Das Cotard-Syndrom als Nebenwirkung von Valaciclovir
Krankenhausserien müssen nicht nur herzergreifend und spannend – sie müssen auch medizinisch korrekt sein. Drehbuchautoren und Ärztliche Berater von Krankenhausserien holen sich, daher auch Ideen aus medizinischen Fachartikeln. Eine solche Idee wurde in der Folge “Der Mann ohne Organe” aus der Serie “Klinik am Südring“, die auf SAT.1 läuft, umgesetzt.
Rettungssanitäter bringen einen 56-jährigen Mann in die Notaufnahme. Er war im Schlafanzug auf der Autobahn herumgeirrt und angefahren worden. Der Patient ist völlig verwirrt und erzählt dem Arzt, dass er tot sei und keine Organe mehr habe, weil sie ihm nach seinem Tod herausgenommen wurden.
Sofort klingelte es in meinem neurowissenschaftlichen Hinterstübchen: das Cotard-Syndrom.
Das Cotard-Syndrom
Im Jahr 1880 beschrieb der Neurologe Jules Cotard einen Fall von “Deliren hypochondrieque” bei einer Frau mittleren Alters, die die Existenz ihres Gehirns, ihrer Nerven und ihrer Brust verneinte und sich selbst als aus Haut und Knochen bestehend ansah. Sie verneinte auch die Existenz von Gott und Teufel. Wenige Jahre später führte Cotard den Begriff “Delire des negation” für Patienten ein, die eine psychotische negierende Wahrnehmung haben. Das umfasst die Verleugnung der Existenz verschiedener Organe des Körpers oder Verleugnung des am Leben-Seins, dazugehört aber auch die Verneinung von Geist oder Kosmos. Der Begriff Cotard-Syndrom wurde zuerst von Emil Regis benutzt und später von anderen Psychiatern übernommen, um Patienten mit ähnlichen negierenden Wahrnehmungsstörungen zu beschreiben.
Cotard betrachtete diese Fälle als psychotische Depressionen. In einer Literaturübersicht [1] analysierten Berrios und Luque 100 Fälle des Cotard-Syndroms und stellten fest, dass die meisten Patienten das Cotard-Syndrom im Verlauf einer Depression entwickelten.
Der Patient hatte einen erhöhten Blutzuckerwert jedoch keine Depression und erschien am Vortag, laut Aussage der Tochter, psychisch normal. Verletzungen oder Entzündungen des Gehirns, Epilepsie, Migräne, Hirntumore oder Erkrankungen der Blutgefäße im Gehirn können ebenso das Cotard-Syndrom auslösen.
Vielleicht hatte der Unfall das Gehirn verletzt und so das Cotard-Syndrom ausgelöst?
Keine Auffälligkeiten in der Computertomografie des Gehirns
Der Arzt fand in der Computertomografie (CT) des Gehirns aber nichts Krankhaftes. Natürlich war es möglich, dass er etwas übersehen hatte: Kleine Metastasen und Tumore sind in der CT oftmals leicht zu übersehen bzw. können nicht hinreichend sicher von normalen Gewebestrukturen unterschieden werden. Deshalb wird je nach Krankheitsverdacht manchmal ergänzend eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET) gemacht.
Schließlich fand der Arzt heraus, dass die Ursache für das Cotard-Syndrom, das Medikament der Ehefrau war, das der Patient versehentlich eingenommen hatte.
An diesem Punkt wurde ich skeptisch. Welche Medikamente können als Nebenwirkung das Cotard-Syndrom auslösen? Vielleicht ein Medikament, das eine Entzündung oder Blutung im Gehirn auslösen kann – aber bei welcher Dosis und über welchen Zeitraum?
Das Virostatikum Valaciclovir
Die Frau des Patienten hatte Gürtelrose1 und nahm deshalb ein Virostatikum ein. Tatsächlich fand ich in der medizinischen Fachliteratur zwei Fallstudien, in denen ein Virostatikum gegen Herpesviren das Cotard-Syndrom auslöste:
Das Virostatikum Valaciclovir, ein DNA-Polymerase-Inhibitor, hat bei einer Frau mit Gürtelrose und einer chronischen Nierenkrankheit das Cotard-Syndrom ausgelöst [2] ebenso bei einem Mann mit einer Herpesvirusinfektion des Schleimhautepithels (Mukosa) und eingeschränkter Nierenfunktion [2]. Bei beiden Patienten war die Leber gesund.
Noch glaubhafter wäre die Geschichte also gewesen, hätte der Mann neben dem erhöhten Blutzuckerwert schon eine diabetische Nephropathie gehabt. Bei dauerhaft hohem Blutzucker werden im Laufe der Zeit die kleinen Blutgefäße in der Niere, die das Blut filtern, geschädigt. Als Folge tritt das Protein Albumin aus dem Blut in den Urin über2. Vor allem bei Patienten mit einer Kombination von Diabetes und Bluthochdruck sind die Risiken für eine solche Nierenschädigung hoch.
Fußnoten
1. Die Gürtelrose ist die Zweiterkrankung nach einer Windpockenvirusinfektion. Das Windpockenvirus (Varicella-Zoster-Virus) gehört zur Familie der Herpesviren. Herpesviren haben die Fähigkeit, im von ihnen infizierten Organismus lebenslang zu überdauern. Eine Gürtelrose kann noch Jahre nach der Ansteckung mit dem Virus auftreten. Bei der Gürtelrose nistet sich das Virus in den Hirnnerven und in den Nervenwurzeln des Rückenmarks (Spinal- und Hirnnervengang) ein. Beginnen sich die Viren erneut zu vermehren, wandern sie den Nerv entlang nach außen in die Haut. Im Versorgungsgebiet des Nerven, in den sich die Viren zurückgezogen hatten, tritt dann die Gürtelrose auf. Während bei Windpocken der gesamte Körper befallen ist, bilden sich die Symptome der Gürtelrose nur in dem Hautgebiet aus, das vom jeweils betroffenen Hirn- oder Rückenmarksnerv versorgt wird.
2. Dieser Übertritt von Albumin in den Urin tritt schon lange vor dem Entstehen von ernsthafteren Schäden auf und sollte jährlich bei allen Diabetikern mit einem Urintest überprüft werden. Der Albuminverlust kann nach verbesserter Blutdruck- und Diabeteseinstellung wieder verschwinden.
Weiterführende Literatur
Cotard-Syndrom: Haley (17) hielt sich drei Jahre lang für tot