Die Grundlage einer wunderbaren Mathematik

BLOG: Die Sankore Schriften

Die Welt ist voller Rätsel
Die Sankore Schriften

In meinem letzten Artikel „Cantors Einwand gegen Euklids Dimensionsbegriff“ machte Leser KRichard folgenden Kommentar:

Es muss auch erlaubt sein, sich über Sinn oder Unsinn von Denkmodellen Gedanken machen zu dürfen.
Zur Idee des nulldimensionalen Punktes: Dieser hätte für L, Br, H jeweils den Wert 0. Will man mehrere Punkte zu einer Linie zusammensetzen, dann braucht man dazu bereits ein mathematisches Wunder, welches die Eigenschaft Länge erzeugt. Um Breite zu erhalten, braucht es noch einmal ein mathematisches Wunder – denn sonst könnte man Linien nicht zu einer Fläche nebeneinander legen. Und ein drittes Wunder ist notwendig, damit die Höhe einer Linie/Fläche erzeugt werden kann.
Kurz gesagt – die Idee, aus nulldimensionalen Punkten einen Raum zu bilden, beruht auf Grundlage Wunder-barer Mathematik….

KRichard, 24. Mai 2016 10:07

Leser KRichard hat Recht und Unrecht. Recht hat er mit der Aussage, dass man sich Gedanken machen soll zu Sinn und Unsinn von Denkmodellen. Unrecht hat er mit der Aussage, dass die Idee des nulldimensionalen Punktes mathematisch nichts taugt. Ich möchte das am Beispiel der endlichen Linie erläutern.

Eine Linie endlicher Länge enthält eine Menge überabzählbar1 unendlicher vieler Punkte. Da die Linie eine endliche Länge hat, muss jeder Punkt eine Länge von null haben. Gäbe es nämlich unendliche viele Punkte von gleicher positiver Länge, wie kurz auch immer, so wäre die ganze Linie unendlich lang. Aber wie kann eine Linie endlich lang sein, wenn die Punkte jeweils eine Länge von null haben? Unsere Intuition sagt uns, dass die Summe von vielen Nullen null sein muss, und das ist gewiss auch so, wenn es unendlich viele gibt, sogar dann, wenn sie abzählbar unendlich sind2.

Aber es gibt keine Definition für die Summe von überabzählbar vielen Längen und zwar unabhängig davon, ob diese positiv oder alle gleich null sind. Die Summe von überabzählbar vielen Nullen ist ebenso wenig definiert wie die Teilung durch Null. Also folgt nicht, dass die Linie eine Länge von null hat. Im Gegenteil, die Länge einer endlichen Linie muss unabhängig sein von der Anzahl der Punkte, die sie enthält – eine Linie von einem Millimeter hat ebenso viele Punkte wie eine Linie, die einen Meter misst. Selbst angenommen, dass überabzählbare Summen definiert wären, so könnten sie uns doch nicht die Längen angeben.

Deshalb halten wir an der Idee fest, dass eine endliche Linie aus überabzählbaren unendlich vielen Punkten mit jeweils einer Länge von null besteht. Es wäre ein Fehler, die Definitionen von endlichen und abzählbaren Summen auf überabzählbare Summen auszudehnen. Es würde uns nämlich daran hindern, eine widerspruchsfreie Theorie der Messung zu formulieren – eine konsistente Theorie von, Länge, Fläche und Volumen. Mathematiker nennen diese Theorie „Maßtheorie“, eine Theorie, die mit Mengen von Punkten, d.h. „Punktmengen“, anstatt mit einzelnen Punkten arbeitet. Ein Intervall ist eine Menge und wann immer wir ein Intervall halbieren, teilen wir es in zwei Mengen.

Fußnoten

1. Eine Menge heißt überabzählbar, wenn sie nicht abzählbar ist. Eine Menge ist abzählbar, wenn sie entweder endlich ist oder eine Bijektion zur Menge der natürlichen Zahlen existiert. Eine Menge ist also genau dann überabzählbar, wenn ihre Mächtigkeit (entspricht der Anzahl der Elemente bei endlichen Mengen) größer ist als die der Menge der natürlichen Zahlen. Cantors zweites Diagonalargument ist sein zweiter mathematischer Beweis dafür, dass die Menge der reellen Zahlen überabzählbar ist.

2. Oder wie der Kölner sagt: “Vun nix kütt nix

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Veröffentlicht von

Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

19 Kommentare

  1. Die Beispiele zeigen aber: Mit Punkten allein kommt man nicht zu höherdimensionalen Objekten. Die übliche Festlegung: 2 verschiede Punkte bestimmen genau eine Gerade macht nur Sinn, wenn die beiden Punkte eingebettet sind in einen mindestens 1-dimensionalen Raum.
    Die Punkt-Definition von Aristoteles geht auf dieses Problem ein. Sie heisst: “Ein Punkt ist eine unteilbare Einheit, die eine Position besitzt.”. Der Begriff Position macht nur Sinn in einem mindestens 1-dimensionalen Raum. Wobei Aristoteles wohl implizit an den 3-dimensionalen Raum dachte.

    • Übrigens: Ich habe oben zweimal “macht nur Sinn” geschrieben, dabei müsste es doch im deutschen heissen: “ergibt nur Sinn”. “macht Sinn” kommt aus dem Englischen (makes sense). Es gab aber dort wo ich wohne (und medial verankert bin) kürzlich Werbekampagnen in denen genau diese Wendung “macht Sinn” im Zentrum stand.Das zeigt wieder einmal, wie Sprache geformt wird und wie etwas was falsch ist mit der Zeit richtig werden kann.

      • Martin Holzherr schrieb (16. Juni 2016 20:34):
        > Die Punkt-Definition von Aristoteles […] heisst: “Ein Punkt ist eine unteilbare Einheit, die eine Position besitzt.”.

        Gehe ich recht in der Annahme, dass Aristoteles diese „Punkt-Definition“ gegeben hat, ohne vorher (oder wenigstens im Rahmen einer umfassenderen Definition auch dabei) eine Definition des Begriffes „Position“ abzuliefern?

        (Man muss sich wundern, ob und wie solcher Mangel an Nachvollziehbarkeit inzwischen sinnvoll behoben wurde.)

        > Der Begriff Position macht nur Sinn in einem mindestens 1-dimensionalen Raum.

        Sofern sich „Position eines Punktes“ z.B. auch im Rahmen einer bestimmten Topologie oder einer bestimmten Metrik durch
        spezifische Beziehungen mit anderen verstünde, hat die Bewertung der Dimensionalität des entsprechenden Raumes nicht unbedingt Sinn.

        • Wikipedia ist mit A common interpretation is that the concept of a point is meant to capture the notion of a unique location in Euclidean space. erstaunlich nahe an der Definition von Aristoteles.

          Eingeleitet wird der Artikel mit dem Satz:

          In modern mathematics, a point refers usually to an element of some set called a space.

          und das – die Erwähnung des Raumes – passt zum Satz in meinem ersten Kommentar: “Die übliche Festlegung: 2 verschiede Punkte bestimmen genau eine Gerade macht nur Sinn, wenn die beiden Punkte eingebettet sind in einen mindestens 1-dimensionalen Raum.”

          • Martin Holzherr schrieb (17. Juni 2016 17:30):
            > Wikipedia ist mit A common interpretation is that the concept of a point is meant to capture the notion of a unique location in Euclidean space. erstaunlich nahe an der Definition von Aristoteles.

            In der Tat — insbesondere in Hinsicht darauf, dass das Wort “location” darin auch nicht zu einem entsprechenden Artikel verwikilinkt ist; diesem Wort also keine erkennbare Definition unterlegt ist. (Und im Artikel [[Euclidean space]], wo dieses Wort z.Z. auch genau einmal vorkommt, ganz genau so. Und den Artikel [[Location]], den es tatsächlich gibt, kann man getrost vergessen. Bedauernswerte, misshandelte, immer noch zum Underachievement versklavte Wikipedia. Aber sie ist ja immer noch so jung …)

            > Eingeleitet wird der Artikel mit dem Satz:
            > In modern mathematics, a point refers usually to an element of some set called a space.

            Schon besser. (Und besser verwikilinkt. Nicht ganz überraschend versteht sich dabei ein “Element” im Wesentlichen als “distinct member of a set“.)

            > und das – die Erwähnung des Raumes – passt zum Satz in meinem ersten Kommentar:

            Die Erwähnung der Raumes (im verwikilinkten Sinne eines [[Space_(mathematics)]] sehr wohl. Aber eben nicht unbedingt die damit verundene Erwähnung von “Dimension“.
            (Wobei man in insbesondere in Anbetracht des Begriffes der topologischen Dimension sicherlich einige gedankliche Purzelbäume schlagen muss, um einen topologischen Raum mit mindestens zwei Punkten zu beschreiben, so dass keiner seiner offenen Teilmengen entsprechend als “mindestens 1-dimensionaler Raum” chrakterisierbar wäre. Ich bilde mir ein, dass das hinsichtlich metrischer Räume leichter fällt …)

          • p.s.
            Wer orthographische Fehler in SciLogs-Kommentaren findet, darf sich der (nicht zuletzt dadurch stets dringender werdenden) Bitte nach Implementierung einer Kommentarvorschau oder (ja-was-denn-noch-alles-!?) einer evtl. zeitnahen nachträglichen Editier- oder Löschmöglichkeit anschließen.

    • @ Martin Holzherr

      “2 verschiede[ne] Punkte bestimmen genau eine Gerade macht nur Sinn, wenn die beiden Punkte eingebettet sind in einen mindestens 1-dimensionalen Raum”

      Wie viele verschieden Geraden passen den in so einen1-dimensionalen Raum?

      In einem 1-dimensionalen Raum, reicht da nicht schon ein Punkt, oder können wir nicht sogar auf jeglichen Punkt verzichten, entweder ist der 1-dimensionale Raum gerade oder eben nicht?

      • Klar, Punkte bevorzugen mehr als 1 Dimension, Geraden sowieso – es ging aber um den minimalen Raum in dem es noch Punkte gibt.

  2. Ich hätt nicht gedacht, dass mein Spott über fragwürdige Mathematik (´Wunder´) einmal zentrales Blogthema wird.
    Wir sollten antikes Wissen nicht kritiklos übernehmen. Z.B. Demokrit ging im 5.Jhdt. v. Chr. von ´átomos´ als kleinsten Teilchen aus. Diese Vorstellung ist mittlerweile überholt – die Teilchenphysik hat einige kleinere Teilchen gefunden.
    Als Eukid die Idee entwicklete, nulldimensionale Punkte zu eindimensionalen Linien, zweidimensionalen Flächen bzw. dreidimensionalen Raumkonstruktionen zusammen zu setzen – war die Rechenregel ´Teilen durch Null ist ein nicht erlaubter mathematischer Ausdruck´ noch nicht bekannt. Man kann ihm deshalb keinen Vorwurf für seinen Fehler machen.
    Der indische Gelehrte Brahmagupta definierte im 7. Jhdt.: ´Dividiert man irgendeine Zahl durch das Nichts, so wird Unendlichkeit.´ Quelle:
    http://www.spektrum.de/quiz/wann-gelang-der-zahl-null-der-Durchbruch-in-Europa/606232

    Und erst im 17./18. Jhdt. wurde in der Differenz-/Integralrechnung die Idee des Zahlenwerts ´fast Null´ bzw. der Grenzwertbegriff eingefügt.
    (Null bedeutet ´Nichts´, von lat. ´nulla figura´ (= keine Zahl))

    Mittlerweile sollten sich bestimmte mathematische Regeln und Begriffe herumgesprochen haben.
    Wenn für Euklid das Teilen durch Null ein zulässiges Denkmodell war – ist dies völlig in Ordnung; da der damalige Wissensstand dies zulies.
    Wenn aber heute der euklidische Rechenfehler als mathematisch korrekte Idee verteidigt wird – dann erstaunt mich dies doch sehr.

    • “Wir sollten antikes Wissen nicht kritiklos übernehmen. Z.B. Demokrit ging im 5.Jhdt. v. Chr. von ´átomos´ als kleinsten Teilchen aus. Diese Vorstellung ist mittlerweile überholt – die Teilchenphysik hat einige kleinere Teilchen gefunden.”

      so gesagt, ist das zumindest schief.

      Demokrit postulierte die Existenz kleinster “unteilbarer” Teilchen. Daß die von uns heute aufgrund historischen Zufalls (und nicht von Demokrit, der kannte unsere Atome gar nicht) so genannten “Atome” nicht derartige Teilchen sind, dafür kann Demokrit nichts, und das allein widerlegt ihn keineswegs.

    • @ KRichard

      “Teilen durch Null ist ein nicht erlaubter mathematischer Ausdruck”

      Sie erwähnen das so häufig, jetzt schon wieder, ohne dass ich erkennen könnte, an welcher Stelle das jemand macht oder machen möchte. Daher meine Frage: Wenn ein Punkt dimensionslos ist und eine Strecke durch einen Punkt in zwei Abschnitte geteilt wird, ist das in Ihren Augen ein Teilen durch Null?

      • @Joker: Der Begriff ´Punkt´ kann in unterschiedlicher Verwendung benutzt werden.
        Wenn man ihn z.B. benutzt um den Schnittpunkt sich kreuzender Linien zu beschreiben (Koordinaten), dann ist die Dimension egal.
        Wenn man ihn aber als wesentlichen Konstruktionsbestandteil benutzt, um damit Linie, Fläche bzw. Körper zu konstruieren – dann weist geht man eindeutig davon aus, dass ein Punkt eine gewisse Ausdehnung besitzt. Und damit ist die Annahme ´nulldimensional´ nicht mehr gültig.

        • @ KRichard

          Der Begriff ´Punkt´ kann in unterschiedlicher Verwendung benutzt werden.

          Ist es möglich, dass Sie selbst den Begriff ‘Punkt’ häufig unterschiedlich verwenden?

          “Gäbe es nämlich unendliche viele Punkte von gleicher positiver Länge, wie kurz auch immer, so wäre die ganze Linie unendlich lang.” (Joe Dramiga)

          Wie gehen Sie in ihrer Theorie mit diesem Problem um, lassen Sie einzelne Punkte unter den Tisch fallen? Wird dort nicht einmal mehr jede rationale Zahl, geschweige denn jede reelle, durch einen Punkt auf einer Geraden repräsentiert, was ist ihr Auswahlkriterium?

          Wenn man ihn aber als wesentlichen Konstruktionsbestandteil benutzt, um damit Linie, Fläche bzw. Körper zu konstruieren – dann [] geht man eindeutig davon aus, dass ein Punkt eine gewisse Ausdehnung besitzt

          Ganz so eindeutig scheint das ja nun nicht zu sein. Joe Dramiga bietet da im Text doch noch einen alternativen Konstruktionsvorschlag an, wie durch eine Schwäche der Mathematik das Wunder bewirkt werden kann.

          Die Schwäche: “Die Summe von überabzählbar vielen Nullen ist ebenso wenig definiert wie die Teilung durch Null.” (Joe Dramiga) Dann definiert er sich ein Maß, wie er es braucht. Das Wunder ist geschehen.

          “Deshalb halten wir an der Idee fest, dass eine endliche Linie aus überabzählbaren unendlich vielen Punkten mit jeweils einer Länge von null besteht.” (Joe Dramiga)

          Null Länge, null Breite, null Ausdehnung, null Dimensionen – ein Punkt.

  3. https://www.quantamagazine.org/20160616-infinity-puzzle/

    Ich bin kein “Mathematiker“, aber das passt doch nun gerade zum Thema ..

    .. “Mind (oder auch brain) games“ .. 😉

    » Is space truly infinite […] or is it in some way “pixelated” at the lowest level? «

    Kann denn der Raum (ausdehnungsmäßig) nicht auch/trotzdem unendlich sein – obwohl er gepixelt (gequantelt) ist?

  4. @Joker: 20-köpfige Hühner mathematisch zu ´beweisen´ – ist ein netter Witz, den man aus der Schulzeit kennt:
    1) kein Huhn hat 19 Köpfe
    2) ein Huhn hat einen Kopf mehr als kein Huhn
    3) daraus folgt: weil kein Huhn 19 Köpfe hat, ein Huhn aber einen Kopf mehr als kein Huhn hat – muss also ein Huhn (19+1 =) 20 Köpfe haben

    Diese argumentative Vorgehensweise ist ähnlich der von Euklid:
    Er geht zunächst vom nulldimensionalen/dimensionslosen (d.h. nicht existierenden) Punkt aus. In der Folge-Argumentation geht er aber sehr wohl davon aus, dass es Punkte gibt und diese eine Dimension haben, denn er setzt sie zu Linien, Flächen und Körper zusammen.

    • “Diese argumentative Vorgehensweise ist ähnlich der von Euklid:
      Er geht zunächst vom nulldimensionalen/dimensionslosen (d.h. nicht existierenden) Punkt aus. In der Folge-Argumentation geht er aber sehr wohl davon aus, dass es Punkte gibt und diese eine Dimension haben, denn er setzt sie zu Linien, Flächen und Körper zusammen.”

      das hatten wir doch früher schon. Hat nichts mit Euklid zu tun. Ansonsten wäre ein Beleg beizubringen.

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