Erste Hinweise, dass ein Retrovirus AIDS verursacht: Die vier Science-Paper vom 20. Mai 1983

Am 20. Mai 1983 publizierte die Fachzeitschrift Science, in Windeseile, vier Artikel, die Indizien dafür lieferten, dass ein humanes Retrovirus die Ursache von AIDS1 ist. Wegen dieser vier Artikel mussten andere Artikel, die bereits von Science zur Publikation in dieser Ausgabe angenommen worden waren, in spätere Ausgaben weichen. Unter normalen Umständen wären diese Paper nicht so schnell veröffentlicht worden, denn einzeln betrachtet, war die Evidenz dieser Paper schwach: die Gutachter wussten das, die Autoren wussten das und auch die Herausgeber – aber Seite an Seite waren sie eine starke Unterstützung für die These, dass ein humanes Retrovirus AIDS verursacht. Vor der Publikation dieser Fachartikel hatte es schon drei Hinweise dafür gegeben, dass es sich bei dem AIDS-Erreger um ein Virus handelt.

Ein Virus verursacht AIDS

1. AIDS kam bei Menschen vor, die miteinander Sex gehabt hatten: Daher vermuteten Mikrobiologen, dass es sich um eine Infektionskrankheit handelt.

2. Da AIDS auch bei Drogenabhängigen auftrat, vermuteten sie einen mit dem Blut übertragenen Krankheitserreger.

3. Die AIDS-Fälle unter Blutern ließen vermuten, dass der mit dem Blut übertragene Erreger dem Nachweis in weiterverarbeiteten Blutprodukten, beispielsweise Gerinnungsfaktoren, entging. AIDS konnte nicht von einem herkömmlichen Bakterium, einem Pilz oder Protozoon übertragen werden, denn solche Erreger werden von den Filtern zurückgehalten, durch die Gerinnungsfaktoren hindurchlaufen.

Der Erreger von AIDS war also sehr klein, ansteckend und befand sich im Blut. Da durch die opportunistischen Infektionen viele Arten von Viren in den Körpern von AIDS-Patienten gefunden wurden, z. B. Cytomegalovirus, war es dringend notwendig, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen. Dabei halfen zwei weitere Beobachtungen, die die These stützten, dass es sich um einen Retrovirus handelt:

1. Alle AIDS-Patienten zeigten im Blutbild eine Verringerung der Anzahl der T-Zellen, die das CD4-Oberflächenantigen trugen. Das war ein Hinweis auf einen Erreger, der spezifisch CD4+ T-Zellen infiziert. Dieses Kriterium wurde vom menschlichen T-Zell-Leukämievirus (Englisch: Human T–Cell Leukemia Virus, HTLV) erfüllt, einem Retrovirus, das in den 1970er von Robert Gallo entdeckt worden war. Zusätzlich wurde HTLV durch Blut und sexuell übertragen.

2. Ein verwandtes Retrovirus, das Katzenleukämievirus, an dem Max Essex in Harvard forschte, verursachte bei Katzen eine Immunschwäche.

Credit: By Hiv-timecourse_copy.svg: Sigvederivative work: Furfur [CC0], via Wikimedia Commons Zeitlicher Verlauf der HIV-Infektion bis zum Auftreten klinischer Symptome in Abhängigkeit von der T-Helferzellzahl.

Ist ein neuer Typ von HTLV der AIDS-Erreger oder ein anderes Virus?

Die Science-Ausgabe enthielt einen Artikel von Jean Luc Montagniers Labor am Pasteur Institut in Paris [4], zwei von Robert Gallos Labor am Nationalen Krebsinstitut in Bethesda [2], [3] und einen von Michael Essexs Labor an der Harvard-Universität in Boston [1].

Montagniers Forscherteam hatte das Virus aus der Lymphknotenbiopsie eines Patienten isoliert, der an einer Lymphadenopathie (Schwellung der Lymphknoten) litt, ein Syndrom, das als Vorläufer von AIDS angesehen wurde. Die Idee, dass der Erreger von AIDS in geschwollenen Lymphknoten gesucht werden sollte, war teilweise richtig, da die Virologen jetzt wissen, dass die Lymphknoten die Hauptstelle sind, wo sich das Virus während der präsymptomatischen Phase versteckt. In diesem frühen Stadium schien es wahrscheinlicher, dass das Isolat ursächlich war, als das es opportunistisch war, da die Immunsuppression sehr mild war. Montagnier nannte das Virus Lymphadenopathie-assoziiertes Virus (LAV)2.

Gallos Arbeitsgruppe isolierte das Virus aus den T-Zellen des peripheren Blutes eines AIDS-Patienten [3]. Da die infizierten T-Zellen die HTLV-Kapsidproteine p19 und p24 enthielten, glaubte Gallo, dass er einen neuen Typ des HTLV entdeckt hatte, und nannte den Virus HTLV-IEP.

LAV und HTLV-IEP hatten zumindest eines gemeinsam, beides waren Retroviren. LAV benahm sich in der Zellkultur aber anders als Gallos angebliches HTLV-Isolat. Im Gegensatz zu einem menschlichen T-Zell-Leukämievirus, stimulierte dieses Virus nicht die Proliferation von infizierten Zellen und machte sie nicht unsterblich; Francoise Barré-Sinoussi, die Erstautorin des Papers, kommentierte in ihrem Laborbuch sogar, dass das LAV “zelltötende” Effekte habe. Zusätzlich reagierte das Serum ihres Patienten nicht auf Antikörper gegen HTLV. Das Blut des Patienten enthielt Antikörper gegen LAV aber nicht gegen HTLV.

Barré-Sinoussi sagt: “Wir wussten, dass wir es nicht mit einem Leukämievirus mit HTLV-I oder II zu tun hatten. Ein lymphotropes [T-Zellen-infizierendes] Virus, ja, aber kein Leukämievirus. Aber ob dieses neue Virus ein Mitglied der HTLV-Familie war oder ob er eine völlig andere oder neue Familie von Viren darstellte, konnte nicht definitiv beantwortet werden.”

Das lag vor allem daran, dass es Barré-Sinoussi nicht gelungen war, das Virus in der Zellkultur3 in einer Menge zu produzieren, die seine zufriedenstellende Charakterisierung zuließ.

Der andere Artikel aus Gallos Labor [2] berichtet, dass bei zwei AIDS-Patienten eine provirale DNA von HTLV gefunden wurde. Der Essex-Artikel [1] zeigte, dass 38 % der getesteten AIDS-Patienten Antikörper4 gegen eine Variante von HTLV hatten.

Die Rhetorik der Autoren

Gallo war zu dieser Zeit bereits ein berühmter Virologe mit großem Einfluss und wurde der Vater der humanen Retrovirologie genannt. Sein Wort hatte Gewicht in der AIDS-Forscher-Community. Er war ehrgeizig und sehr überzeugt davon, dass das AIDS-Virus aus der Virenfamilie stammt, die er selbst ein Jahrzehnt zuvor entdeckt hatte. Barré-Sinoussi war eine noch relativ unbekannte Post-Doc, die hoffte, dass die vorgelegten Indizien stärker wiegen als populäre Meinungen.

Vergleicht man die beiden Paper von Barré-Sinoussi [4] und Gallo [3] fällt auf, wie sehr sie sich stilistisch auf der sprachlichen Ebene unterscheiden. Gallo verkauft sein Paper – wie ein Außendienstler, der weiß was sein Kunde hören will, während Barré-Sinoussi zurückhaltend, an den Fakten orientiert, die weniger schöne aber auch wichtige Geschichte, berichtet.

Im ersten Satz ihres letzten Absatzes, in dem Barré-Sinoussi die Leser an die wichtigsten Schlußfolgerungen erinnern kann, schreibt sie: “Die Rolle dieses Virus in der Ätiologie von AIDS bleibt noch zu bestimmen”. Das Gallo-Paper endet damit, den Leser zu versichern, dass das Team, obwohl es noch keinen erwiesenen Krankheitserreger gefunden hat, die Methoden hat, die eine spätere Entdeckung gewährleisten.

Wer mehr zum sprachlichen Aspekt erfahren möchte und sich für Wissenschaftskommunikation interessiert, dem empfehle ich den Artikel Rhetoric and the AIDS Virus Hunt von Carol Reeves.

Fußnoten

1. In den ersten Jahren nach ihrer Entdeckung war die neue Krankheit ein Mysterium mit verschiedenen Namen und Abkürzungen. Eine davon war Gay-Related Immune Deficiency (GRID). Diese Bezeichnung erwies sich aber als zu eng gefasst, denn nach und nach tauchten auch heterosexuelle Patienten auf – Drogenabhängige, die an der Nadel hingen, Bluter und andere. Die CDC sprach für eine kurze Zeit von Kaposi’s sarcoma and opportunistic infections in previously healthy persons. Im September 1982 einigten sich die Ärzte und Wissenschaftler auf die Bezeichnung Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS).

2. 1986 beschloss ein Gremium angesehener Retrovirusforscher, das Virus Human Immune Deficiency Virus (HIV) zu nennen. 1991 trat Gallo von seinem Anspruch der Erstentdeckung von HIV zurück. Heute wird dem Team von Luc Montagnier die Erstentdeckung zugeschrieben. Entsprechend wurde der Medizin-Nobelpreis 2008 Montagnier und Barré-Sinoussi – und nicht Gallo – zuerkannt.

3. Montagniers Forscherteam war zunächst nicht in der Lage ihr Virusisolat in einer transformierten permanenten T-Zellen-Kultur (einer T-Zellenlinie), zu kultivieren. Es schickte jedoch geklonte Stämme ihres Virus an andere Laboratorien. Diese Stämme veränderten sich in vitro, wodurch sie in Kulturen anpassungsfähiger wurden und wuchsen.

4. Gallo erklärte später, dass die Daten von Essex ungültig waren, weil er ein Antigen benutzte, das HIV und HTLV gemeinsam hatten, nicht eins das ausschließlich in HTLV vorkam, weil seine AIDS-Patienten doppelt mit HTLV und HIV infiziert waren.

Weiterführende Literatur

1. Max Essex, Mary Francis McLane, Tun-Hou Lee, Lawrence A. Falk, Craig Walter Sandell Howe,James I.Mullins, C. Cabradilla, Donald P. Francis. (1983) Antibodies to Cell Membrane Antigens Associated with Human T-cell Leukemia Virus in Patients with AIDS. Science, 220, 859-862.

2. Gelmann, Edward P., MikulasPopovic, Douglas Blayney, Henry Masur, Gurdip Sidhu, Rosalyn E. Stahl, Robert C. Gallo. (1983) Proviral DNA of a Retrovirus, Human T-Cell Leukemia Virus, in Two Patients with AIDS. Science, 220, 862-864.

3. Gallo, Robert C, Prem S. Sarin, E.P. Gelrnann, Marjorie Robert-Guroff, Ersell Richardson, V.S. Kalyanaraman, Dean Mann, Gurdip D. Sidhu, Rosalyn E. Stahl, Susan Zolla-Pazner,JacqueLeibowitch, Mikulas Popovic. (1983) Isolation of Human T-Cell Leukemia Virus in Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS). Science, 220, 865-868.

4. Barré-Sinoussi, Françoise, Jean-Claude Chermann, Fran Rey, Marie Therese Nugeyre, S. Chamaret, J. Gruest, Charles Dauguet, C. Axler-Blin, FranoiseVezinet-Brun, Christine Rouzioux, Willy Rozenbaum, Luc Montagnier. (1983) Isolation of a T-lymphotropic Retrovirus from a Patient at Risk for acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS). Science, 220, 868-871.

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Veröffentlicht von

Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

2 Kommentare

  1. Der Medizin-Nobelpreis 2008 ging also an Montagnier und Barré-Sinoussi – und nicht an Gallo. Und das zurecht. Etwas was beim Literatur- oder Friedensnobelpreis (Barack Obama erhielt ihn) nicht ohne weiteres sagen kann – ob diese genobelten Preise für Literatur und Frieden nämlich jeweils zurecht vergeben werden.

  2. “Und das zurecht.”, “… zurecht vergeben…” …
    Mann oh Mann, Herr Holzherr.
    Ich rücke nach diesem Schreck erstmal meinen Stuhl und meinen Tisch einschließlich Computer zurecht.

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