Was der zitierte Wuketits (1981) da meint, verstehe ich nicht, vermutlich ist der Textauszug zu kurz, es fehlt mir der Kontext. Warum müssen wir annehmen, dass es gesetzmäßige Zusammenhänge in der Natur gibt? Weil sie real sind? Und ist mit „Kausalitätsdenken“ nun ein Ursache-Wirkungs-Denken, wie es in den Medizinwissenschaften üblich ist, gemeint, oder ein (philosophisches, alltagssprachliches) „Verursachungsdenken“?
Man darf bei alledem auch nicht vergessen, dass das Erkennen von gesetzmäßigen Zusammenhängen eine ganz außergewöhnliche Leistung unseres Superhirns ist. Trotz der vielen Fehler, die es dabei macht.
»Dabei sei nochmals betont, dass sie sich mit allem, was sie (Nortons Kugel) tut, innerhalb der klass. Mechanik bewegt, also total gesetzmässig. Nur ist ihr spontanes Abrollen halt nicht irgendwie verursacht.«
Betont sei aber auch, dass man nicht vergessen sollte, dass Nortons Kugel bloß ein gedankliches Konstrukt im Rahmen der klassischen Mechanik ist. Ihr „spontanes Abrollen“ ist schlicht die Veranschaulichung der Lösung einer bestimmten mathematischen Gleichung.
Ok, das war’s, auf einander mal… vielleicht bei Ludwig Trepl.
Placebo-„Wirkung“
Vielleicht ist dies ein Beispiel für das von Wuketits angesprochenem „Kausalitätsdenken“: Man meint, Placebos hätten irgendwie eine Wirkung, weil in manchen Fällen nach deren Gabe eine Heilung oder Besserung beobachtet wird.
Den Placebos wird in diesem „Kausalitätsdenken“ also eine ursächliche Heilwirkung zugeschrieben. Und deshalb glaubt man dann, den „Wirkmechanismus“ oder die „genauen Wirkweisen“ (M. B. auf NdG) der Placebos erforschen zu können.
Das wäre dann ein schönes Beispiel dafür, wie die an sich nützliche Erkenntnisfähigkeit für naturgegebene Zusammenhänge auch in die Irre führen kann.
@Balanus
Nachbemerkung zur Schlussbemerkung.
»Was der zitierte Wuketits (1981) da meint, verstehe ich nicht, vermutlich ist der Textauszug zu kurz, es fehlt mir der Kontext.«
Dazu wäre dann sein Buch Biologie und Kausalität heranzuziehen. Das habe ich nicht. Mehr als ein Exzerpt aus einem Review habe ich nicht im Angebot (DOI: 10.1002/biuz.19820120410):
»Betont sei aber auch, dass man nicht vergessen sollte, dass Nortons Kugel bloß ein gedankliches Konstrukt im Rahmen der klassischen Mechanik ist.«
Es trifft für ausnahmslos alle sogenannten Naturgesetze zu, dass sie nicht in der Natur gelten, sondern die Gesetzmässigkeiten unserer theoretischen Modelle ausdrücken, welche erst durch Konventionen des Messens und Observierens zu den Phänomenen in Beziehung gesetzt werden. Das kann man gewiss gar nicht deutlich genug betonen.
»Placebo-„Wirkung“«
Auch ein “Wirkstoff” wirkt ja nicht. Vielmehr katalysiert er einen self-healing Prozess, das gehört so zu den “self-x properties” bei komplexen adapativen Systemen. In günstigen Fällen zumindest sollte das so sein, aber Tamiflu ist kaum besser als ein Placebo.
@Chrys: »Auch ein “Wirkstoff” wirkt ja nicht. Vielmehr katalysiert er einen self-healing Prozess, «
Dann wirkt der Wirkstoff eben „katalytisch“. Dass er tatsächlich eine Wirkung entfaltet, merkt man spätestens bei einer Überdosierung. Dosis-Wirkungskurven beruhen nicht auf einem fehlgeleiteten Kausalitätsdenken und sind auch keine pharmakodynamische Folklore, nein, sie basieren auf realen Prozessen.
Danke für das Exzerpt aus dem Wuketits-Buch-Review. Ich will mal zugunsten Wuketits‘ annehmen, dass sein biologischer Zugang zur Kausalitätsproblematik mit dem meinigen weitestgehend übereinstimmt. Und dass eine Formulierung wie „Evolution des Denkens“ in seinem Buch nicht vorkommt.
Bis denne…
@Balanus
»Dosis-Wirkungskurven …«
… zeigen Dir höchstens eine funktionalen, aber keinen kausalen Zusammenhang an.
So wie andere überall Götter, Geister, und Daemonen sehen, so siehst Du überall Kausalität. Du könntest Dich damit womöglich noch zum Studienobjekt für Michael Blume mausern, also sei vorsichtig! 😉
Dosis-Wirkungskurven @Chrys.
Wenn das so weiter geht, dann wird mich auch Joe Dramiga noch sperren…
» [Dosis-Wirkungskurven …]
… zeigen Dir höchstens eine funktionalen, aber keinen kausalen Zusammenhang an.«
Ich habe gar nicht behauptet, dass sie einen kausalen Zusammenhang anzeigen, sondern dass sie auf einem sachlichen, sprich kausalen Zusammenhang beruhen. Dass man hier von einem Kausalzusammenhang zwischen Dosis und Effekt spricht, ergibt sich aus dem bestehenden Fachwissen.
Ein bloß funktionaler Zusammenhang besteht zum Beispiel zwischen dem Rückgang der Storchennester in einer Region und dem Geburtenrückgang.
Du siehst, ich sehe nicht „überall“ Kausalität, sondern nur dort, wo er sachlich begründet ist. Placebos und Globuli z. B. wirken mMn nicht kausal.
@Balanus
»Ich habe gar nicht behauptet, dass sie einen kausalen Zusammenhang anzeigen, sondern dass sie auf einem sachlichen, sprich kausalen Zusammenhang beruhen. Dass man hier von einem Kausalzusammenhang zwischen Dosis und Effekt spricht, ergibt sich aus dem bestehenden Fachwissen.«
Es sind metabolische Prozesse, die bei Setzung eines Parameters N (“Dosierung”) als Input einen Messwert X (“Wirkung”) als Output liefern, und das lässt sich als ein funktionaler Zusammenhang auffassen. Ganz so, wie es bei einer Kaffeemühle der Prozess des Mahlens ist, der bei Setzung eines Parameters N = #{Kaffeebohnen} als Input einen Messwert X = measure{Kaffeemehl} als Output liefert. Da sagt normalerweise ja auch niemand, das Kaffeemehl sei eine “Wirkung” der Kaffeebohnen. Wer also volkstümlich von “Ursachen” und “Wirkungen” daherredet, sagt damit nur etwas über seine eigene, naiv gedeutete Wahrnehmung eines Vorgangs, wobei Begriffe verwendet werden, die überhaupt nirgendwo definiert sind, und das ist allemal eine schlechte Idee.
@Chrys
»Es sind metabolische Prozesse, die bei Setzung eines Parameters N (“Dosierung”) als Input einen Messwert X (“Wirkung”) als Output liefern, und das lässt sich als ein funktionaler Zusammenhang auffassen.«
Das trifft auch auf das Beispiel mit der Storchenpopulation und der Geburtenrate zu. Allerdings sind bei einem bloß funktionalen, also nicht kausalen Zusammenhang die Parameter für Input und Output vertauschbar (soweit ich weiß, ich lasse mich da gern eines Besseren belehren).
Der Prozess des Kaffeemahlens ist analog zur Metabolisierung eines Arzneistoffs. In der Pharmakokinetik beschäftigt man sich eher selten mit Arzneimittelwirkungen, es besteht also kaum Anlass, „volkstümlich“ über die Ursachen eines Effekts „daherzureden“.
Und was soll daran naiv sein, von der Wirksamkeit eines Arzneistoffes zu sprechen? Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte beschäftigt sich mit fast nichts anderem.
@Balanus
Die Sache mit Storchpopulation und Geburtenrate ist schon etwas diffiziler. Da vergleicht man zwei Sätze unabhängig erhaltener Time Series Data. Die beiden Messgrössen treten dabei jeweils als abhängige Variablen auf, und es bräuchte eine plausible Hypothese über eine wechselseitige Beeinflussung, um eine Vermutung aufzustellen, dass die eine Variable vielleicht irgendwie von der anderen abhängt. Das wäre etwa der Fall, wo die globale CO2 Emission und ein globaler Temperaturmittelwert auf diese Weise miteinander verglichen werden. Dort geht dann ein Wissen aus der Physik ein, nämlich dass CO2 ein sogenanntes Treibhausgas ist.
Time Series Data ergeben zwar eine Funktion im math. Sinne einer linkstotalen und rechtseindeutigen Relation, aber das ist trotzdem zunächst nur eine Konstatierung koinzidenter Ereignisse, dargestellt als Wertetabelle oder Graph, ohne dass damit schon ein Anspruch auf eine nichttriviale Gesetzmässigkeit verbunden wäre. Eine solche Gesetzmässigkeit ist aber implizit angesprochen, wo von Funktion die Rede ist in dem Sinne, wie Norton (2003) es exemplarisch von Ernst Mach zitiert:
Eine funktionaler Zusammenhang ist dann aufzufassen als eine regelhafte Abhängigkeit, in der bestimmte Observablen zueinander stehen. So zumindest hatte ich das gemeint.
@Chrys
»Time Series Data ergeben zwar eine Funktion im math. Sinne einer linkstotalen und rechtseindeutigen Relation, aber das ist trotzdem zunächst nur eine Konstatierung koinzidenter Ereignisse, dargestellt als Wertetabelle oder Graph, ohne dass damit schon ein Anspruch auf eine nichttriviale Gesetzmässigkeit verbunden wäre.«
Genau das meinte ich mit „bloß funktional“: Der (mathematischen) Form nach eine Funktion.
In einem solchen Fall sind die Variablen X und Y austauschbar, ich kann mir aussuchen, welche Variable von der anderen „abhängt“ oder „beeinflusst“ wird.
Dabei kann es durchaus auch einen gesetzmäßigen Zusammenhang geben. Wenn ich z. B. die Länge und die Temperatur eines Stückes Kupferdraht messe, dann besteht zwischen Länge und Temperatur ein gesetzmäßiger Zusammenhang, der mittels einer (math.) Funktion beschrieben werden kann. Man wird zwar sagen, dass die Temperatur die Länge des Drahtes beeinflusst, aber es funktioniert auch andersherum: Ich kann die Länge des Drahtes messen und aufgrund der Gesetzmäßigkeit dessen Temperatur berechnen (zumindest dem Prinzip nach).
»Eine funktionaler Zusammenhang ist dann aufzufassen als eine regelhafte Abhängigkeit, in der bestimmte Observablen zueinander stehen. So zumindest hatte ich das gemeint.«
Ja, ok, aber eine „regelhafte Abhängigkeit“ besagt ja noch nicht viel, wir wollen ja wissen, ob diese Abhängigkeit irgendwie gerichtet ist, ob also die abhängige Variable (das „Ergebnis“, Outcome) eindeutig festgelegt ist.
Und das ist eben dann der Fall, wenn es diese leidige Ursache-Wirkungs-Beziehung gibt. Insofern ist mir nicht ganz klar, wie das Konzept von Ursache und Wirkung restlos (ohne Informationsverlust) durch das Konzept der Funktion ersetzt werden könnte.
@Balanus
In bezug auf observable Vorgänge werden konstatierbare Zusammenhänge immer irgendwie prozesshaft hervorgebracht. In diesem Kontext liesse sich statt von einem funktionalen auch von einem prozeduralen Zusammenhang reden, das wäre vermutlich sogar weniger missverständlich. Doch die Rede von “Funktion” scheint dabei eher üblich zu sein.
Auch hinter Time Series Data, gegeben als eine endliche Folge koinzidenter Ereignisse (T[n],X[n]) für n = 1,2,…,N, wobei T[n] die Zeigerstellung einer Uhr und X[n] einen dazugehörigen Messwert bedeute, steckt natürlich eine Messprozedur, welche nach festgelegten (“funktionalen”) Regeln die Messwerte X[n] produziert. Speziell in der Quantenmechanik kann man sich nicht mehr naiv einbilden, ein Messwert wäre auch ohne Messung vorhanden, sodass man die Messung zur Zeit T[n] auch gerechtfertigt als “Ursache” und den Messwert X[n] als “Wirkung” bezeichnen könnte. Tut man normalerweise aber nicht.
“Ursache” und “Wirkung” lassen sich auffassen als so etwas wie Namen für Markierungen, die wir unwillkürlich mit gewissen auffälligen Stellen in wahrgenommenen Vorgängen assoziativ verknüpfen, was uns zur Orientierung und zum Abgleich auf Ähnlichkeit mit erinnerten Erfahrungen dienlich ist. Ohne solche hilfreichen Stützen stehen wir oft recht ratlos im Regen. Das im oben (23. November 2014 15:05) verlinkten Essay von Büttner erwähnte “Kühlhaus-Experiment” ist noch ein hübsches Beispiel, wie leicht sich unsere Eindrücke über Zusammenhänge täuschen lassen. (Erinnert mich übrigens an Paul Watzlawicks “abergläubische” Ratte.)
Was sich für typische lebensweltliche Situationen als vorteilhaft erweist, kann jedoch anderswo sogar hinderlich sein. Es stimmt meines Erachtens schon, dass, wie Wuketits meint, kausales Denken nach schlichten linearen Verbindungen sucht. Wer damit auf signifikant nichtlineare Probleme losgeht, ist gewaltig auf dem Holzweg.
By the way, Du hast Dich gelegentlich an der Rede von “mentaler Verursachung” gestossen. Als volkstümliche Umschreibung mag diese Redewendung durchaus hinnehmbar sein, für wissenschaftl. Belange taugt sie nicht. Da wird tatsächlich nirgendwo irgendwas verursacht. Die Kausaldenker werden das Geist/Hirn Problem mit ihren kindlichen Vorstellungen von upward/downward causation garantiert nicht lösen, und sie werden nicht einmal begreifen, warum sie das nicht können.
@Chrys
»“Ursache” und “Wirkung” lassen sich auffassen als so etwas wie Namen für Markierungen, die wir unwillkürlich mit gewissen auffälligen Stellen in wahrgenommenen Vorgängen assoziativ verknüpfen, was uns zur Orientierung und zum Abgleich auf Ähnlichkeit mit erinnerten Erfahrungen dienlich ist.«
Es gibt offenbar recht viele Möglichkeiten, das natürlich entstandene (und begründete) Konzept von Ursache und Wirkung zu umschreiben.
»Was sich für typische lebensweltliche Situationen als vorteilhaft erweist, kann jedoch anderswo sogar hinderlich sein. Es stimmt meines Erachtens schon, dass, wie Wuketits meint, kausales Denken nach schlichten linearen Verbindungen sucht.«
Auch Wuketits scheint, wie ich, der Auffassung zu sein, dass sich „kausales Denken“ (also das Wahrnehmen-können ursächlich verknüpfter Ereignisse) im Laufe der Evolution entwickelt hat, und zwar nicht als sinn- und nutzloses Beiprodukt ohne Bezug zur Realität (das, was Du „typische lebensweltliche Situationen“ nennst), sondern als ein äußerst nützliches Feature unserer mentalen Ausstattung. Und so etwas kann nur dann entstehen, wenn es solche lebensweltliche Situationen tatsächlich gibt, die ursächlich (d. h., naturgesetzlich) zusammenhängen, wo eben das Ereignis B zwangsläufig auf Ereignis A folgen muss (mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit, genauer gesagt).
»…wie leicht sich unsere Eindrücke über Zusammenhänge täuschen lassen.«
Auch diese Täuschungen belegen m. E. nur die enorme Bedeutung, die das „Erkennen“ realer Kausalzusammenhänge für höhere tierliche Organismen haben muss (mehr Nutzen als Schaden).
»Die Kausaldenker werden das Geist/Hirn Problem mit ihren kindlichen Vorstellungen von upward/downward causation garantiert nicht lösen, und sie werden nicht einmal begreifen, warum sie das nicht können.«
„Kausaldenker“ ist nicht gleich Kausaldenker.
Ich als Kausaldenker sehe kein Geist/Hirn Problem, soweit es um die Frage der Verursachung geht. Aber vielleicht begreife ich einfach das Problem nicht.
@Balanus
Wir sollten tatsächlich hier zum Ende kommen, ich habe schon déjà-vu Erlebnisse.
»… ursächlich (d. h., naturgesetzlich) …«
Der Hinweis, dass “naturgesetzlich” nicht “ursächlich” bedeutet, war bereits erfolgt. In keinem Naturgesetz ist die Rede von Ursachen und Wirkungen, und Franz Wuketits sieht im Gegensatz zu Dir keine Ursachen und Wirkungen in der Natur. Mehr als darauf hinzuweisen kann ich nun wahrlich nicht tun.
@Chrys
Jawohl, beenden wir die Sache.
»Der Hinweis, dass “naturgesetzlich” nicht “ursächlich” bedeutet, war bereits erfolgt.«
Und wurde auch nicht bestritten. Es ging nur darum, in Erinnerung zu rufen, dass, wenn mit Blick auf Naturprozesse von „Ursache“ und „Wirkung“ die Rede ist, in aller Regel naturgesetzliche Vorgänge gemeint sind (oder vorausgesetzt werden). Ich schätze, damit müssen wir leben… 😉
Messung der „Religiosität“
Abschließend noch ein Hinweis auf eine aktuelle (finnische!) Studie, die meine oben geäußerten Thesen untermauert:
Supernatural believers attribute more intentions to random movement than skeptics: An fMRI study.
Ein Auszug aus “Material and Methods”:
Das erwähnte Tobacyk-Paper: A Revised Paranormal Belief Scale, findet sich hier (PDF):
http://www.transpersonalstudies.org/ImagesRepository/ijts/Downloads/A%20Revised%20Paranormal%20Belief%20Scale.pdf