Besuch des Archivs einer Gelehrtenbibliothek
BLOG: Die Sankore Schriften
Nun ging mir plötzlich auf, dass die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, dass es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander. Und im Licht dieser neuen Erkenntnis erschien mir die Bibliothek noch unheimlicher. War sie womöglich der Ort eines langen und säkularen Gewispers, eines unhörbaren Dialogs zwischen Pergament und Pergament? Also etwas Lebendiges, ein Raum voller Kräfte, die durch keinen menschlichen Geists gezähmt werden können, ein Schatzhaus voller Geheimnisse, die aus zahllosen Hirnen entsprungen sind und weiterleben nach dem Tod ihrer Erzeuger? Oder diese fortdauern lassen in sich?
Adson von Melk in Der Name der Rose, S. 181.
Wolfgang Burgmair (46) öffnet langsam die Glasschiebetür und zieht vorsichtig ein kleines Buch aus dem Regal. Sein matter, dunkelbrauner Einband bildet einen starken Kontrast zum hellen Weiß des Regals. Bedächtig schlägt er zwei Seiten des ersten Kapitels auf und mustert mit strengem Blick das Papier. Die in Frakturschrift verfassten Zeilen lassen das Alter des Buches bereits ahnen. „Das ist eines unserer ältesten Sammelstücke, von 1526, ein Buch über die Arbeiten des Paracelsus“ erläutert der Archivar mit seiner warmen freundlichen Stimme „Es ist für Laien geschrieben.“
Die Heinrich-Laehr-Stiftungsbibliothek im historischen Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie beherbergt vieler solcher Schätze aus dem privaten Nachlass eines der bekanntesten deutschen Psychiaters des 19. Jahrhunderts: Heinrich Laehr, geboren am 10. März 1820 in Sagan, studierte Medizin in Halle und Berlin. 1848 begann er seine Ausbildung zum Psychiater und kam 1852 nach Zehlendorf. Dort kaufte er Ländereien auf dem Schönower Gebiet und gründete die Nervenheilanstalt Schweizerhof, eine private Heilanstalt für psychisch kranke Frauen.
Nach dem ersten Weltkrieg kam die unvollständige Sammlung nach München, erstmal in den Besitz der bayrischen Staatsbibliothek später in den der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, dem Vorgänger des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. Der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen: Laehrs Familie hatte einige Bücher versteigert, andere waren bei der Lagerung in Zehlendorf beschädigt worden „Nun war die wichtigste Aufgabe erstmal die Bestandserhaltung und die Restaurierung dieser Gelehrtenbibliothek.“ so Burgmair. „Das umfasst die richtige Aufbewahrung und die richtige Behandlung. Das Papier einer bestimmten Herstellungweise zum Beispiel Holzschliff oder alaungefällte Harzleimung wird brüchig. Solches Papier bricht, wenn man es kräftig anfasst, unter Umständen schon beim Umblättern in einem gebundenem Buch.“ Der Historiker hat sich in seiner dreijährigen Ausbildung zum Archivar das notwendige Spezialwissen angeeignet und weiß um die Schwierigkeiten der Bestandserhaltung. Seit fünf Jahren wird in dem Archiv, nach den Vorgaben des Instituts für Restaurierung an der bayrischen Staatsbibliothek, mit großer Sorgfalt daran gearbeitet den Nachlass Laehrs zu erhalten.
Das Archiv befindet sich im Keller des Instituts und sieht gar nicht so aus wie ich es mir vorstellte. Der neu eingerichtete, helle Raum hat Fenster, weiße Wände und ist angenehm warm. Im Sommer wird, um einer Schimmelbildung vorzubeugen, eine Entfeuchtungsanlage eingeschaltet. „Besonders Leder ist da sehr gefährdet“, erläutert Burgmair. Die Sammlung enthält Bücher mit Einbänden aus verschiedenen Materialien: Großfoliobände mit lederüberzogenem Holzdeckeleinband, Pergament-und Franzeneinbände, dünne Dissertationsheftchen ohne Einband bis hin zu unaufgeschnittenen Druckbögen. „Bei geschädigten Einbänden helfen wir uns mit Jurismappen bzw. maßgeschneiderten oder normierten Schutzhüllen. Manche Bände werden auch in Elefantenpapier eingeschlagen, um den Einband zu fixieren.“
1857 übernahm Laehr die Hauptredaktion der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und war durch seine Arbeit bereits international bekannt. Er war 1860 Mitbegründer und Vorsitzender des psychiatrischen Vereins in Berlin. Begleitend zu seinem Engagement in psychiatrischen Fachverbänden sorgte sich Laehr um die Eingliederung psychisch Kanker in die Gesellschaft und war 1872 Mitbegründer des Hilfsvereins für entlassene Geisteskranke der Provinz Brandenburg. Im gleichen Jahr veröffentlichte er sein Buch „Über Irrsein und Irrenanstalten. Für Ärzte und Laien. Nebst einer Uebersicht über Deutschlands Irrwesen und Irrenanstalten, erläutert durch eine colorirte Karte“.
Laehrs Privatbibliothek umfasst circa 3500 Bücher, eine Menge Material, das gesichtet und geordnet werden muss. Keine einfache Aufgabe: „Es gibt Leute, die schütten Dir einfach alles auf den Tisch und sagen: Jetzt mach mal!“ erzählt Burgmair im ernsten Tonfall. Er arbeitet seit 1992 für das Archiv und hat so seine Erfahrungen gemacht. „Jedes Buch muss erstmal gelesen werden und danach geht man daran sich eine inhaltliche Struktur zu überlegen, die für den Nutzer nachvollziehbar ist. Das ist die Grundlage jedes Archivs und nur so kann es seinen Aufgaben nachkommen.“ Ich spüre Burgmairs Begeisterung für den Beruf. Das Archiv in München-Schwabing ist seit 1991 Außenstelle des Archivs der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem und unterstützt seine Besucher darin Wissenschaftsgeschichte zu erforschen. Es stellt Dokumente und Auskünfte für fremde Wissenschaftler bereit und arbeitet intern als Gedächtnis der Max-Planck-Gesellschaft. Es berät den Präsidenten, die Generalverwaltung und vor allem die Institute im Umgang mit ihrer Geschichte. Es forscht selber vorzugsweise in der Personen- und Institutsgeschichte der Kaiser-Wilhelm- und Max-Planck-Gesellschaft.
„Es gibt X-Geschichten“ sagt Burgmair und weist aus aktuellem Anlass auf eine wissenschaftliche Randnotiz hin, von der die Meisten gar nicht wissen. Emil Kraepelin, der Gründer der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie, führte den Begriff Amoklauf in den deutschen Sprachgebrauch ein. Kraepelin war zu einem Forschungsaufenthalt in Java, Indonesien gewesen und hatte dort aus dem Indonesischen den Begriff Amok übernommen. Er bezeichnet einen Rauschzustand in dem der Betroffene in vermeintlich blinder Wut den Feind angreift und wahllos, ohne jede Rücksicht auf Gefahren versucht, ihn sowie alle im Weg stehenden Personen zu töten.
1891 wurde Laehr in Berlin Professor und gab 1900 drei Bände mit dem Titel “Die Literatur der Psychiatrie, Neurologie und Psychologie von 1459-1799“ heraus. Nachdem er aus dem Berufsleben ausschied, sein ältester Sohn hatte inzwischen die Leitung des Schweizer Hofs übernommen, sammelte Laehr weiter fleißig Fachliteratur. „Selten hat ein Mann im Greisenalter so geschafft und gearbeitet, kaum wohl je einer bis in die Patriarchenjahre hinein mit solcher Antheilnahme an seiner Wissenschaft gehangen. Die Liebe zur Psychiatrie und die Förderung ihrer Entwickelung nach jeder Richtung erfüllte in der That sein ganzes Leben“, so sein langjähriger Freund und Kollege Karl Moell.
Dank Laehr ist das Archiv heute im Besitz einer kostbaren Rarität. Es gibt in Deutschland nur wenige wissenschaftshistorische Sammlungen, die sich auf einen bestimmten Fachbereich konzentrieren. Beim Studium der Quellen wird Burgmair vor allem eines bewusst: „Früher war das Buch auch Arbeitsmittel nicht nur Wissensspeicher. Davon zeugen die breiten Buchränder, die nicht selten die handschriftlichen Anmerkungen der Buchbesitzer enthalten.“ Diese Kommentare können von großer wissenschaftlicher Bedeutung sein. Ich denke dabei z.B. an die Fermatsche Vermutung: 1637 schrieb Fermat bei der Lektüre der Arithmetica von Diophantos neben den Satz des Pythagoras folgende Zeilen als Randbemerkung in sein Exemplar des Buches:
“Es ist unmöglich, einen Kubus in zwei Kuben zu teilen oder ein Biquadrat in zwei Biquadrate oder irgendeine Potenz in zwei Potenzen gleichen Grades: Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, aber der Rand ist zu klein, ihn zu fassen.”
Die Fermatsche Vermutung entwickelte sich zum Albtraum für viele Mathematiker. Jahrhundertelang konnte sie niemand beweisen oder widerlegen. Weil aber gerade Fermat selbst die Ansicht vertreten hatte, dass er einen wunderbaren Beweis gefunden habe, versuchten sich Generationen von Mathematikern, darunter auch die bedeutendsten ihrer Zeit, an dem Beweis. Erst 1994 gelang dem Mathematiker Andrew Wiles der Beweis.
Nachdenklich schließt Burgmair das Buch über die Arbeiten des Paracelsus und stellt es vorsichtig an seinen Platz zurück. Lautlos gleitet die Glasscheibe in der Metallschiene und verschließt die wertvollen Schriften. Das digitale Zeitaler hat auch vor dem Archivwesen nicht Halt gemacht, dennoch hat die Welt der Bücher nichts von ihrem Reiz verloren. Wer denkt da nicht an Rilkes Gedicht Der Leser „welcher sein Gesicht wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, das nur das schnelle Wenden voller Seiten manchmal gewaltsam unterbricht…“, der „mühsam aufsah: alles auf sich hebend, was unten in dem Buche sich verhielt, mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend anstießen an die fertig-volle Welt..“
Anmerkung: Dieser Blogartikel bezieht sich auf meinen Besuch der Heinrich-Laehr-Stiftungsbibliothek im Frühjahr 2009.
Bildnachweis
Fotograf: Andrew Dunn
Datum: 5 November 2004.
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Quelle: Wikimedia Commons