Ein Mensch ohne Erinnerung
BLOG: Die Sankore Schriften
Ein Mensch ohne Erinnerung hätte einige Probleme. Er könnte nicht sprechen, weil er sich den Zusammenhang zwischen Wörtern und Dingen nicht merken könnte. Er könnte nicht gehen, weil sein Hirn die richtigen Bewegungsabläufe nicht parat hätte. Er besäße keine Persönlichkeit, weil er seine emotionalen Erfahrungen nicht abgespeichert hätte. Er würde nicht aus Erfahrung klug, weil er sie nicht behält.
Unsere Vorstellungen vom neuronalen Aufbau der Erinnerungen hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte beträchtlich gewandelt. Die lange populäre Idee, dass abgegrenzte Hirnstrukturen jeweils bestimmte Gedächtnisinhalte speichern, wurde aufgegeben. Auch musste man sich von der Vorstellung lösen unser Gedächtnis funktioniere wie ein Videorekorder, der chronologisch Stück für Stück alles aufnimmt, was passiert. So ist es nicht. Der Inhalt unseres Gedächtnisses wird immer wieder neu erzeugt, wenn er gebraucht wird. Dabei können Informationen die später hinzugefügt werden Einfluss auf das Gedächtnis ausüben. Man muss sich das Gedächtnis also vorstellen wie einen Roman, der immer wieder umgeschrieben wird.
Das Modell assoziativer Nervennetzwerke
Unsere Erinnerungen sind in ausgedehnten Netzwerken von Nervenzellen gespeichert. Sie sind darin nicht etwa in speziellen chemischen Speichermolekülen oder in einzelnen Gedächtnisneuronen niedergelegt, sondern in den unterschiedlich starken Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen innerhalb solcher Netzwerke. Beim Einprägen – etwa eines Gedichts – werden die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, sogenannte Synapsen, durch ihre eigene Aktivität verändert. Die Anzahl der Synapsen zwischen den Nervenzellen verändert sich und die Stärke der elektrischen Signale an den Synapsen verändert sich auch. Es findet ein ständiger Auf- und Abbau statt. Beim Lernen erhöht sich die Anzahl der Verbindungen und die Signalstärke, es wird eine Assoziation hergestellt. Beim Vergessen vermindert sich die Zahl der Verknüpfungen und die Signalstärke. Je stärker die Assoziation ist, umso leichter kann man sich erinnern.
Langzeitpotenzierung an Synapsen
Abb.: Synapsen: Kontaktstellen zwischen Nervenzellen
Die rasch wiederholte Aktivierung eines Neurons durch ein anderes verstärkt langfristig die Effizienz der Signalübertragung an der Synapse zwischen beiden – als „erinnere“ sich das System an die vorherige Stimulation. Bei gleicher Signalstärke gibt es mit der Zeit eine immer stärker werdende Signalantwort. Fachleute nennen dieses Phänomen Langzeitpotenzierung (LTP). Werden außerdem zwei Nervenzellen aus verschiedenen Netzwerken z. B. im akustischen Kortex und im Hippocampus häufig gleichzeitig aktiviert, so fördert später die Stimulation des einen Neurons die Aktivierung des anderen; über diese Querverbindungen werden also Assoziationen hergestellt. Die Bedeutung des LTP für die Gedächtnisbildung illustriert folgendes Experiment:
Eine einfache Lernaufgabe für Ratten besteht darin, einen an sich neutralen Reiz mit einer unangenehmen Erfahrung zu verknüpfen. Man lässt die Ratten einen Ton bestimmter Höhe hören und koppelt ihn eng mit einem kurzen, schwachen Stromschlag. Das Tier lernt rasch, beide Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen.
Mit implantierten Elektroden lässt sich verfolgen, wie das Gehirn lernt, diesen speziellen Ton mit der unangenehmen Erfahrung zu assozieren. Bestimmte Sender-Neuronen im sensorischen Kortex, die akustische Informationen verarbeiten und Empfänger-Neurone im Hippocampus aktivieren, verändern ihre eigene Aktivität und die der Empfänger-Neurone. Während sie zu Beginn des Lernvorgangs noch überhaupt nicht auf den Ton reagieren, erzeugen sie mit zunehmender Zahl von Trainingseinheiten immer schnellere und stärkere elektrische Signale Die Nervenzellen im Hippocampus werden durch die akustischen Neurone im Cortex gerade zu auf den Signalton „getrimmt“. Sie antworten dann auf seine Frequenz viel heftiger als auf jede andere. Selbst einige Monate später reagieren die Neuronen im Hippocampus immer noch auf den Signalton. Im Hippocampus hat sich eine langfristige Erinnerung an den gelernten Zusammenhang gebildet. Der Hippocampus an der Innenseite des Schläfenlappens, ist die höchste Instanz im hierarchischen Gedächtnisnetzwerk. Über die Rolle des Hippocampus bei der Gedächtnisbildung schreibt Felix Bohne in einem interessanten Blogbeitrag.
Falsche Erinnerungen
Normalerweise bleiben Dinge die man sieht, hört und riecht länger im Gedächtnis haften als Dinge die man z. B. nur hört. Es beteiligen sich einfach mehr Nervenzellen beim Aufbau des Gedächtnisnetzwerkes, nämlich Sehnerven, Hörnerven und Riechnerven. Das Netzwerk wird also stabiler außerdem verstärken sich diese unterschiedlichen Neurone in ihrer Wirkung bei der Aktivierung des Netzwerkes.
Wünsche, Ängste, Vorstellungen können die Nervenzellen im Hippocampus genauso aktivieren wie ein akustischer Reiz. Daher führt der gleiche Mechanismus dazu, dass Erinnerungen rückwirkend uminterpretiert werden können. Wenn zum Beispiel der Zeuge eines Autounfalls bei der Polizei gefragt wird, ob die Bremslichter angingen und er dies –wahrheitsgemäß- verneint, so kann es dennoch sein, dass er Monate später vor Gericht sagen wird, die Bremslichter seien angegangen. Weil der Polizist ihn fragte, ob er die Bremslichter gesehn hat, musste er sich die Situation mit Bremslicht vorstellen, bevor er die Frage verneinen konnte. Allein diese Vorstellung, das pure Nachdenken über die Möglichkeit, dass ein Bremslicht leuchtete, beeinflusst das Gedächtnis.
Wenn er zu dem die gleiche Frage, einem Anwalt, einem Versicherungsagenten und einem Lokalreporter beantworten muss verstärkt sich der Effekt. Es kann also sein, dass wenn ich jemanden nur oft genug nach etwas frage, was es gar nicht gegeben hat, dass er später mal selbst dran glauben wird. Dieser Effekt verstärkt sich noch bei Situationen die ein Trauma auslösen und ist besonders bei Glaubwürdigkeitsgutachten vor Gericht ein Problem, wie der Psychologieprofessor Klaus Fiedler in einem Interview mit der Berliner Zeitung berichtet.
Déjà-Vu-Erlebnisse
Es kann sein, dass ein Ort den wir besucht haben, uns aber nicht mehr an ihn erinnern, plötzlich ein Gefühl auslöst, das wir bereits kennen: Die gesamte Situation erscheint uns seltsam vertraut. Meist reicht ein Aspekt, ein charakteristischer Geruch beispielsweise, den wir in einem anderen Kontext früher schon einmal erlebt haben, um ein Gefühl der Vertrautheit auszulösen. Einen interessanten Bericht über Déjà-Vu-Erlebnisse schrieb Julius Ziebula in Kulturstruktur.
Literatur
Cell. 2007 Oct 5;131(1):160-73.
Bildnachweise
Bild „Nervennetzwerk“
Anna Schroeder, „Basic Scheme of a Neuronal Network“
Quelle: Wikimedia Commons
Bild „Synapsen: Kontaktstellen zwischen Nervenzellen“
Miserlou, „Neurons Big“
Quelle: Wikimedia Commons