Das Dorian-Gray-Syndrom

In unserer Gesellschaft hat fast jeder Schwierigkeiten, mit dem Älterwerden fertig zu werden. Besonders treffend illustriert das die folgende Passage aus der Geschichte „Eine Frau nach Wunsch“ von Marita Golden:

„Ich habe sie neulich abend gebeten, mir die Haare zu färben. Jedes Mal, wenn ich jetzt in den Spiegel sehe, sehe ich nichts als grau – in meinem Bart, meinem Schnurrbart, meinen Haaren. Sie hat mich gefragt, warum ich sie gefärbt haben wolle. Hat gesagt, sie finde sie wunderschön so. „Als ich so alt war wie Du, fand ich graue Haare auch schön, hab ich zu ihr gesagt. „aber das war auf den Köpfen von anderen Leuten.“ Sie hat gelacht und meine Haare angeschaut, als fände sie sie unwiderstehlich und gesagt: „Ich muss bei den silbernen Strähnen an all das denken, was du schon getan und gesehen hast.“

„Alles, was ich im Spiegel sehe, sind Geschichten, die zu Ende gehen und Dinge, die ich wohl nie mehr tun werde“, sagte ich. „Ich wollte dich, gerade weil Du älter bist als ich“, sagte sie sehr ernst und aufgewühlt. „Weil ich dachte, dass du mir alles beibringen würdest, was du meiner Meinung nach wissen musstest.“ In ihren Augen stand eine stille Bitte. Aber das hielt mich nicht davon ab, ihr zu sagen: „Ich weiß, was ich tu.“ „Du willst dir die Haare färben, weil sie dich an den Tod erinnern.“ „Das ist nicht wahr“, sagte ich beklommen, weil sie mich so durchschaute. „In erster Linie erinnern sie mich daran, wie es ist, hilflos und bedürftig und bemitleidenswert zu sein – wie mein Vater, als er alt wurde. Sie machen mich wütend, wie an dem Tag, als ich mit den Kindern im Park war und sich diese Frau neben mich setzt und damit anfängt, wie süß Tariq und Tameka sind, und dann sagt: „Ich habe auch zwei Enkelkinder.“

Der Mythos vom Jungbrunnen, der die verlorene Jugend zurückbringt, ist Thema eines berühmten Gemäldes von Lucas Cranach dem Älteren (1472-1553). Greisinnen steigen auf der linken Seite in den Jungbrunnen, als junge Frauen, die von Männern erwartet werden, um sich den schönen Dingen des Lebens widmen zu können, kommen sie auf der rechten Seite wieder heraus.

 In der Botox- und Castinggesellschaft ist der Körper Visitenkarte und Styling-Produkt. Eine kulturpessimistische These des 20. Jahrhunderts könnte lauten: Schönheit kann man kaufen. Mehr, man muss sie kaufen. Eine andere: Schön ist, wer jung ist. Kein Wunder also, wenn manche ein Vermögen für die ewige Jugend ausgeben – fatal allerdings, wenn hinter diesem Kaufzwang eine kranke Seele steckt.

Dieser krankhafte Jugendlichkeitswahn wird von dem Psychoanalytiker Burkhard Brosig, seit dem Jahr 2000, Dorian-Gray-Syndrom genannt. Bei dieser psychischen Störung treffen Symptome aus drei Bereichen zusammen.

1. Die eingebildete Hässlichkeit, Mediziner sprechen von Dysmorphophobie. Tag für Tag exzessives Beschäftigen mit dem eigenen Aussehen. Dorian-Gray-Patienten versuchen nicht mehr durch andere Menschen herauszufinden, ob sie attraktiv sind, sondern nur noch mit dem eigenen Spiegel.

2. Die Unfähigkeit, sich mit Reife und dem Altern in angemessener Weise auseinanderzusetzen.

3. Der unkritische Konsum von sogenannten Lifestyle-Medikamenten wie etwa Appetitzüglern, Schlankheitsmitteln, Potenzmittel – nicht um eine Krankheit zu lindern, sondern um eine ästhetische Wirkung zu erzielen.

4. Mehrere schönheitschirurgische Eingriffe

In einer Untersuchung der Universität Leipzig, aus dem Jahr 2005, waren schätzungsweise bis zu 3 % der Bevölkerung zwischen 25 und 40 Jahren von allen diesen Symptomen betroffen. Doppelt so viele Frauen wie Männer. Interessanterweise häufig junge, attraktive Menschen.

Doch diese narzisstische Sucht nach äußerer Perfektionierung ist im Grunde genommen ein Hilfeschrei. Dorian-Gray-Patienten sträuben sich mit aller Kraft dagegen erwachsen zu werden, feste Beziehungen einzugehen und die Probleme zu lösen, die das Leben mit sich bringt. Sie wollen vor allem eins: in kindlicher Verantwortungslosigkeit verharren.

Die Soziologin Nina Degele beschreibt in ihrer Studie „Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln“ ein Phänomen, das man als die gesellschaftliche Ursache des Syndroms bezeichnen könnte:

„Aus dem Projekt des Selbst ist ein Projekt des Körpers geworden (…) Auch das ist ein Erbe der Aufklärung: Weil das Bewusstsein permanenten Wandels ein Teil des modernen Lebensgefühls und der Konstruktion von Identität schlechthin geworden ist, bleibt noch die Vorstellung oder Hoffnung einer körperlichen Kontinuität (etwa als Aufhalten von Alterungsprozessen) als eines der wenigen Stabilitätsrefugien. Gleichzeitig wird Körpererfahrung instrumentalisiert und mit der Aufgabe der Identitätsbildung (als gelingende Lebenspraxis) betrachtet und mitunter auch überfordert.“

Du sollst etwas aus Dir machen aber deinem Typ treu bleiben.

Der Fotograf Phillip Toledano hat sich mit gängigen Schönheitsideale in seiner Fotoserie “A new kind of beauty” auseinander gesetzt. Getreu seinem Motto, dass Fotos wie unvollständige Sätze sein sollten und es immer Platz für Fragen geben sollte, verrät Toledano nicht, welche Eingriffe die Männer und Frauen haben vornehmen lassen. Doch offensichtlich haben sich die meisten mehr als nur einmal unters Messer gelegt.

Zum Namen des Syndroms

Dorian Gray ist eine Romanfigur von Oscar Wilde. Dorian Gray ist ein junger Mann, der seine Seele an den Teufel verkauft hat. Als Gegenleistung geht das Altern mit all seinen Begleiterscheinungen spurlos an ihm vorbei. Doch Dorian Gray hatte von seiner ewigen Jugend nicht viel. Er selbst alterte zwar nicht, aber sein Porträt zeigte alle Stadien des körperlichen Verfalls. Er brachte sich schließlich um. „Das frühe Entzücken an seiner Schönheit macht allmählich einem Abscheu vor dem eigenen Ich Platz“ (Rank 1925 über Dorian Gray, nach Portele 2003).

Weiterführende Links

http://www.dorian-gray-syndrom.org/

Bildnachweis

Autor: Lucas Cranach der Ältere (1472–1553)
Titel: Der Jungbrunnen
Datum :1546
Technik: Öl auf Holz
Ausmaße: 122 × 186,5 cm
Momentaner Standort: Gemäldegalerie Berlin
Herkunft/Fotograf: The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH.
Genehmigung zur Weiternutzung dieser Datei: GNU Free Documentation Licence

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Veröffentlicht von

Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

10 Kommentare

  1. Altern

    Wir alle altern. Deshalb ist es natürlich notwendig, sich mit den Folgen des Alterns auseinanderzusetzen. Heutzutage ist es aber nicht mehr nötig, dabei eine fatalistische Grundhaltung einzunehmen (“ich kann ja eh nix dagegen machen”). Alte Menschen sind heutzutage agiler und aktiver als je zuvor. Ich finde das toll!

  2. 2 Aspekte

    Die Angst vor dem Altern und die, nicht gut genug auszusehen, können, aber müssen nicht miteinander zusammenhängen. Das erklärt, dass sich gerade junge Menschen operativen Eingriffen unterziehen. Mit Dorian Gray hat das wenig zu tun – der wollte ja gerade, dass sich sein Aussehen nicht ändern möge.

  3. Zu trivial und universal

    Die Rede “von der narzistischen Sucht nach äußerer Perfektion” ist mir zu trivial und universal. Es bedarf z. B. einer erheblichen Willensstärke sein Leben zu einer positiven, gesunden oder auch sportiven Lebenseinstellung zu ändern. Leider vollzieht das Nachtragende Äußere diesen Wandel oft nicht gleich mit.

    Warum sollen sich Menschen, denen eine Änderung ihrer Lebenseinstellung nach Jahren des Verfalls oder der Völlerrei gelungen ist, nicht gegönnt werden, ihr Äußeres diesem inneren Wandel durch operative oder (harmlose) medikamentöse medizinische Nachhilfe Ausdruck zu verleihen, damit alle Welt es sehen kann. Das kann solchen Menschen doch nicht schaden, zumal es ihren Neuanfang sichtbar befördern kann.

    Soll auch heißen, pauschale Kritik an schönheitschirurgischen Eingriffen sollte durch psychologische Studien über die Lebenstüchtigkeit der Betroffenen (vorher und nachher) ergänzt und abgesichert werden.

  4. @D Mueller

    Bei Dorian Gray bin ich anderer Meinung. Er wollte nicht altern aber nicht das sich sein Aussehen nicht aendert. Er kann sich ja ruhig die Haare faerben oder die Augenbrauen rasieren – solange er nicht aelter wird. Gerade junge Menschen aendern ihr Aussehen oefter und sind experimentierfreudig.

  5. @Geoman

    Ich glaube, wir reden leider aneinander vorbei. Ein bisschen Eitelkeit gehoert zum Zeitgeist. Es ist auch gut sich koerperlich fit und gesund zu halten. Wenn aber jemand alle, die oben aufgelisteten, Symptome zeigt wird klar, dass es sich bei Dorian-Gray-Patienten um Menschen mit einer schwerwiegenden psychischen Stoerung handelt. Jemand der Uebergewicht hat und ein Diaet macht um abzunehmen wird man wohl kaum als narzisstischen Perfektionisten betrachten.

  6. Elaboriertes Botox-Gequatsche

    @ Joe Dramiga

    Natürlich haben Sie Recht, dass mein Kommentar nicht 100% zu ihrem Blogpost passt, aber genauso daneben und reflexartig finde ich z. B. diesen ewig-abwertenden Rekurs auf die Botox-Gesellschaft.

    Sollen die Leute doch tun, was sie meinen, dass ihnen gut tut, zumal sie es meistens bis immer selbst bezahlen und nicht der Gesellschaft aufhalsen.

  7. Dorian-Gray-Syndrom

    Psychoanalytiker und Psychiater haben’s einfach drauf, neue Krankheiten zu erfinden. Man glaubt ja nicht, was es alles für Syndrome gibt… 😉

  8. Dorian-Grey, Anorexie, Hypochondrie, …

    Sich obsessiv mit sich selber beschäftigen und den Blick von aussen auf sich selber anwenden, das ist wahrscheinlich krankhaft. Kann aber relativ schnell passieren und sich auch in mehreren verschiedenen Krankheitsbildern äussern. Eine obsessive Beschäftigung mit sich selbst gibt es nicht nur beim Dorian-Gray-Syndrom, sondern auch bei der Magersucht (Anorexie) oder der Hypochondrie.

    Dass jeweils neue Krankheitsbilder wie eben das Dorian-Gray-Syndrom geschaffen werden, diese Krankheitsbilder vorwiegend über einen Symptomenkomplex beschrieben werden und es mehr oder weniger dabei bleibt – ausser das tiefendynamisch, freudorientere Psychologen fast beliebige Dinge hineinprojizieren – zeigt für mich, dass es immer noch nicht etwas wie ein wissenschaftliche Psychologie gibt. Eine Psychologie, die Zusammenhänge erforscht und aufdeckt ohne ins Spekulieren und Philosophieren zu geraten.

  9. Das “Dorian-Gray-Syndrom” ist eine Erfindung eines Psychoanalytikers und KEINE anerkannte Krankheit. Wenn man aber weiß, dass Syndrome per Abstimmung in das DSM IV kommen, wird es wohl nicht lange dauern, bis es soweit ist. Und Medikamente werden ja schon vom Erfinder empfohlen. In meinen Augen ist das eine Psychiatrisierung der Gesellschaft, bedenkt man, dass schon das Benutzen von Haarwuchsmittel UND eine Nasenkorrektur den Bestand dieser “Krankheit” nachweisen (sollen). Prima, wieder ein Syndrom, mit dem man Ruhm und Geld verdienen kann. Dass das Ganze mithilfe einer Dissertation einer Lehrerin(!) auf Schulkinder ausgeweitet wurde, macht mir Angst vor so viel Blauäugigkeit.
    Übrigens geht es bei Dorian Gray nicht nur um Jugend und Schönheit. Nein, es geht um den Schatten. Alle bösen Taten spiegeln sich nur im Bildnis. Er kann sich also benehmen wie ein Schwein, ohne dass es Wirkung in seinem Gesicht zeigt. Insofern finde ich sogar den Namen dieses Syndroms noch marktschreierisch!

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