Zweierlei Unvorstellbares

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Als ich neulich einem Theologen gegenüber den Titel meines Buches erwähnte, sagte er: "Wieso müssen Sie denn noch das Unvorstellbare entdecken? Kennen wir nicht schon viel Unvorstellbares im Rahmen unseres Glaubens?"

In der Tat gibt es in allen Religionen viele Aussagen, die den Erfahrungen der Menschen gänzlich fremd sind, z.B. die Auferstehung von den Toten oder das erlöste Leben in einem himmlischen Jenseits, um nur die wichtigsten Versprechen der Religionen zu nennen. Aber nicht nur in den Religionen findet man "Unvorstellbares", die Fantasie hat die Menschen schon immer dazu geführt, in ihren Vorstellungen über die Grenzen des Üblichen hinaus zu gehen – in den Sagen, in Literatur, in Filmen und heutzutage auch in Computerspielen.

Was ist nun der Unterschied zu dem "Unvorstellbaren", das in meinem Buch gemeint ist? Es sind zwei Punkte, die hier wesentlich sind und dem Unvorstellbaren, das sich durch die moderne Physik aufgedrängt hat, einen ganz anderen Rang gibt.

Zum Ersten: Religionen knüpfen immer an die Begriffe an, die zu der Zeit ihrer Entstehung den Menschen, aber auch sonst bestens bekannt sind. Es geht um Tod und Leid, um Ohnmacht, um Mangel an Anerkennung und Liebe – und immer um die Überwindung solcher bedrückenden Erfahrungen. Natürlich muss es immer um die elementarsten Erfahrungen des Menschen gehen, wie sonst würde man die Menschen mit der Botschaft erreichen und Anhänger finden. Zum Zweiten: Diese Überwindung wird verkündet. Eine Überprüfung ist nicht möglich, für den Glaubenden auch nicht nötig.

Das "Unvorstellbare" in der Physik bedeutet etwas ganz anderes. Es bezieht sich zum Ersten auf ganz neue Begriffe, die – zum Zweiten – nicht einfach verkündet werden sondern sich erst im Rahmen mathematisch formulierter Theorien und experimenteller Überprüfungen aufgedrängt haben.

Es geht also z.B. um den Begriff Quant, nicht etwa um bisher nicht erfahrene Eigenschaften bekannter Objekte oder Phänomene. Die Lehre, die wir aus der Entwicklung der Physik ziehen müssen, ist ja gerade, dass es einen Teil der Welt gibt, den wir mit unseren durch Erfahrungen geprägten Vorstellungen allein nicht erfassen können. Dieser Teil der Welt wird ja von den Religionen gar nicht gesehen. (Und sie müssten diesen Teil eigentlich auch gar nicht berücksichtigen, wenn es ihnen wirklich nur um die Frage nach einem "guten" menschlichem Leben ginge.)

Ich bin dankbar für diese Frage des Theologen, denn sie führt genau in das Zentrum dessen, was ich mit dem Buch sagen will: Wir sollen nicht glauben, wir könnten die Welt im Rahmen unserer gängigen alltäglichen Vorstellungen verstehen.

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Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

10 Kommentare

  1. Geht es ohne Vorstellung ?

    ” Wir sollen nicht glauben, wir könnten die Welt im Rahmen unserer gängigen alltäglichen Vorstellungen verstehen.”

    Kann man denn die klassische Physik (z.B. die Mechanik ) mit den gängigen alltäglichen Vorstellungen verstehen?. Die meisten würden zustimmen. Doch vor Newton waren viele Falschvorstellungen weit verbreitet, beispielsweise die Meinung, für eine schnellere Bewegung benötige es mehr Kraft (vielleicht abgeleitet aus der Alltagserfahrung, dass man für eine schnellere Fahrt mit der Kutsche mehr Pferde vorspannnen muss).

    Durch die klassische Mechanik haben sich also auch unsere gängigen alltäglichen Vorstellungen geändert.

    Es mag sein, dass spätestens quantenmechanische Phänomene sich einer intuitiven Annäherung verweigern, mindestens der Inituition, über die ein Durchschnittsmensch verfügt.

    Andererseits bleibt etwas, was sich einer Vorstellung entzieht, im Raume stehen wie ein Piano auf der Treppe.

  2. Grenzerfahrung der anderen Art

    Was mich unter anderem an den Naturwissenschaften reizt, ist, dass sie einen doch ziemlich verlässlichen Führer in den Mikro- und Makrokosmos abgeben. Unsere Anschauung, geschult an Kilogramm, Meter und Sekunde, versagt, wenn es um Lichtjahre oder Nanometer geht. Trotzdem können wir sinnvolle Aussagen machen. Das finde ich spannend und es ist in der Tat so, wie Sie schreiben: “Dieser Teil der Welt wird ja von den Religionen gar nicht gesehen.”

  3. @ Stefan Taube

    Die Faszination für die Naturwissenschaft teilen wir. Allerdings bin ich doch etwas skeptisch im Hinblick auf deren “Führerqualität”. Denn aus der Naturwissenschaft alleine lässt sich ja gerade nicht schließen, ob das Leben Sinn hat, ob Menschen lieben, die Natur schützen, Familienleben pflegen (etc. pp.) oder umgekehrt Egoismus, Ressourcenverbrauch und dürren Hedonismus (etc. pp.) pflegen sollen. Dafür braucht es dann doch Erfahrungen, Vorbilder, Literatur, Philosophien, Religionen und so vieles mehr (und für jeden Menschen auch anderes). Wir können die Evolution der Musik und Bachs Werke nach allen Regeln der Kunst empirisch analysieren (und sollten das auch tun). Ob wir sie aber auch hören und erfassen, reicht aber m.E. darüber hinaus.

  4. @Michael Blume

    Die Naturwissenschaft als Führer, bezog sich auf meinen Halbsatz “Führer in den Mikro- und Makrokosmos” oder um es mit dem Vorwort eines amerikanischen Astronomielehrbuchs zu sagen: “Astronomy is a way to let our intellect voyage across the cosmos”.

    Die Naturwissenschaft eröffnet uns Bereiche des Mikro- und Makrokosmos, von denen wir ohne Naturwissenschaft gar nichts wüssten. Hier brauch man die Führerqualitäten der Naturwissenschaft nicht prinzipiell anzuzweifeln. Wir haben nichts Besseres, sie ist konkurrenzlos und nur so habe ich das mit dem Führer gemeint. Das von Dir aufgemachte Fass mit der Sinnstiftung, etc.pp. habe ich gar nicht intendiert. Das nur zur Klarstellung.

  5. Hören und erfassen von Musik – insbesondere klassischer Musik – setzt sehr viel Wissen und Analyse voraus. Die besondere Wertschätzung von z. B. Bach benötigt ein Verständnis der Musik und der Komposition, mithin eine Analyse. Jemand der dazu in der Lage ist erlebt die Musik anders – intensiver.
    Das lässt sich mit Sprachen vergleichen. Eine Fremdsprache, die man nicht versteht, nimmt man nur akustisch war. Doch eine Sprache, die man versteht, gibt einem weit mehr als pure Akustik, das Hören hat hier eine ganz andere Qualität.
    Das ist ein Punkt, der mich bei vielen religiösen Menschen verstört: Die Behauptung, Wissen sei ein Feind des Erlebens. Dabei ermöglicht oft genug Wissen erst die Qualität des Erlebens.

  6. Viele Religiöse behaupten, Wissen sei der Feind des Erlebens?????? Das ist nicht wunderbar, das ist Quatsch. Welcher Religiöse hätte so einen Quatsch jemals behauptet? Er wird sich auch hüten, denn das stärkste Element seines Glaubens ist die Gewißheit.

  7. Ich denke, weder die Religionen noch die Wissenschaften dürfen es sich anmaßen zu behaupten, die Welt (ihre Entstehung, Gesetzmäßigkeiten, Zusammenhänge) vollständig beschreiben zu können. Die Vermutung, dass Verstand und Gefühl (die Vorstellungskraft fördernd) erst in ihrer Kombination ein fruchtbares Weltbild liefern ist nicht neu. Dabei geht es vor allem um die Beschaulichkeit der Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten. Selbstverständlich können wir Wissen erleben, aber nur und gerade wenn wir unsere Fantasie befreien und uns zeitweise von gängigen Vorstellungen und einer allzu mechanischen Betrachtung lösen. Unvorstellbar ist zunächst nur das Neue, an dessen Vorstellung man sich noch nicht gewöhnt hat und vielleicht auch nie gewöhnen wird, weil es mit bestehenden Ansichten und Modellen nicht vereinbar ist und vielleicht nie sein wird. Dies scheint sowohl für Religionen als auch für Wissenschaft zu gelten.

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