Was kann ein Philosoph zu einer Fachwissenschaft beitragen?

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Vor kurzem fiel mir ein Buch mit dem Titel "Neurowissenschaft und Philosophie" in die Hände. Ich fühlte mich gleich an das Buch "Physik und Philosophie" von Werner Heisenberg erinnert und erwartete nun Reflektionen eines Neurowissenschaftlers über Begriffe und Grundannahmen, die in der aktuellen Forschung heute eine Rolle spielen. Aber weit gefehlt: Es handelte sich um die Dokumentation eines Streitgesprächs dreier Philosophen und eines Neurowissenschaftlers auf einer Tagung der American Philosophical Association im Jahre 2005, eingerahmt von einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung eines weiteren Philosophen.

Im Mittelpunkt dieses Streitgespräches stand die These des Neurowissenschaftlers Maxwell Bennett und des Philosophen Peter Hacker, dass die gesamte Neurowissenschaft unter begrifflichen Irrtümern und Verwirrungen leidet. Ausgelöst worden war diese Kontroverse von Maxwell Bennett, der als ausgebildeter Elektrotechniker in das Gebiet der Neurobiologie kam, dort aber mit der Zeit wohl das Gefühl bekam, dass es in dieser Wissenschaft nicht so richtig voran ging. Er vermutete, dass dieses an falschen Vorstellungen und Begriffen liegen könnte. So wandte er sich, "um sich bei der Begriffsklärung helfen zu lassen" an jene Wissenschaftler, die "von Berufs wegen zur Beschäftigung mit solchen Fragen ausgebildet sind", an Philosophen. In Peter Hacker fand er einen solchen; nach intensiven Dialogen hat er dann zusammen mit ihm ein Buch über "philosophische Grundlagen der Neurowissenschaft" geschrieben, in dem sie die Meinungen bedeutender Neurowissenschaftler kritisch analysieren, Meinungen, die dazu geführt hätten, "dass die Neurowissenschaftler in ihren gegenwärtigen Schwierigkeiten stecken" würden. Die wichtigsten Thesen dieses Buches haben in dem Streitgespräch zur Debatte gestanden.

Ein Grundübel sehen Bennett und Hacker darin, dass die Neurowissenschaftler dem Gehirn immer wieder psychologische Eigenschaften zuschreiben. Sie betonen, dass man die Fähigkeiten von Menschen wie Denken, Wahrnehmen und Fühlen nicht als Fähigkeiten eines Teils des Menschen, nämlich des Gehirns, ansehen darf. Die Redeweise der Neurowissenschaftler, dass das Gehirn des Menschen denkt, fühlt oder etwas erinnert, sei ein so genannter mereologischer Fehlschluss, bei dem man Eigenschaften eines Ganzen einem seiner Teile zuschreibt. Nur vom ganzen Menschen, von einer Person könne man sagen, er sei nachdenklich, traurig oder erinnere sich an etwas bestimmtes.

Als Kritiker dieser Analyse von Bennett und Hacker kamen auf der Tagung die Philosophen Daniel Dennett und John Searle zu Wort. In dem Buch sind ihre Gegenargumente ausführlich dargestellt (Nur am Rande: Hier sieht man wieder, insbesondere bei den Ausführungen von Dennett, wie schnell unter Philosophen der Streit auf eine persönliche Ebene übergreift. Da philosophische Positionen viel stärker mit der eigenen Person verknüpft sind als Stellungnahmen zu sachlichen Problemen, ist das allerdings auch nicht verwunderlich.) Ich verstehe deren Gegenargumente sehr gut und stimme ihnen im wesentlichen zu. Aber als Physiker berührt mich an der Diskussion zunächst etwas ganz anderes.

Wie kann man glauben, ein Philosoph könne einem bei seiner Forschung in einer Naturwissenschaft weiter helfen? Bei allem Respekt vor manchen Philosophen – ich halte eine solche Vorstellung für ziemlich naiv, wenn nicht gerade der Philosoph sich schon seit langem in das Gebiet eingearbeitet hat und durch enge Zusammenarbeit über viele Jahre mit verschiedenen Fachwissenschaftlern mit Sprache, Denkweisen und Methoden des Faches vertraut ist. Ich kenne auch keinen Fall in der Geschichte der Physik, in dem ein Physiker auf eine solche Idee gekommen ist. Bei der Entwicklung der Physik gab es fürwahr genügend begriffliche Schwierigkeiten. Die Lösung sah hinterher immer so aus, dass man als außenstehender, auch noch so klar denkender Mensch darauf wohl nie gekommen wäre; unsere menschliche Phantasie reicht ja in der Regel nicht aus, um ohne Befragung der Natur etwas über sie zu lernen.

Außerdem hat jede Begriffsklärung nur vorläufigen Charakter, ja, selbst mit ungenügend verstandenen Begriffen kann man mitunter hervorragend arbeiten und Fortschritte erzielen. So war der Begriff der Gravitationskraft von Anfang an für alle nachdenklichen Menschen ein Ärgernis, dennoch wurde er der Schlüssel zu einem beispiellosen Aufschwung der Naturwissenschaft. Frieden schließen mit diesem Begriff konnte man aber eigentlich erst mit der Allgemeinen Relativitätstheorie etwa 250 Jahre später nach Newton, und wer diese Theorie kennt, käme auch nie auf die Idee, dass man ihre Grundprinzipien allein "vom Lehnstuhl aus" entwickeln könnte. Die neue Sicht auf die Begriffe von Raum und Zeit durch die Relativitätstheorien und gar die begrifflichen Schwierigkeiten und Zumutungen, die sich bei der Entwicklung der Quantenmechanik ergaben, alles das konnte nur von Fachphysikern bewältigt werden. Sie mussten immer "selbst groß sein", d.h. die Philosophie ihres Faches, die Entwicklung und Schärfung ihrer Begriffe selbst in die Hand nehmen.  Und selbst wenn man auf dem Gebiet der Quantenphysik manchmal auch heute noch von ausgewachsenen Physikern irrtümliche Redewendungen hört, leidet die konkrete Forschung nicht darunter. Wer wirklich die Natur ernsthaft befragt, wird auch von ihr geleitet und gezwungen, mit seinen Vorstellungen "ins Reine" zu kommen.

An solchen Beispielen aus der Physik kann man also studieren, dass begriffliche Fragen nicht "vor allen Überlegungen über Wahrheit und Falschheit" kommen, wie Bennett und Hacker behaupten, sondern dass die Begriffe stets eine Entwicklung durchmachen, immer weiter verfeinert werden und durch Hinterfragungen und weiteren Befragungen der Natur immer tiefgründiger werden. Das gilt nicht nur für neue Begriffe wie z.B. die Entropie, die erst durch den Druck der Fakten geboren werden. Viele Begriffe werden auch erst der Alltagssprache entnommen und gewinnen dann eine viel präzisere Bedeutung in einer Fachwissenschaft. Und eine solche langsame Transformation eines Begriffes in einen Fachbegriff mit einem ganz anderen, aber präziseren Hintergrund nahm man stets gelassen hin, in der Fachwelt wie in der Alltagswelt. Gab es etwa Widerspruch von philosophischer Seite, als man anfing, Begriffe wie Kraft oder Energie oder gar Chaos in einem physikalischen Kontext zu gebrauchen?  Hinter diesem Glauben, man müsse sich für die begrifflichen Fragen seines Faches einen "Fachmann für Begriffe" halten, steckt somit das tiefe Missverständnis, dass sich die fachlichen und begrifflichen Fragen gut trennen ließen und dass Fragen, die sich auf die Natur beziehen, ohne Vertrautheit mit ihr zu entscheiden seien. An diesem Missverständnis sind früher alle Naturphilosophen gescheitert, ernst zu nehmende Naturphilosophen sind heute philosophierende Naturwissenschaftler. Logik ist notwendig, aber in keiner Weise hinreichend.

Die Einleitung in dem Buch, bei der wahrscheinlich der Philosoph Peter Hacker die Feder geführt hat, ist ein Musterbeispiel dafür, wie fremd manchen Philosophen die Praxis und Geschichte einer Naturwissenschaft ist, wie schrecklich naiv diese sind in ihrem Glauben, eine Schulung und Erfahrung in Überlegungen zu begrifflichen Beziehungen sei genügend, um etwas in einer Naturwissenschaft beizutragen, solch ein Beitrag sei sogar eine der ersten Aufgaben. Natürlich hat es in der Geschichte jeder Wissenschaft Theorien und Begriffe gegeben, die sich irgendwann als unzureichend oder schlicht unsinnig erwiesen. Wissenschaft entwickelt sich in einem Evolutionsprozess und es gibt eben keine Evolution ohne Verlierer oder Versager. Das Überleben oder Nicht-Überleben einer Theorie oder eines Begriffes wird aber durch die Übereinstimmung mit den Fakten bestimmt, nicht durch rein begriffliche Überlegungen. Die Quantenmechanik ist ein gutes Beispiel dafür. Die Vorstellung, man könne eine Wissenschaft ohne Irrwege betrieben, indem man zuerst immer begriffliche Klarheit herstellt, ist absurd. Dann bleibt man eben immer den üblichen Gedankengängen verhaftet und wird nie auf etwas Neues gestoßen. Fakten treiben die Begriffe, nicht umgekehrt. Das ist der alte Gegensatz: Descartes oder Galilei, Athen oder Alexandria, Naturphilosophie oder Naturwissenschaft. Die Geschichte hat eindeutig genug gezeigt, welche Methode fruchtbarer ist.

Bennett und Hacker wehren sich dagegen, dass man gut bekannte Begriffe aus Philosophie und Psychologie in die Hirnforschung überträgt und versucht, hirnphysiologische Korrelate dazu zu finden. Das mag mitunter weit daneben gehen, aber das Ziel ist genau das, was man in der Physik seit längerer Zeit erfolgreich verfolgt: Die Präzisierung von Vorwissen durch Bezugnahme auf Prozesse in der Natur, die es zu verstehen gilt. Bennett und Hacker haben dagegen nichts anderes im Sinne, als immer wieder darauf hinzuweisen, dass es immer nur die Person, der ganze Mensch ist, dessen Tätigkeit man mit diesen Begriffen beschreiben kann. Dabei bleibt völlig im unklaren, wie sie mit diesem verschwommenen Begriff einer "Person" auf diesem Gebiet weiter kommen wollen und worin denn nun der Schaden für die Neurowissenschaft wirklich liegt, wenn man – zugebenerweise etwas großzügig – lediglich dem Gehirn einer Person diese Fähigkeiten zuschreibt; dort passieren die entsprechenden Prozesse ja schließlich. Mögen sie einige Unarten in der Redeweise der Neurowissenschaftler zu recht kritisieren, bei ihrem Vorschlag zur Korrektur laufen sie nur weiter ins Dickicht der dunklen Wörter, ersetzen ein konkretes Organ, das sich untersuchen lässt, durch einen schillernden Begriff. Erstaunlich, dass jemand wie Bennett, der zwar als Techniker begonnen hat, aber immerhin schon lange in einer Naturwissenschaft arbeitet, das nicht merkt.

Ich will hier nicht leugnen, dass es in vielen populärwissenschaftlichen Reden und Texten über Erkenntnisse der Physik viel Begriffsschlamperei und Verwirrung gibt, möchte auch nicht versäumen, dass es hoch geschätzte und höchst kundige Analysen einiger Philosophen über Begriffe der Physik im Kontext einer Begriffsentwicklung gibt, aber das geschieht nicht an der Front der Forschung, das entspricht eher einem Einordnen oder Aufräumen.

Nun könnte man meinen, in der Physik gehe es um leblose Sachen, in der Neurowissenschaft schließlich um den Menschen und seine intimsten Fähigkeiten. Das sei doch wohl ein Unterschied. Der Mensch sei eben nicht berechenbar und durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Da könnte etwas dran sein. Aber was genau? Was wissen wir denn eigentlich schon über uns? Die ganze Geschichte der Chemie, Biologie, Paläoanthropologie, Medizin und Neurowissenschaft zeigt uns doch, dass wir sehr viel über uns dazu gelernt haben, in dem wir uns als Teil der Natur gesehen haben und mit naturwissenschaftlichen Methoden – ergebnisoffen und experimentell gestützt – analysiert haben. Und ich möchte den sehen, der die Vorteile, die wir heute davon haben, nicht schätzt. Unser Menschenbild hat sich dadurch stark verändert und wird sich weiter verändern; ich bin sicher, es wird uns weiterhin gut tun. Klarheit kann nie schaden.

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Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

49 Kommentare

  1. Theoretischer Beitrag

    Die wesentliche Frage scheint mir nicht, ob man für empirische Forschung unbedingt Philosophen braucht (braucht man meines Erachtens nicht), sondern ob empirische Forschung von philosophischem Denken profitieren kann (meines Erachtens manchmal schon); und Philosophen haben ebenso wie andere Theoretiker eben mehr Zeit zum Nachdenken und müssen sich nicht so sehr aufs Publizieren von Experimentalergebnissen konzentrieren. Das kann Vorteile sowie Nachteile haben.

    Im Übrigen handelt es sich in dem Sammelband um eine Debatte mit zwei anderen Philosophen, Dennett und Searle. Wem auch immer Sie also in “Neurowissenschaft und Philosophie” Recht geben, mindestens ein Philosoph ist in jedem Fall dabei. 🙂

    Begriffsreflexion ist auch für naturwissenschaftliches Forschen unerlässlich; und insbesondere da, wo es um den Menschen geht, wie in der Psychologie und kognitiven Neurowissenschaft. Natürlich kann man auch ohne forschen; aber was kommt dabei heraus?

    Ein hervorragendes Beispiel ist Bewusstseinsforschung. Es ist dabei überhaupt nicht klar, was eigentlich das Explanandum ist. Seitdem Bewusstsein in der empirischen Forschung wieder “in” ist (bsp. dem kürzlich verstorbenen Benjamin Libet zu verdanken), wird ein Großteil der Forschung zur Aufmerksamkeit plötzlich unter dem Begriff “Bewusstsein” abgehandelt — eben weil man damit gut publizieren kann. Lässt sich nun Bewusstsein auf Aufmerksamkeit reduzieren? Meines Erachtens nicht — und dafür gibt es theoretische Argumente. Wie wollen wir also wissen, ob wir das Welträtsel des Bewusstseins geknackt haben, ohne das Explanandum definieren zu können? Und Philosophen haben schon vor langer Zeit deutlich gemacht, dass das reine Entdecken physiologischer Korrelate von Bewusstsein eben nicht dieses Rätsel löst — und das wird von philosophisch reflektierten Empirikern allgemein auch anerkannt.

    Im Übrigen zeigt auch die Praxis, dass viele empirische Forschung die Arbeit von Philosophen zitieren (Dennett erwähnen Sie ja selbst, der seinem Buch 1992 den bescheidenen Titel “Consciousness Explained” gab oder Ned Block), dass durchaus manche empirisch arbeitende Kollegen deren Beitrag schätzen.

    Den Beitrag Bennetts und Hackers auf den mereologischen Fehlschluss zu reduzieren und den Autoren der “History of Cognitive Neuroscience” (2008) historische Blindheit zu unterstellen, spricht meines Erachtens nicht gerade für eine tiefgründige Analyse.

    Ein kürzes und dem Fachfremden leichter zugängliches Beispiel für einen philosophischen Beitrag würden Sie übrigens in Peter Janichs “Kein neues Menschenbild” finden, das ein Bloggerkollege hier rezensiert hat.

    Als bescheideneren Beitrag mag man vielleicht meine Buch zur “Neurogesellschaft” gelten lassen. Dort versuche ich zu zeigen, dass man die Antworten auf manche Fragen eben nicht allein im Gehirn finden kann. Auch wenn manche das theoretisch langweilig finden sollten, ließe sich damit wenigstens Geld sparen.

    Fakten treiben die Begriffe, nicht umgekehrt. Das ist der alte Gegensatz: Descartes oder Galilei, Athen oder Alexandria, Naturphilosophie oder Naturwissenschaft. Die Geschichte hat eindeutig genug gezeigt, welche Methode fruchtbarer ist.

    Oft besteht eben keine Einigkeit darüber, was eigentlich die “Fakten” sind oder wie sie zu interpretieren sind. Ihre Schlussfolgerung über den Erfolg bzw. die Fruchtbarkeit finde ich auch nicht einleuchtend. Beispielsweise vergleiche man, wie bestimmte Philosophen über Jahrhunderte und gar Jahrtausend bis heute zitiert werden; im Gegensatz dazu vergessen die meisten Naturwissenschaftler ihre eigene Geschichte (und werden wahrscheinlich von ihren Nachfahren schnell vergessen). Descartes war übrigens nicht nur Philosoph und Mathematiker, sondern vor allem auch Physiologe.

    Peter Hacker wird übrigens als Sprecher auf unserer Konferenz “Imaging the Mind” teilnehmen. Der MPI-Direktor Peter Hagoort hat aber bereits angekündigt, seinem Standpunkt ordentlich paroli zu bieten, dort gewissermaßen Ihren Standpunkt zu vertreten. Ich freue mich auf eine spannende Diskussion.

  2. Vielen Dank Josef Honerkamp für einen weiteren erhellenden Perspektivwechsel. Beim lesen populärwissenschaftlicher Sachbücher und Blogs über Hirnforschung fällt einem diese eher Verwirrung als Orientierung schaffende Begriffsjongliererei besonders auf. Gerade bei Begrifflichkeiten wie Supervenienz, neuronales Korrelat,… frag ich mich teilweise ob dies wirklich mit praktischen Nutzen für den Aufbau und Konzeption von Experimenten und Theorie förderlich ist. Mir scheint, es müssen noch weit mehr exp. Daten gesammelt werden, bevor man über genaue Begriffsdefinitionen in der Hirnforschung streiten kann, die Forschung ist immer noch in den Kinderschuhen imho.

    @Herr Schleim

    Teilweise gebe ich ihnen Recht, die Hirnforschung als Gebiet über das Forschungsobjekt selbst (Stichwort Kybernetik 2ter Ordnung) muss die Philososophie miteinbeziehen. Im Gegenzug herrscht aber auch bei hochgradig verifizierten Theorie wie der Quantenmechanik kein starker Konsens was Begriffe wie Welle-Teilchen-Dualismus und Nichtlokalität angeht, hier existieren sehr versch. phil. Interpretationen in der Physical Community, gerade weil Experiment und Begriffsintuition so schwer unter einen Hut zu bekommen sind. In der math. Sprache funktioniert gibt es dagegen zero Unstimmigkeiten zw. Beobachteten und Vorhersage.

    Hier tritt wahrscheinlich Wittgenstein in Kraft, worüber man nicht spreichen kann, muss man schweigen. Das Verständnis des Rätsels Hirn liegt ähnlich der Quantenmechanik wahrscheinlich weniger in einem geeigneten Begriffsinstrumentarium als den richtigen exp. Ideen.

  3. Fakten

    Bereits die Bestimmung dessen, was man in einer Fachwissenschaft als Fakt zu akzeptieren bereit ist, betrifft ja schon immanent philosphische Aspekte. Früher oder später gelangt man gewiss in jeder Fachwissenschaft zu Fragestellungen, die sich mit den ihr eigenen Methoden nicht mehr beantworten lassen.

    Für theoretisch-wissenschaftliche Kreativität sind Fakten (oder das, was man dafür hält) vermutlich zunächst weniger entscheidend als Imagination und Assoziation, also eine Überschreitung der Grenzen des bestehenden Wissens. Dass diese Kreativität direkt von der Philosophie inspiriert wird, dürfte aber die grosse Ausnahme sein. Man kann bisweilen lesen, der junge Einstein sei durch Ernst Mach bzw. dessen Schriften zur Wissenschaftsphilosophie beeinflusst worden, und möglicherweise war das ja entscheidend für den Schritt zur konzeptionellen Abschaffung des Lichtaethers. Das wäre dann vielleicht ein positives Beispiel, aber Mach war freilich auch ein Physiker.

    Die Superstring Theorie basiert gar nicht auf irgendwelchen empirischen Fakten, nur auf gewissen hypothetischen Annahmen. Hier ist gegenwärtig nicht einmal klar, ob das überhaupt Physik ist oder eher ein etwas exotisches Teilgebiet der Mathematik, welches versehentlich für Physik gehalten und mehrheitlich von Physikern beackert wird.

  4. @Schleim, Kuhn, Chrys

    @Stephan Schleim
    Vielen Dank für Ihre Links: Der Abstract für den Vortrag von Peter Hagoort spricht mir ja aus der Seele, und repräsentiert auch m.E. die Meinung fast aller ausgewachsenen Naturwissenschaftler. Zu Descartes: Es ist unerheblich, als was man Descartes in erster Linie sieht, in der Wissenschaftstheorie steht er für eine bestimmten Ansatz in der Naturforschung, der eben nicht Erfolg hatte: Zuerst Theorie oder Vorstellungen, Begriffe klären, “eher unserer Vernunft als unseren Sinnen Glauben schenken” , danach mit dieser Perspektive die Natur befragen. Galilei hat uns gezeigt, dass es nur so geht: Experiment und Vernunft, wobei die Vernunft manchmal hintan stehen muss, weil wir noch gar nicht wissen können, was wirklich vernünftig ist. Das ist die Lehre auch aus der Geschichte der Physik. (Vielleicht darf ich hier auch einmal auf mein Buch: “Die Entdeckung des Unvorstellbaren – Einblicke in die Physik und ihre Methode” hinweisen, in dem das alles sehr ausführlich dargelegt ist.). So ist die oft geäußerte Aussage, dass bei der Bewusstseinsforschung das Explanandum noch gar nicht definiert sei, eine typische Aussage von Leuten, die noch wie Descartes an die Naturwissenschaft herangehen und den “Galilei-turn” noch nicht verinnerlicht haben. Wie sollten sie es auch, da sie ja nicht genügend lange in einer Naturwissenschaft gearbeitet haben, um die Mächtigkeit dieses Galilei-Ansatzes erlebt zu haben. Das ist eben das ganz Andere an der Naturwissenschaft.

    @Thomas Kuhn
    Ich stimme Ihnen zu; nur habe ich den Eindruck, dass die Interpretation, die gemeinhin mit der Kopenhagener identifiziert wird, wohl sehr dominant und auch am überzeugendsten ist. Sollte es Fortschritte in der Quantengravitation geben, werden wir sicher noch dazu lernen. Aber, wie Sie sagen, auf der mathematischen Ebene gibt es keine Probleme und es wird für die jetzigen Problemlösungen auch keine Änderungen geben. Im Übrigen bin ich auch der Meinung, dass die Hirnforschung noch in den Kinderschuhen steckt, ja vielleicht nicht einmal das Stadium des Rutherfordschen (!) Atommodells erreicht hat.

    @Chrys
    Sie unterschätzen m.E.die Fakten: Fakten waren z.B. die Tatsache, dass Elektrodynamik und Mechanik verschiedenen Relativitätsprinzipien genügten, dass eine Bewegung gegen den Äther nicht messbar war, auch die Diskretheit der Atomspektren, der Photoeffekt,, …… alles Fakten, die es zu erklären gab und die zu neuen Begriffen und Vorstellungen zwangen, auf die man durch philosophische Betrachtungen nie gekommen wäre. Solche waren dann natürlich notwendig, um diese neuen Vorstellungen einzuordnen. Imagination oder Assoziation, Inspiration wird also doch getriggert durch Probleme, die sich durch die Fakten und auch (!) durch die Sicht auf die Fakten ergeben. Aber die Fakten müssen eben da sein.

  5. @ Honerkamp

    Ich denke, wenn “Ihre” Methode wirklich so toll wäre, wie Sie behaupten, dann könnten Sie auch einfach auf das Argument eingehen, anstatt so von oben herab zu auszuweichen:

    Wie sollten sie es auch, da sie ja nicht genügend lange in einer Naturwissenschaft gearbeitet haben, um die Mächtigkeit dieses Galilei-Ansatzes erlebt zu haben.

    Wenn Sie noch einmal darüber nachdenken, dann erkennen Sie vielleicht selbst, dass diese Aussage nicht falsifizierbar ist: Entweder jemand ist Ihrer Meinung, oder er hat eben noch nicht lange genug “Ihre” Methode angewendet.

    Das erinnert mich an Schopenhauer über sein “Die Welt als Wille und Vorstellung”. Würde man das Buch nicht verstehen, dann solle man es einfach noch einmal lesen. Auch auf Widerspruchsfreiheit komme es dabei nicht so an.

    Danke für die Literaturempfehlung; doch ich glaube, ich habe hier schon genug gelesen.

  6. “Zuerst Theorie oder Vorstellungen, Begriffe klären, “eher unserer Vernunft als unseren Sinnen Glauben schenken” , danach mit dieser Perspektive die Natur befragen.”

    Verstehe ich nicht! Zumal es KANT gegeben hat. Natürlich bedarf es einer Theorie über die Natur, sonst wüßten wir gar nicht, worauf wir unsere Sinne lenken sollen. Und wir brauchen die Sinne, da die Vernunft sonst in der Gefahr ist, sich in Spekulationen zu versteigen.

    “Galilei hat uns gezeigt, dass es nur so geht: Experiment und Vernunft, wobei die Vernunft manchmal hintan stehen muss, weil wir noch gar nicht wissen können, was wirklich vernünftig ist. Das ist die Lehre auch aus der Geschichte der Physik.”

    Vernunft kann gar nicht hintenan stehen, da wir ohne sie nichts vernehmen und wenn wir nichts vernehmen, auch nichts verstehen können.

  7. @Stephan Schleim

    Es ist nicht “meine” Methode sondern die der Physik, und das Argument ist auch nicht “von oben herab” gemeint. Ich bilde mir ja auch nicht ein, über die Methoden der Psychologie z.B. zu rechten, und zwar genau deshalb, weil ich einfach zu wenig Erfahrung in dem Fach habe.

  8. @Honerkamp: ein viel zu grober Besen

    Ich verstehe ihre Intuition sehr gut, halte sie im Kern für richtig, jedoch ist sie völlig übertrieben und viel zu allgemein, so daß ich hoffe, mit einigen Gegenbeispielen aushelfen zu können.

    “Wie kann man glauben, ein Philosoph könne einem bei seiner Forschung in einer Naturwissenschaft weiter helfen?”

    Ein Philosoph, den man ernst nehmen kann, glaubt nicht, daß er als Philosoph bei einer entwickelten Wissenschaft ständig mitmischen kann. Das ist Unsinn. Und dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Naturwissenschaft oder eine Geisteswissenschaft handelt. Gelegentlich tauchen aber in der Geschichte einer Wissenschaft Fragen auf, bei denen Philosophen helfen können. Diese Hilfe ist nicht immer gleich und manchmal werden die Probleme ohne uns Chefbegriffsspalter gelöst. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Einzuwenden ist etwas gegen drei Behauptungen:

    i) Bei der Geburtsstunde einer Wissenschaft gibt es keine philosophischen Fragen.

    Gegenbeispiel Informatik: Können Maschinen logische Schlüsse und Umformungen vornehmen?

    ii) In keinem Entwicklungszustand einer Wissenschaft stellen sich philosophische Fragen.

    Gegenbeispiel Physik: Erzwingt die Existenz verschränkter Zustände die Annahme einer weiteren, nicht-kausalen Art von Teilchenwechselwirklung? Müssen wir die Idee der Nahwirkung aufgeben?

    iii) Alle Fragen innerhalb einer Wissenschaft beliebigen Zustandes lassen sich mit den Mitteln oder Methoden dieser Wissenschaft lösen.

    Gegenbeispiel Psychologie: Mentale Zustände sind nicht direkt nachweisbar. Gibt es sie trotzdem und wenn ja in welchen Sinne existieren sie? Ist dieser Sinn geeignet, um die Rede vom Unbewußten zuzulassen oder ist das metaphysischer Humbug?

    Ich kennen das Buch leider nur oberflächlich, hoffe aber, daß dies die Intution von Hacker und Bennett ist. Sollte sie stärker sein, scheint mir Ihr Standpunkt unumgänglich zu sein.

    “Das mag mitunter weit daneben gehen, aber das Ziel ist genau das, was man in der Physik seit längerer Zeit erfolgreich verfolgt: Die Präzisierung von Vorwissen durch Bezugnahme auf Prozesse in der Natur, die es zu verstehen gilt.”

    Mag sein, aber Sie bleiben die Antwort auf die Frage schuldig, inwiefern das z.B. der Physik analog ist. Ich hole das mal für Sie nach:

    Erinnern Sie sich an die alte Phlogiston-Debatte. Irgendwann gab man diese Theorie auf, weil sie nichts nützte und man mittels Redox-Chemie einfach mehr erreichen und erklären konnte. Und sie stellen sich möglicherweise vor, daß das für die Schnittstelle von Gehirn und Geist auch so läuft.

    Aber so ist das nicht: Der Symmetriebruch zur Phlogistontheorie besteht darin, daß nicht die Daten oder die zu erklärenden Effekte innerhalb der Neurowissenschaft zur Diskussion stehen, sondern die Schlüsse, die die Neuros daraus ziehen. Und eine direkte Konfrontation dieser Schlüsse mit der Natur ist deshalb nicht möglich, weil die Schlüsse mentale Phänomene betreffen. Physiker können sich darauf verlassen mit falschen Ideen irgendwann in irgendeinem Experiment einmal Schiffbruch zu erleiden. Wenn es um das Verständnis von Person geht, spricht apriori nicht dagegen, daß wir niemals die Sonne sehen werden.

    “Bennett und Hacker haben dagegen nichts anderes im Sinne, als immer wieder darauf hinzuweisen, dass es immer nur die Person, der ganze Mensch ist, dessen Tätigkeit man mit diesen Begriffen beschreiben kann.”

    Offenbar ist das Buch in diesem Punkt ein bißchen dünn. Aber daraus folgt nicht, daß man es nicht besser machen kann. In diesem Sinne halte ich Ihren post für voreilig.

  9. Vorschlag

    Das Gehirn ist wohl neben dem Herz das am gründlichsten untersuchte Organ.
    Anatomie, Physiologie und Biochemie des Nervensystems sind bis in die kleinsten Details erforscht, z. B. wurden die Neunziger Jahre in USA als „dekade of the brain“ proklamiert, ca. 50 000 Wissenschaftler versuchen die Geheimnisse des Bewußtseins zu lüften.

    Wenn dennoch die für uns wichtigsten Hirnfunktionen, das Sprechen, Rechnen, Musik machen, Sinnbildung, Entscheidungsfreiheitreiheit usw. nicht verstanden werden, dann sind tatsächlich begriffliche Irrtümer und Verwirrungen als größter Hemmschuh der Kognitionswissenschaft festzustellen.

    Des Rätsels Lösung kann nur von einer interdisziplinären Theorie erwartet werden, an der auch philosophische Erkenntnisse ( z.B. von Aristoteles, Kant, Wilhelm v. Humboldt, Thomas Metzinger) beteiligt sind. Der wichtigste Beitrag ist aber meines Erachtens von Mathematikern zu leisten, die auch ein wenig von Fraktaler Geometrie verstehen.
    Sie wissen, daß eine Theorie erst dann ausgereift ist, wenn sie in mathematischer Form vorliegt. Das gilt auch fürs Gehirn, weil Denken, Sprechen, Rechnen, Erinnern usw. algorithmische Vorgänge sind. Welche Algorithmen dabei wirksam sind und wie das Nervensystem diese Algorithmen ausführt, das ist die Frage, die Licht ins Dunkle bringen kann.
    Ich habe gute Begründungen dafür, daß spezielle Algorithmen der Fraktalen Geometrie, im Rhythmus der „Hirnwellen“ ausgeführt, wesentlich zur Erklärung der bewußten Leistungen beitragen können. Meine diesbezüglichen Hypothesen habe ich vor Jahren in einem Wikibook ausführlich beschrieben, sie sind bis heute nicht falsifiziert worden.

  10. @Elmar Diederichs

    Vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag. Bei ihren ersten beiden Behauptungen bin ich völlig bei Ihnen, bei der dritten kommt es ganz darauf an, was sie unter “Mitteln und Methoden der Wissenschaft” verstehen, und was unter “lösen”. Was Sie mit dem Gegenbeispiel sagen wollen, habe ich nicht ganz verstanden, aber ich glaube, dass diese Aussage iii) ohnehin entweder tautologisch ist oder zu allgemein, um eine klare Antwort zu ermöglichen.

    Wichtiger erscheint mir Ihr vierter Punkt, hier weisen Sie mit Recht darauf hin, dass ich etwas großzügig eine Parallele zwischen Physik und Hirnforschung gezogen habe. Die Lehre, die ich aus der Geschichte der Physik ziehe, ist einfach die, dass wir mit unseren heutigen Begriffen und Vorstellungen höchst(!) wahrscheinlich dem Problem des Bewusstseins nicht beikommen werden und dass wir wie in der Physik nur durch Hinweise aus der Natur über unsere üblichen Denkgewohnheiten hinaus gelangen. Bei Einstein und bei Schrödinger kamen die neuen Ideen auch nicht aus heiterem Himmel, durch reines Nachdenken. Sie waren tief in die Problematik der Beobachtungen und Experimente eingedrungen und wurden dadurch inspiriert und getrieben. Nur so kann das Aufsteigen aus dem Nebel der Begriffsverwirrungen, den ich ja nicht leugne, gelingen. So wie der Mikrokosmos unsere Anschauung fremd ist, so ist es auch die Welt der Systeme, die so komplex sind wie das Gehirn; entsprechend erwarte ich Überraschungen und Zumutungen an unsere Vorstellungskraft. Und diese können vorrangig nur von Hirnforschern erbracht werden, die wie Einstein und Schrödinger voll durch den Nebel gehen, dabei aber merken, wo sie anstoßen und dabei neue Orientierung gewinnen. Konventionelle Logik ist dabei kein Desiderat.
    Das ist natürlich nur eine starke Vermutung, aber immerhin eine auf der Basis von geschichtlichen Erfahrungen mit schwierigen Fragen jenseits der Alltagswelt. Auf eine Klärung des Begriffes “Person” (in diesem Zusammenhang), die sich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse berufen kann, wäre ich im Übrigen gespannt.

  11. An der Sache vorbei

    Der offensichtlich rhetorisch gemeinten Frage “Wie kann man glauben, ein Philosoph könne einem bei seiner Forschung in einer Naturwissenschaft weiter helfen?” scheint mir ein Verständnis von Philosophie zugrunde zu liegen, gegen das sich Bennett & Hacker in dem angeführten Buch bereits auf den ersten Seiten ihrer einleitenden Ausführungen über “Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaft” ausdrücklich und eingehend verwahren!* Allein schon deswegen beruht der Beitrag auf irrigen Voraussetzungen.

    Nicht einmal ein Mißverständnis kann ich aber in der Behauptung sehen, Bennett & Hacker “ersetzen ein konkretes Organ, das sich untersuchen lässt, durch einen schillernden Begriff.” Dieser Satz demonstriert für mich geradezu, wie nötig eine im weitesten Sinn “logische”, also sprachkritische Schulung ist, wie sie von Bennett & Hacker und bei uns etwa von Peter Janich in seinem schon erwähnten Buch zur Sprache in der Hirnforschung eingefordert wird.

    Es spricht nicht eben für das offenbar weltweit übliche Niveau naturwissenschaftlicher (Aus)Bildung, dass ein derart erfolgreicher Naturwissenschafler wie Maxwell Bennett sich eine wesentliche Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens erst in Auseinandersetzung mit einem begriffskritisch geschulten Philosophen erarbeiten musste.

    Aber es spricht für den Wissenschaftler Maxwell Bennett, dass er seiner Einsicht in die Notwendigkeit einer derartigen Schulung eintschieden hat Taten folgen lassen.

    ____
    * Auch in dem Suhrkamp-Reader “stw 1770” Philosophie und Neurowissenschaften, hrsg. von Dieter Sturma, und natürlich in ihrem eigenen Buch Philosophische Grundlagen der Neurowissenschaften, wie der Titel der dt. Übersetzung den des englischen Originals abwandelt.

  12. Neuro-Optimismus

    Ich wäre der letzte, der das Studium der Wissenschaftsgeschichte für überflüssig hielte. Dennoch halte ich Schlüsse von der Geschichte der Physik auf die Zukunft der Hirnforschung für doppelt gefährlich: Sowohl der Induktionsschluss (Vergangenheit -> Zukunft) als auch die Analogie (Physik -> Hirnforschung) ist kein wahrheitserhaltendes Schlussverfahren.

    @ Rehm: Ob das Gehirn das am besten beforschte Organ ist, das würde ich gerne von Anatomen bestätigt wissen. Die Antwort steht aber auch dahin. Denn wenn gleichzeitig das Gehirn der “komplexeste uns bekannte Gegenstand des Universums” ist, wie manche Hirnforscher gerne sagen (was denkt darüber eigentlich ein theoretischer Physiker?), dann ist es eine offene Frage, wie gut beforscht eben gut genug ist.

    Ich habe jedenfalls einen Ordner voller Papers zu Grundlagenproblemen und ich komme leider nur selten dazu, diese Papers zu lesen. Ein Beispiel: Welchen Beitrag liefern eigentlich andere Zellen als Neuronen (bsp. Astrocyten) zur Informationsverarbeitung? (Ein bisschen habe ich darüber in dem Paper fMRI in Translation, Frontiers in Human Neuroscience, 2009, geschrieben.) Ein anderes Beispiel: Sind kognitive Funktionen wirklich nur in der Grauen Substanz realisiert, während die Weiße Substanz nur Verbindungen herstellt? (siehe Change in the Brain’s White Matter, Science 2010)

    Meines Erachtens sollten wir uns vor allem vor voreiligen Schlüssen hüten. Darum geht es auch in meinem Buch “Die Neurogesellschaft”. Und meiner Meinung nach werden die Lehrbücher über Gehirn noch mehr als einmal umgeschrieben werden müssen.

  13. P.S. Rückzugsgefecht

    Im Übrigen finde ich es wenig überzeugend, diesen Beitrag erst unter der allgemeinen Überschrift aufzuziehen, ob die Philosophie etwas zu einer Fachwissenschaft beitragen könne (eine Frage, die also schon durch ein Einzelbeispiel aus einer Fachwissenschaft bejaht werden müsste), dann die Philosophie der Neurowissenschaft stark zu kritisieren, sich gewissermaßen über die Pioniere auf diesem Gebiet lustig zu machen, und sich schließlich – nach etwas Gegenwind – wieder aufs eigene Terrain, das der Physik, zurückzuziehen.

  14. @Honerkamp: die durch den Nebel gehen

    “Die Lehre, die ich aus der Geschichte der Physik ziehe, ist einfach die, dass wir mit unseren heutigen Begriffen und Vorstellungen höchst(!) wahrscheinlich dem Problem des Bewusstseins nicht beikommen werden”

    Das ist auch meine Vermutung. In welcher Weise wir aber über diese Probleme neu nachzudenken haben werden, scheint mir im Moment noch nicht absehbar zu sein. Im Moment ist nichts als Dunkelheit.

    “Bei Einstein und bei Schrödinger kamen die neuen Ideen auch nicht aus heiterem Himmel, durch reines Nachdenken. Sie waren tief in die Problematik der Beobachtungen und Experimente eingedrungen und wurden dadurch inspiriert und getrieben. Nur so kann das Aufsteigen aus dem Nebel der Begriffsverwirrungen, den ich ja nicht leugne, gelingen.”

    Ich stimme völlig zu.

    Dennoch scheint mir wiederum keine Parallele zur Schnittstelle von Gehirn und Geist vorzuliegen: Physiker schlagen sich immer mit demselben Vokabular zur Beschreibung der experimentellen Befunde herum und sie sind frei, Begriffe so zuzuschneiden, wie sie sie benötigen. Das haben sie auch erfolgreich getan.

    Aber über den Geist beanspruchen wir bereits etwas zu wissen: Wir beschreiben und charakterisieren Personen seit Sokrates und Shakespeare wußte nichts über das Gehirn – trotzdem finden wir ihn nach wie vor faszinierend. Die Folge ist, daß die Hirnforscher nicht frei sind, irgendwelche Erklärungen zu geben, sondern sie sollen simultan unsere Alltagspsychologie transparent machen. Und genau das scheint mir die crux zu sein.

  15. Sacks, Diederichs, Damasio

    @Elmar: “Die Folge ist, daß die Hirnforscher nicht frei sind, irgendwelche Erklärungen zu geben, sondern sie sollen simultan unsere Alltagspsychologie transparent machen.” Glaubst Du nicht, daß es auch eine Alltagsphysik gibt, die von Physikern erfolgreich modifiziert wurde? Beispielsweise die Intuition, schwere Körper würden schneller als langsame fallen?

    Die Parallelen zwischen Physik und Psychologie reichen vielleicht doch weiter als Du unterstellst.

    Mir scheint, daß sowohl Hirnforschung als auch evolutionäre Psychologie das Potential haben, Eigenschaften unseres Geistes aufzudecken, die Sokrates und Shakespeare (beide höchst vereehrt!) verborgen geblieben waren. Ich denke an die bizarre Wahrnehmung von Menschen, die ihre Frau mit einem Hut verwechseln und zahlreiche andere Beispiele von Sacks oder Damasio.

    Das sind Fakten, welche die Intuitionen unserer Alltagspsychologie stark infragestellen. Ähnlich wie die Beobachtung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit unsere Alltagsphysik von Raum, Zeit und Bewegung infragegestellt hat.

    Wir haben zwar noch keine ‘Elektrodynamik bewegter Körper’ für die Psychologie. Es bewegt sich aber etwas in die Richtung.

  16. @ Bolt: Neuro-Missverständnis

    Mir scheint, daß sowohl Hirnforschung als auch evolutionäre Psychologie das Potential haben, Eigenschaften unseres Geistes aufzudecken, die Sokrates und Shakespeare (beide höchst vereehrt!) verborgen geblieben waren. Ich denke an die bizarre Wahrnehmung von Menschen, die ihre Frau mit einem Hut verwechseln und zahlreiche andere Beispiele von Sacks oder Damasio. Das sind Fakten, welche die Intuitionen unserer Alltagspsychologie stark infragestellen.

    Nein, das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Schon Galen hat funktionelle Ausfälle bei Gladiatoren mit Kopfverletzungen beschrieben; schon im alten Agypten hat man versucht, Kopfschmerzen mit elektrischer Stimulation (bsp. mithilfe von Zitteraalen) zu behandeln.

    Dass der Mann seine Frau mit einem Hut verwechselt, ist erst einmal ein psychologischer Befund, der nicht durch Hirnforschung gezeigt wurde — Hüte, Frauen und Ehemänner sind erst einmal Gegenstände unserer Lebenswelt, nicht der Hirnforschung. Die große theoretische Frage ist, was die Verortung einer Hirnläsion der Erklärung neben dem korrelativen Befund der Art “psychisches Phänomen X geht mit Schädigung der Hirnregion Y” einher hinzufügt (vgl. auch hartes vs. leichtes Problem des Bewusstseins).

    Übrigens habe ich die Beschreibung Damasios des berühmten Unfalls von Phineas Gage (1848) mit den Originalquellen verglichen und bin zu dem erschreckenden Ergebnis gekommen, dass vieles (vorsichtig formuliert) äußerst selektiv dargestellt wird oder sogar (deutlicher formuliert) frei erfunden ist (vgl. das Kapitel über “gefährliche Gehirne” meiner “Neurogesellschaft”). Der Wissenschaftsgeschichlter Macmillan hat in mehr Details aufgezeigt, dass die Verzerrung dieses Falls seit den Phrenologen im 19. Jahrhundert bis zu Damasio et al. immer wieder aufgetreten ist (siehe sein “An Odd Kind of Fame”).

  17. @Jürgen Bolt: Alltagsverständnis

    “Glaubst Du nicht, daß es auch eine Alltagsphysik gibt, die von Physikern erfolgreich modifiziert wurde?”

    Nein. Alltagsphysik ist eine Menge falsche physikalischer Erklärungen wie z.B. “Die Kälte kriecht ins Haus.”. Alltagspsychologie aber handelt nicht von Gehirnen, sondern von Personen, da haben Bennett und Hacker schon recht. Die Aufgabe besteht – lax formuliert – darin, das tradierte Verständnis intentional auftretender Akteure im Raum der Gründe abzubilden auf kausale Abhängigkeiten zwischen zerebralen Zuständen.

    Damit keine Mißverständnisse entstehen:

    a) Diese Abbildung würde Alltagspsychologie nicht überflüssig machen, sondern korrigieren und dem Rest eine vernünftige Basis geben.

    b) Natürlich kämpft nicht jeder Beitrag der Neurowissenschaften zur Psychologie mit dieser Hürde. Zum Teil lernen wir auch völlig neue Dinge. Ist ja auch ganz normal.

    Im übrigen hat Stephan bereits alles Wichtige in seinem jüngsten Kommentar gesagt, dem ich mich hiermit anschließe.

  18. Der “springende” Punkt

    Elmar Diederichs Hinweis auf “die crux” heutiger Hirnforschung am Schluss seines vorletzten Beitrags möchte ich präzisieren: Bennett & Hacker haben sich die Mühe gemacht zu untersuchen, wie in der sprachlichen oder “theoretischen” Darstellung neurowissenschaftlicher Forschungungen und der Interpretation dabei gewonnener “Daten” (die meist diskutierten “Ergebnisse” der Hirnforschung sind ja in den seltensten Fällen bloße Messergebnisse, obwohl schon deren Gewinnung – in einem berühmt gewordenen Fall selbst an einem toten Lachs – fragwürdig sein kann; vielmehr handelt es sich dabei praktisch durchgehend um theorieabhängige Deutungen von Messdaten!) solche Begriffe verwendet werden, die aus der “Normalsprache”, also unserer historisch gewachsenen, täglich gebrauchten und dort ‘ausreichend’ sicher verwendeten Umgangssprache mit ihrer Verwurzelung in unterschiedlichsten Traditionen stammen.

    Dabei haben sie festgestellt, dass selbst Philosophen, die “logisch”, zuallererst also begrifflich geschult sein sollten, in neuropsychologischen Zusammenhängen psychologische Ausdrücke und Wendungen dieser Provenienzz in – je nach Gesichtspunkt: ertaunlich oder erschreckend – weitem Ausmaß ohne Rücksicht auf die Relationen verwenden, die ihrer Herkunft nach für ihre Bedeutung und entsprechende Verwendung entscheidend sind. Dass nach ihren Angaben dabei vor allem ein bestimmter “Fehler” und der immer wieder gemacht wird, ist – wenn ich das richtig sehe – nicht auf eine mangelnde “Tiefgründigkeit” ihrer Analysen zurückzuführen; wie umfassend sie vorgegangen sind, ist bereits am Inhaltsverzeichnis ihres Erstlingswerks zu sehen. Für mich als Fachmann zeigt sich darin vielmehr die erstaunliche Oberflächlichkeit bisheriger neuropsychologischer Theoriebildung!

    Bennett & Hacker gehen dabei sogar derart gründlich in Einzelheiten, dass die Darstellung der Ergebnisse ihrer Untersuchungen neuropsychologisch relevanter Literatur schon im englischen Original fast ein Halbtausend Seiten erfordert. (Wesentlich weniger Umfang hat ihre Alternative dazu, die sachlich korrekte Darstellung neurowissenschaftlicher Forschungen und Ergebnisse in ihrem Folgewerk “History of cognitive Neuroscience”. Dieses Werk scheint ausweislich der einzigen mir bekannten Rezension davon hierzulande nur der erstaunlich kompetente FAZ-Radakteur Helmut Mayer gelesen oder wenigstens zur Kenntnis genommen zu haben.)

    Wie wenig kompetent neuropsychologische Forschung bislang nicht nur dargestellt, sondern weithin selbst von angesehenen Wissenschaftlern – vor allem in Feuilletons bekannter Zeitungen… – diskutiert wird, ist auch deswegen erstaunlich, weil gerade bei uns in Deutschland die anstehenden Fragen fachphilosophisch schon lange diskutiert worden sind, wobei vor allem Dirk Hartmanns Werk “Philosophische Grundlagen der Psychologie“, das Jahre vor dem von Bennett & Hacker erschien, zu nennen ist.

    Die Dokumentation der innerphilosophischen Diskussion im englischen Sprachbereich in dem oben vorgestellten Buch ist derart einseitig und wie vor allem Daniel Dennett in seinen pikierten Entgleisungen vorführt ‘innerbetrieblich’ so versponnen, dass sie mir noch lange nicht die Klärungen erreicht zu haben scheint, die von der “methodischen Philosophie”, wie sie von Hartmann und Janich vertreten wird, erarbeitet worden ist.

  19. @Elmar, Stephan

    Ich erinnere mich zwar, daß Lady Macbeth Dolche und King Lear Klippen halluziniert haben, ich erinnere aber nicht, daß William irgendwo beschrieb, daß das Erkennen menschlicher Gesichter so verschieden von der Wahrnehmung anderer Gegenstände sei, daß diese Kompetenz isoliert ausfallen kann.

    @Elmar:

    “Damit keine Mißverständnisse entstehen:

    a) Diese Abbildung würde Alltagspsychologie nicht überflüssig machen, sondern korrigieren und dem Rest eine vernünftige Basis geben.

    b) Natürlich kämpft nicht jeder Beitrag der Neurowissenschaften zur Psychologie mit dieser Hürde. Zum Teil lernen wir auch völlig neue Dinge. Ist ja auch ganz normal.”

    Das denke ich auch, und weiter möchte ich auch gar nicht gehen.

    Natürlich denke ich keinesfalls, daß Hirnforschung die Psychologie reduktionistisch ersetzen kann. Tut das überhaupt jemand? Aber doch “korrigieren und dem Rest eine vernünftige Basis geben.”

    Sogar das anspruchsvolle Thema ‘Bewußtsein’ profitiert – zumindest potentiell – von Untersuchungen an Patienten mit pathologisch verändertem Bewußtsein: Wachkoma, Neglect, Verlust des biografischen Gedächtnisses. Solange diese Daten nicht, wie Stephan bei Damasio vermutet, gefälscht sind.

  20. Ja tut jemand, und nicht irgendwer!

    Die Reduktion der Psychologie auf Neurowissenschaft” wird zB. von Patricia Churchland geradezu als Wissenschaftsprogramm vertreten, wie sie zB. hier ausführt. Zwar spezifiziert sie da sogleich, dass eigentlich eine “Reduktion” auf Neuro-“Biologie” gemeint ist. Genauer müsste sie aber formulieren, dass es eine auf Neurophysiologie wäre; denn die für uns interessanten Hirnvorgänge, die bei psychischen Leistungen “unter”-sucht und ihnen dann “unter”-stellt, wenn nicht mit ihnen sogar theoretisch gleichgestellt oder “zu” solchen “erklärt” werden, die mit ihnen letztlich identisch seien, sind allesamt neurophysiologischer Art!

    Das ist etwa so sinnvoll wie eine Bewegung wie Winken “zu” einem Vorgang unserer Muskulatur zu “erklären”! Bewusste, absichtliche, willentlich vorgenommene und geplante Handlungen, miteinander abgesprochene und organisierte soziale Interaktionen aller Art und sonstige kulturelle Leistungen wären dann auch “weiter nichts als” biologische Prozesse!

    Daran wird erkennbar, dass Reduktion menschlicher Leistungen auf “eine” Wissenschaft, noch dazu die der Biologie oder eine noch umschriebenere Forschungsrichtung wie Physiologie bedeutet, von allen spezifisch menschlichen, insb. sozialen und kulturellen Eigenheiten dieser Leistungen abzusehen: “in der Tat” auch eine “Reduktion”, aber eine von jener Art, die in schlichter Simplifizierung besteht.

  21. @ Bolt: Neuro-Missverständnis, Teil 2

    …ich erinnere aber nicht, daß William irgendwo beschrieb, daß das Erkennen menschlicher Gesichter so verschieden von der Wahrnehmung anderer Gegenstände sei, daß diese Kompetenz isoliert ausfallen kann.

    Und was folgt daraus, dass du eine neurologische Störung in Shakespeares Werken nicht findest? Was soll das für ein Argument sein?

    Du willst doch wohl nicht so weit gehen und behaupten, dass es diese Störungen nicht schon früher gegeben hat? Dass nicht schon früher Menschen an Agnosien usw. litten?

    Prosopagnosie wurde (laut Wikipedia) 1947 das erste Mal beschrieben; Anton-Syndrom 1885; die Cotard-Störung 1880; Bonnet-Syndrom 1760.

    Volkmann beschrieb 1838 einen ähnlichen Fall, Huxley verweist 1874 auf einen verletzten Sergeanten aus dem Krieg von 1870/71 — beide zeigten nach Schussverletzungen im Gehirn selektive psychische Ausfälle.

    Vielleicht gewinnst du durch die populärwissenschaftlichen Beiträge von Damasio und Sacks den Eindruck, die Hirnforschung hätte hier viel zur Klärung dieser neurologischen Störungen beigetragen; vielleicht haben sie ihnen in manchen Fällen einen neuen Namen gegeben. Behandeln lassen sie sich übrigens meines Wissens so gut wie gar nicht; das wäre mal ein Beitrag! (aber positives Beispiel: Schlaganfall) Lies lieber mal wissenschaftliche oder wissenschaftsgeschichtliche Quellen. Schon in der Einleitung von “Philosophical Foundations” fangen Bennett und Hacker mit einem sehr informativen historischen Abriss an.

    Es bleibt dabei: Die psychischen Funktionsstörungen bestehen erst einmal für sich; was das Neuro-Wissen mehr hinzufügt als ein Gehirnkorrelat anzugeben, ist in den meisten Fällen nicht ersichtlich. Auch Neurologen fangen erst mal mit psychologischen Verhaltenstests an, sie machen mit den Patienten Neuropsychologie. Ich bestreite nicht, dass sich so manche (neurologische) Diagnose durch neurowissenschaftliche Verfahren weiter untermauern lässt; inwiefern das aber etwas wirklich Neues zum Verständnis dieser Störungsbilder beiträgt, sondern nicht umgekehrt auch die neurologische Interpretation erst einmal eine psychologische Beschreibung voraussetzt, das ist mir nicht klar. Der Neurologe wüsste ja sonst gar nicht, wo er überhaupt suchen müsste.

    Quellen:

    Huxley, T. H. (1874/1893). On the hypothesis that animals are automata, and its history. In T. H. Huxley, Essays (Vol. I). London: Macmillan.

    Volkmann, A. W. (1838). Die Physiologie als Gegnerin der Lehre des Materialismus von der Identitat des Leibes und der Seele. Dorpat: Lindfors.

    Siehe auch: Schleim, S. (2009). Der Mensch und die soziale Hirnforschung. Philosophische Zwischenbilanz einer spannungsreichen Beziehung. In S. Schleim, T. M. Spranger, H. Walter (Hrsg.), Von der Neuroethik zum Neurorecht, S. 37-66.

  22. Völlig richtig, Her Schleim

    Im Unterschied zu dem Eindruck, den er sonst in der Öffentlichkeit zu wecken und nachgerade zu polieren “pflegt”, gibt selbst ein Gerhard Roth in wissenschaftlichen Rahmen genau das an und damit zu, was Sie schreiben:

    dass die psychologische Beschreibung psychischer Leistungen ihrer neurologischen und neurophysiologischen Untersuchung zeitlich und methodisch immer vorausgeht!

    Ich habe auf einem Kongress mal selbst gehört, wie Roth das und noch weit mehr wie völlig selbstverständlich zugestand (und davon in der hier anonym erschienenen Glosse berichtet).

    Was er selbst allerdings für psychologisch hält, hat das Niveau teilweise simpelster Küchenpsychologie, wie ich in der Polemik hier mal aufzuzeigen versucht habe; psychologische Fachliteratur scheint er wie viele andere Neurophysiologen höchst selektiv, wenn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Dafür spekuliert und diskutiert er lieber mit in beiden Fächern dilettierenden Juristen und Philosophen, vor Jahren zB. zum Thema “Hirn als Subjekt? I-III” in der Deutschen Zeitschrift für Philosphie und natürlich in seinen eigenen Büchern…

    Frei zu assoziieren ist “natürlich” leichter (weil eben “natürlich”!) als sich um genaue psychologische Begrifflichkeit zu bemühen oder die kollegiale Kritik von Bennett & Hacker nachzuvollziehen…

  23. @Stephan Schleim: “Und was folgt daraus, dass du eine neurologische Störung in Shakespeares Werken nicht findest? Was soll das für ein Argument sein?” Das Argument lautet: die Wissenschaft macht Fortschritte und speziell die Medizin ist erst im 19. Jahrhundert wirklich wissenschaftlich geworden.

    @Ingo-Wolf Kittel: Danke für den Link. Es gibt sie also wirklich, diese Radikalreduktionisten. Bolt, Diederichs, Honerkamp, Kittel, Roth, Schleim gehören offenbar nicht dazu.

    Es gibt aber auch die Radikalmentalisten, die an Vorstellungen festhalten, die mit der Neurophysiologie unvereinbar sind, z.B. an Freuds Traumtheorien.

    Ich denke, diese Mentalisten sollten offen dafür sein, ihre Vorstellungen durch Fakten modifizieren und falsifizieren zu lassen. Und eine haarspalterische Diskussion über Begrifflichkeiten anzuzetteln, kann durchaus eine Immunisierungsstrategie gegen Kritik sei.

    Damit keine Mißverständnisse entstehen:

    Eine Klärung von Begrifflichkeiten kann natürlich auch konstruktiv sein und manchmal sogar unverzichtbar sein. Aber “dass die Neurowissenschaftler dem Gehirn immer wieder psychologische Eigenschaften zuschreiben”: mal ehrlich, bei einem bißchen guten Willen der Gesprächspartner sollte das doch wohl kein ernsthaftes Problem sein.

  24. @ Bolt: Neuro-Optimismus, Teil 2

    …die Wissenschaft macht Fortschritte und speziell die Medizin ist erst im 19. Jahrhundert wirklich wissenschaftlich geworden.

    Das steht hier doch nicht zur Debatte, sondern das Verhältnis von Hirnforschung, Psychologie und Philosophie.

    Zum Erfolg und Fortschritt der Wissenschaften ist im Übrigen schon viel von Wissenschaftstheoretikern geschrieben worden. Was man daraus epistemisch und über die Zukunft der Wissenschaft ableiten kann, ist sehr umstritten.

    …die mit der Neurophysiologie unvereinbar sind, z.B. an Freuds Traumtheorien.

    Sagen manche Hirnforscher (z.B. Allan Hobson); andere nicht (z.B. Mark Solms). Siehe dazu auch meine Rezension zu Hobsons Buch, die demnächst in SdW erscheint.

    Es ist die eine Sache, bloß zu behaupten, Theorie X sei mit der Neurophysiologie unvereinbar; eine andere und wesentlich schwierigere ist es, dies stichhaltig zu belegen.

    Ich denke, diese Mentalisten sollten offen dafür sein, ihre Vorstellungen durch Fakten modifizieren und falsifizieren zu lassen. Und eine haarspalterische Diskussion über Begrifflichkeiten anzuzetteln, kann durchaus eine Immunisierungsstrategie gegen Kritik sei.

    Wenn es kritische Mentalisten sind, dann sind sie das hoffentlich auch. Die Beispiele machen aber doch deutlich, dass zwischen “Fakten” und ihrer Darstellung/Interpretation ein großer Spielraum bestehen kann (siehe Damasio). Darüber hinaus sind die Beispiele für deutliche Falsifizierungen eher selten in der Wissenschaftsgeschichte. Auch darüber haben Wissenschaftstheoretiker schon geschrieben. Manche Theorien werden nicht falsifiziert, sondern werden einfach vergessen, weil sie neuen Wissenschaftlern nicht mehr interessant erscheinen.

    Wenn du meine Suche nach stichhaltigen Argumenten und Beweisen als “Immunisierungsstrategie” abtun willst, dann können wir nicht mehr miteinander diskutieren. Umgekehrt halte ich es für unwissenschaftlich, von etwas fest überzeugt zu sein, das nocht nicht deutlich gezeigt oder vielleicht sogar unbeweisbar ist.

    Es wäre ein wichtiger Beitrag zur Diskussion, würde jemand einmal zeigen können, was die Hirnforschung neben Aussagen über korrelative Befunde oder Interventionen, die bestimmte psychische Prozesse begleiten, wirklich zum Verständnis von Geist, Bewusstsein, Verhalten Neues beitragen kann. Ich kenne wenige Beispiele; aber daraus kann ich noch keine “Neuro-Revolution” ableiten.

    Ich habe den Eindruck, dass wir uns hier im Kreis drehen und werde mich daher hier zurücknehmen; ich muss jetzt ohnehin eineinhalb Stunden durch die Weinberge nach Deidesheim wandern.

  25. @Stephan: Immunisierungsmißverständnisse

    “Wenn du meine Suche nach stichhaltigen Argumenten und Beweisen als “Immunisierungsstrategie” abtun willst, dann können wir nicht mehr miteinander diskutieren.” – Damit meine ich nicht Dich sondern radikale Mentalisten. Und das bist Du nicht, sonst könnten wir in der Tat nicht sinnvoll miteinander diskutieren. Können wir aber.

    Jetzt wünsche ich Dir viel Freude auf Deiner Wanderung und der hoffentlich anschließenden Weindegustation. Ich liebe Riesling von der Mittelhaardt!

  26. @Schleim

    Sich im Kreise drehen, kann auch ganz amüsant sein, wenn schöne Musik zum Tanz spielt. Auch in der Wissenschaft lassen sich Probleme leichter fassen, wenn man sie “einkreist”.

    Freuds Traumtheorie war ein wichtiger Meilenstein in der Psychologie, aber weil sie auf einer „Triebtheorie“ basiert, kann sie (wie die ganze Psychoanalyse) heute als obsolet bezeichnet werden.

    Als Immunisierungsstrategie empfinde ich es, wenn man zu jedem Argument immer nur irgendwelche Autoren aufzählt, welche die eigene Meinung unterstützen.
    Plumpe Abwehr sehe ich auch, wenn jemand den Satz: „Das Gehirn ist das am gründlichsten untersuchte Organ“ nur dann glaubt, wenn der Satz durch einen Anatom bestätigt wird, ihn jedoch nicht ernst nimmt, wenn ein Blogger, der das Physikum im Medizinstudium ( in den Fächern Anatomie, Histologie, Physiologie und Biochemie) mit Eins bestanden hat und eine Facharztausbildung für Neurologie und Psychiatrie absolviert hat, diese begründete Meinung äußert.

    Denken Sie doch einmal darüber nach, welches Organ sonst in Frage käme,
    Leber, Niere, Darm, Schilddrüse? Ich garantiere Ihnen, Sie werden keins finden, an dem seit Jahrzehnten so intensiv geforscht wurde.

    Sie können natürlich dabei stehen bleiben, das Gehirn als das allerkomplexeste Organ zu bezeichnen und damit auf jede wissenschaftliche Erklärung zu verzichten.
    Wissenschaft ist immer die Suche nach Abkürzungen oder komprimierten Darstellungen von Komplexität, so wie z.B. Einsteins Formel E=mc² die Komplexität des Universums auf fünf Zeichen komprimiert.

    Zwei Tatsachen erleichtern uns solche Komprimierungen: Die komplexe Welt, die wir beobachten, eignet sich offensichtlich gut zur Komprimierung (z.B. in Naturgesetzen) und unser Gehirn zeigt sich als bestens geeignet, die Ereignisse der Welt in komprimierter Form darzustellen (Sprache, Mathematik).

  27. Sag’s mit Pinker

    Denn der ist Psychologe. Und mein Leib-und-Magen Autor (oder erwähnte ich das schon?)

    Gekürzt aus ‘The Language Instinct’:

    “So what are the modules of the human mind?

    A guess: Intuitiv mechanics, intuitiv biology, number, mental maps, habital selection, danger, food, contamination, monitoring of current well-being, intuitiv psychology, a database of indivduals, self-concept, justice, kinship, mating.

    To see how far the standard psychology is from this conception, just turn to the table of contents of any textbook. The chapters will be: Physiological, Learning, Memory, Attention, Thinking, Decision-Making, Intelligence, Motivation, Emotion, Social, Development, Personality, Abnormal. I believe that with the exception of Perception and, of course, Language, not a single curriculum unit in psychology correspons to a cohesive chunk of the mind. It is like explaining how a car works by first discussing the steel parts, then the aluminium parts, then the red parts, and so on, instead of the eletrical system, the transmission, the fuel system, and so on. (Interestingly, textbooks on the brain are more likely to be organized around what I think of as real modules.)”

  28. Nochmal Forschungsstadium Hirnwissenschaft

    Ich glaube keiner spricht hier der Philosophie die Bedeutung ab, wenn es um Fragen der Neuroethik geht. Für mich als Naturwissenschaftler sind v.a. die versch. Forschungsansätze in der Hirnwissenschaft suspekt. Blickt man auf das Blue Brain Projekt z.B., scheint mir hier bewusst ein Ansatz gegensätzlich zu der Feststellung von phänomenlogischen Neuro-Korrelaten gewählt zu werden, in dem Begrifflichkeiten erstmal geringe Rolle spielen, sondern Hrinprozesse emuliert werden sollen und man nicht auf der Suche nach Eigenschaften (Bewusstsein, Angst,…) ist die man aus der menschl. Psyche kennt. Oft bedient man sich ja auch des Ansatzes, Hirngeschädigte oder Savants zu untersuchen um aus der Differenz zu Ottonormal Hirn eine Information/Erklärung zu generieren. Mir ist ein Bericht aus der Erinnerung bekannt, bei dem selbst Personen, welche nur eine Hirnhälfte hatten, in wesentlichen kognitiven Funktionen (Sprechen, Denken,…) keine Behinderung hatten, die Arbeitsweise des Hirns scheint also hochgradig nichtlokal und plastisch. Dies macht für mich viele Forschungsergebnisse in denen mit fMRI gearbeitet wird wenig aufschlussreich, man analysiert eine black box ohne je zu erfahren wie diese kausal funktioniert. Die Zeitungen sind voll davon, wo jene Eigenschaft jetzt wieder “sitzt”. Ein wirklichen Erkenntnisfortschritt mach ich nicht aus. Da werden Projekte wie Blue Brain wohl weit mehr leisten. Desweiteren spricht vor allem die Evolutionstheorie dafür, dass unser Hirn v.a. physik. Prozesse und Eigenschaften abbildet, die in der typ. Lebens-Umwelt des Menschen vorhanden sind (Menschen nehmen keinen Gravitationswellen wahr oder elektr. Felder wie Haie). Ein physik. orientierter Ansatz scheint mir daher weitaus vernünftiger als ein zu interdisziplinärer in denen erst die Nicht Naturwiss. die Begrifflichkeiten und Konzepte (v.a. Mathematik) neu lernen müssen. Nur können da die meisten Philosophen nicht mehr mitreden und reflektieren weil ihnen das technische Verständnis fehlt. Mehr als die Begriffsebene bleibt nicht. Kann ein Philosoph beim Blue Brain Projekt wirklich behilflich sein, nicht direkt scheint mir. Ein physiologisch evolutionsbiologischer Ansatz bietet imo mehr Erkenntnispotential, Philosophen seh ich eher als mögliche Hürde denn als notwendige Stütze bei solch einem Forschungsprozess.

    Bevor man über Begriffe streitet, sollte man sich auf Forschungsmethoden einigen. Zumindest das ist etwas, was sich aus der Physical Community lernen liese imho. Hirnforschung ist in ihrere Komplexität, Anspruch und Interdisziplinarität wohl mit CERN vergleichbar, hier sind imo die Aufgabenbereiche und Deutungshoheit von Informatikern, Mathematikern, Ingenieuren, Physikern klar abgesteckt. In der Hirnforschung jedoch scheint die Kompetenzfrage noch nicht geklärt, für einen jungen Hirnforscher stellt sich erstmal die Frage, was er überhaupt lesen soll an wiss. Literatur bei all diesen versch. Perspektiven/Methoden/Begriffen um einen Fuss in die Türe zu bekommen, von daher sollte er sich evtl. darauf konzentrieren mit seiner Methodik (Physik, Physiologie, Philsophie) zu forschen in seinem Gebiet mit seinem Vokabular. Ich denke ähnlich Hr. Honerkamp, die Hirnforschung ist noch in den Kinderschuhen was das Forschungsstadium angeht, die einzelnen Disziplinen sollten erstmal bei ihrem Handwerk bleiben, bevor sie sich gegenseitig Steine vor die Füsse werfen. Die jahrelange Debatte um freien Willen war typisch für Methodikunterschied in Geistes- und Naturwissenschaften und Scheindebatten ohne Erkenntnisgewinn, das Hirn ist ständig am arbeiten, es gibt kein Gleichgewicht, inweiweit hier genau definierbare und unterscheidbare Zustände(Begrifflichkeiten) und Eigenschafen feststellbar/messbar/definierbar sind und dies sinnvoll ist, ist imo die viel spannendere Frage, auch die muss aber der Experimentator notgedrungen beantworten und nicht der Philosoph in diesem Stadium. Die Spaltung in Philosophie und Physik ist sowieso recht künstlich, an Naturphilosophen hat es in der Physik nie gemangelt bzw. entsprangen die Bedeutenden eher der Physical Community als Eigengewächse. Die Frage die hier imo noch nicht beantwortet wurde ist, welche notwendigen Methoden und Zeit (nach Hr. Schleim) bietet die Philosophie, die Physik & Physiologie Community nicht mit ihrer geballten und zahlenmässig grösseren Kraft aufwiegeln könnte. Wissenschafts- und Logiktheorie sind keine Standardvorlesungen in der Naturwiss. wie in Philosophie, trotzdem setzen sich die meisten Doktoranden notgedrungen damit auseinander.

    Hier mal ein Link zu Blue Brain, afaik ist Markram Arbeit wenig von Philosophie beeinflusst und die Erfolge scheinen mir evidenter als bei vielen anderen Forschungsperspektiven und -ansätzen die ich als interessierter Beobachter sah http://www.ted.com/…ing_the_brain_s_secrets.html

  29. @Thomas Kuhn

    Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Ich stimme auch voll zu. Ich habe gleich den Link auf Markram in meinen nächsten Artikel “Der freie Wille…” unter P.S. eingebaut.
    Nur scheine ich die Einführung einiger Abkürzungen wohl verpasst zu haben. “imo” und “afaik” = ??

  30. Bennett, Dennett, Hacker, Searle: Neurowissenschaft und Philosophie

    Lieber Herr Honerkamp,

    in Ergänzung zu unserem kurzen Gespräch bei der letzten Alumni-Veranstaltung in der Ganter-Brauerei:
    Bennett, Dennett, Hacker, Searle: Neurowissenschaft und Philosophie

    Zunächst der Hinweis auf ein Missverständnis: Hacker und Bennett (HB) behaupten mitnichten, dass „die gesamte Neurowissenschaft unter begrifflichen Irrtümern und Verwirrungen leidet“, sondern sie beklagen die begrifflichen Verwirrungen und Unklarheiten, wenn sich Neurowissenschaftler zu philosophischen Fragen äußern.
    So ist z.B. die Frage nach dem Begriff des Bewusstseins (das, was als Äußerung von Bewusstsein zählt) eine Vorbedingung der wissenschaftlichen Untersuchungen über die neuronalen Korrelate von Bewusstsein. Wie könnte man denn sonst angeben, was man überhaupt untersuchen möchte?
    Natürlich ist die Neurowissenschaft eine empirische Wissenschaft, die von HB als solche gar nicht angetastet oder behindert werden soll, aber: Die Philosophie kann in therapeutischer Funktion (siehe z.B. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen – PU) dazu beitragen, sprachlich bedingte Fiktionen und Kategorienfehler offen zu legen, die als solche die Neurowissenschaftler zu falschen Fragestellungen verleiten und in philosophische Sackgassen führen.
    Dabei geht es nicht nur vordergründig um den mereologischen Fehlschluss, sondern um den Zusammenhang von Denken, Bewusstsein… und Sprache.

    „Denken ist kein unkörperlicher Vorgang, der dem Reden Leben und Sinn verleiht, und den man vom Reden ablösen könnte, gleichsam wie der Böse den Schatten Schlemihls vom Boden abnimmt.“ (Ludwig Wittgenstein, PU 339)

    Sind denn Denken, Fühlen, Bewusstsein.. tatsächlich „innere Vorgänge“, die in unserem Kopf ablaufen. Wenn wir von dieser Prämisse ausgehen, wo könnten wir sie denn finden? Man vgl. dazu auch das berühmte Mühlengleichnis aus Leibnizens Monadologie §17:

    „Man muss ferner notwendig zugestehen, dass die Perception und was von ihr abhängt, aus mechanischen Gründen, d.h. aus Gestalt und Bewegung, nicht erklärbar ist. Denkt man sich etwa eine Maschine, deren Einrichtung so beschaffen wäre, dass sie zu denken, zu empfinden und zu perzipieren vermöchte. So kann man sie sich unter Beibehaltung derselben Verhältnisse vergrößert denken, so daß man in sie wie in eine Mühle hineintreten könnte. Untersucht man alsdann ihr Inneres, so wird man nichts als Stücke finden, die einander stoßen, niemals aber Etwas, woraus man eine Perception erklären könnte.“

    Leibniz unterstrich damit zeitbedingt eine dualistische Position (die heute nicht mehr aktuell ist) , aber auch heute noch würde ich wie HB sagen, dass im Kopf lediglich neuronale Vorgänge ablaufen, die (wie auch viele andere körperliche Prozesse) notwendige Voraussetzungen für „Geistiges“ sind – aber das Geistige im Kopf zu suchen, ist Resultat einer philosophischen Verwirrung (z.B. von Searle, der wie viele andere das Bewusstsein ins Gehirn packen will). Es gibt keine „inneren Vorgänge“, auf die man zeigen könnte und deshalb ist Searles Behauptung „Bewusstsein ist ebenso ein biologischer Vorgang wie Verdauung oder Photosynthese“ schlichtweg unsinnig.
    Bewusstsein als Substantiv (wie auch z.B. auch Zeit… ) ist schrecklich irreführend und HB wollen den begrifflichen Rahmen für die Verwendung solcher Worte präzisieren. (Dass sich im Rahmen einer empirischen Wissenschaft – wie Sie für die Physik anführen– neue Begrifflichkeiten heraus kristallisieren, ist ein ganz anderes Feld). Die in der Philosophie schwadronierenden Neurowissenschaftler und manche ihrer Hausphilosophen wollen ja wissen, was das Bewusstsein ist). Sollte man sich dazu nicht über die Verwendungsregeln dieses Wortes einig sein?
    Auch Sie sagen in Ihrem Beitrag, „im Gehirn passieren die entsprechenden Prozesse tatsächlich“. Wem oder was entsprechen sie denn??

    Nehmen wir als Beispiel einen Menschen wie Kaspar Hauser, der in sozialer Isolation aufgewachsen ist: Er hat zwar von innen und außen stimulierte „leibliche Widerfahrnisse“, aber er weiß nicht, dass er eine Empfindung hat. Er hat keine Begriffe, weil er keine Sprache gelernt hat und er kann deshalb auch nicht denken. (Eine private Sprache zu entwickeln ist unmöglich, wie Wittgenstein in seinem Privatsprachenargument in den PU m.E. überzeugend darstellt). Kaspar Hauser würde auf der Stufe eines asozialen Säugetieres existieren. Um denken zu können, muss er erst in einer Lebensgemeinschaft die Regeln einer öffentlichen Sprache erlernt haben.
    Auf den von Wittgenstein in den PU thematisierten Zusammenhang von Denken, Bewusstsein und Sprache beziehen sich HB. Das ist keineswegs „armchair-philosophy“ : Diese ist eher bei den Philosophen zu finden, die meinen, man könne durch „reine Introspektion“ etwas über das „Wesen des Geistes“ erfahren. Auch gegen diese Art von Philosophie hilft das „Wittgensteinsche Therapeutikum“: Woher nehmen diese denn die Begrifflichkeiten ihrer „reinen Introspektion“, wenn nicht aus einer öffentlich erworbenen und am Verhalten verifizierten öffentlichen Sprache. Aber auch viele philosophisch (nicht in ihrer empirischen Wissenschaft!) verwirrte Neurowissenschaftler verschwenden wenige Gedanken an die öffentliche Herkunft ihrer Begrifflichkeiten.

    Dazu ein weiteres Zitat:

    „Wenn man aber sagt: ´Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen´, so sage ich: ´Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.´“ (Ludwig Wittgenstein, PU 504)

    Ein weiterer Punkt:
    HB beklagen m.E. zurecht den Krypto-Cartesianismus der Neurophilosophen. Man kann eine (etwas unheilige) Fortsetzung leicht erkennen:

    Platon: Substanzen-Dualismus Leib-Seele
    Descartes: Substanzen-Dualismus Geist-Körper
    Moderne Neurowissenschaft: Struktur-Dualismus Gehirn-Körper – dem Gehirn werden nun die Eigenschaften zugeschrieben, die vorher der Seele bzw. dem Geist zugeschrieben wurden. (Das Gehirn denkt, empfindet, entscheidet…)

    Wir sind auch in unserer alltäglichen Wortverwendung des öfteren in diesem kryto-Cartesischen Sprachspiel gefangen und es ist durchaus Aufgabe einer therapeutischen Philosophie, darauf hinzuweisen und Missverständnissen vorzubeugen.

    Missverständnisse (nicht nur von philosophierenden Wissenschaftlern, sondern auch von etlichen Philosophen) sind auch essentialistische Fragestellungen, wie z.B.
    Was ist „das Wesen des Bewusstseins?“, „das Wesen der Zeit?“….
    Wir sollten lernen, dass solche Begriffe sprachliche Konventionen (Fiktionen) sind, die ihre Bedeutung im Gebrauch in einer öffentlichen Sprache erhalten (private Sprachen gibt es nicht s.o.) – auch vor diesem Hintergrund ist es unsinnig, Bewusstsein irgendwo im Kopf zu verorten und zu suchen.

    Ihren Naivitätsvorwurf süffisant gewendet:
    Ich halte es für ziemlich naiv, wenn philosophierende Neurowissenschaftler glauben, sie könnten etwas über Geist, Denken, Bewusstsein… aussagen, ohne sich im entferntesten Gedanken(sic!) über die sprachbedingte Genese dieser Begriffe zu machen. Könnte es nicht gerade schrecklich naiv sein, unhinterfragt einfach zu glauben, dass Denken einfach im Kopf stattfindet? Und sich emsig an der Frage abarbeiten, was denn notwendig sei, damit ein neuronaler Vorgang zu einem (inneren) mentalen Vorgang wird? Keine der in letzter Zeit entstandenen „Theorien des Bewusstseins“ (seien es reduktive Physikalismen oder nicht-reduktive Physikalismen wie Supervenienz- oder Emergenztheorien) erreichen dieses Ziel. Weil sie begriffliche Fragestellungen mit empirischen Fragestellungen verwechseln.
    Wenn man etwas über Geist, Bewusstsein, Denken verstehen will, muss die ganze Person in ihrer sozialen Interaktion ins Blickfeld genommen werden – der Begriff der „Person“ ist von HB (S.192) übrigens gar nicht so „verschwommen“ dargestellt. Mir erscheint es viel verschwommener, wenn philosophierende Neurowissenschaftler den komplexen Bewussteinsbegriff so „amputieren“, dass er ins Gehirn passt.
    Eine therapeutisch vorgehende Philosophie ist durchaus notwendig und alles andere als naiv.

    Mit freundlichen Grüßen
    Wolfgang Schupp

  31. @Wolfgang Schupp

    Lieber Herr Schupp,
    herzlichen Dank für Ihren anregenden Kommentar. Ich verstehe, dass Sie unter dem Eindruck von Wittgensteins Philosophie stehen. Ich finde, er hat auf einen sehr wichtigen Aspekt hingewiesen, ich leugne auch gar nicht eine Korrelation zwischen Denken und Reden, aber es ist in keiner Weise ausgemacht, dass jeder, der nicht sprechen kann, auch nicht denken kann. (Beim Kaspar Hauser-Beispiel machen sie m.E. aus einer Korrelation einen ursächlichen Zusammenhang. Taubstumm Geborene gelangen bei entsprechender Förderung heute auch zu einem respektablen intellektuellen Niveau. ) Aber natürlich können uns unsere Sprachgewohnheiten Zusammenhänge vorgaukeln, die einer genaueren Analyse nicht standhalten. Und so etwas aufzudecken, ist sicher interessant.

    Ich stehe unter dem Eindruck der Geschichte der Physik und der Naturwissenschaften, und die Frage danach, wie es zu unserem Gefühl des Bewusstseins kommen kann, ist für mich vom ähnlichem Kaliber wie es die Frage war, was Atome sind oder welche Eigenschaften denn der Äther hat. In diesen (und auch weiteren) Fällen aus der Geschichte der Physik war das Ziel der Bemühungen nie begrifflich klar, und rein philosophische Überlegungen hätten dabei auch keinerlei Fortschritt gebracht, weil, wie sich hinterher zeigte, die Lösung außerhalb der Reichweite der Vorstellungen der Philosophen lag. Ähnliches erwarte ich auch für den Fall, dass man versteht, wie Bewusstsein zustande kommt. Ausschlaggebend für eine Lösung in der Physik war schließlich die Kumulation experimenteller Befunde – unter welchen diffusen oder irrigen Vorstellungen auch immer erworben, durch die genügend unvoreingenommene Forscher zu ganz neuen Vorstellungen oder Ansätzen gelangten. Die Natur ist viel raffinierter als das, was wir durch logische Analyse von bisher Gedachtem oder Gesprochenem heraus bekommen können. Die Naturwissenschaft ist ja gerade durch die Überwindung des reinen Logizismus entstanden.

    Natürlich kann man nicht auf einen mentalen Vorgang im Kopf zeigen, das will auch keiner. Ich will bei einem Gas ja auch nicht auf die Temperatur zeigen, ich fühle (oder messe) sie und kann sie erklären durch die Bewegung der Konstituenten. So “fühle” ich auch mein Denken und Bewusstsein und weiß, dass die Hirntätigkeit dafür konstitutiv ist. Beim Gas kann man das alles sogar, wie Sie wissen, mathematisch beschreiben, beim Denken und beim Bewusstsein hat man leider noch keine Ahnung.
    Ich werde mir PU von Wittgenstein mal zu Gemüte führen. Vielen Dank für die Anregung.

  32. Kaspar Hauser

    Herr Schupp schreibt:

    » Nehmen wir als Beispiel einen Menschen wie Kaspar Hauser, der in sozialer Isolation aufgewachsen ist: Er hat zwar von innen und außen stimulierte „leibliche Widerfahrnisse“, aber er weiß nicht, dass er eine Empfindung hat. Er hat keine Begriffe, weil er keine Sprache gelernt hat und er kann deshalb auch nicht denken. (…). Kaspar Hauser würde auf der Stufe eines asozialen Säugetieres existieren. «

    Die Verhaltensbiologie kennt den Begriff vom “unbenannten Denken”, der vom Zoologen Otto Koehler geprägt wurde und der sich weitgehend mit der so genannten “averbalen Begriffsbildung” (Rensch) deckt. Dabei geht es um vorsprachliche oder nichtsprachliche Denkprozesse (experimentell schön nachweisbar bei Tieren mit Zählvermögen).

  33. Philosophie und Neurowissenschaft

    Lieber Herr Honerkamp (Balanus eingeschlossen),

    das Argument mit den Taubstummen, die eine beachtliche Intelligenz erreichen, trifft natürlich nicht: Auch Taubstumme erlernen eine Sprache.
    Dass man nicht auf die (geistigen) inneren Vorgänge zeigen kann, ist alles andere als selbstverständlich und harmlos. Warum ist denn immer von „inneren Vorgängen“ die Rede, wenn man von Bewusstsein und Geistigem spricht? Man meint damit offensichtlich mehr als nur die neuronalen Prozesse. Es ist aber auch keine bloß unschuldige Metaphorik oder eine etwas schlampige „facon de parler“, denn diese Rede von den „inneren Vorgängen“ trifft eine Vorentscheidung: Sie reduziert das Geistige auf Inneres und verliert dabei die personale und soziale Dimension (z.B. Spracherwerb) aus dem Auge. Könnte es aber nicht so sein, dass Bewusstsein und Sprache (mit ihrer ganzen sozialen Genese) eben nicht-separabel sind und genau dies zu den historischen Verwirrungen und Scheinproblemen beim Leib/Seele-Problem geführt hat? Bewusstsein als Explanandum einer neurowissenschaftlichen Theorie greift m.E. zu kurz – für viele Naturwissenschaftler mag dies eine (zu) widerborstige Kröte sein, die sie schlucken müssten.
    Der sogenannte „epistemische Dualismus“ (1.Person-Perspektive vs. 3.Person-Perspektive) verkennt, das die vermeintlich private Sicht (1 PP) immer auch eine durch den Spracherwerb öffentliche Sicht ist.
    Zum „unbenannten Denken“ und „averbaler Begriffsbildung“:
    Es scheint mir mehr als fraglich, ob das bei einigen Vögeln und Säugetieren beschriebene Verhalten dem entspricht, was wir mit bewusstem Verhalten meinen – sicher nicht mit sich selbst-bewusstem Verhalten. Die beschriebenen rudimentären kognitiven Fähigkeiten, die wir selbst Maschinen nicht absprechen wollen, obwohl wir ihnen kein Bewusstsein zugestehen (einige harte KI-Freaks vielleicht ausgenommen), sind Lichtjahre von dem sich selbst-bewussten Denken entfernt. Und wie man von kognitiven Prozessen zum Bewusstsein gelangt, war ja der bisher auch nicht im mindesten eingelöste Anspruch diverser „Neurophilosophien“ der letzten 20 Jahre. Wie sollte man denn ohne Sprache jemals zu propositionalen Einstellungen (etwas wissen, etwas wünschen, etwas meinen, etwas glauben….) kommen?
    Vielleicht bedarf es eben doch einer sozialen Lebensform (Schimpansen, Bonobos, vielleicht auch Elefanten und Delphine…), innerhalb der mit Hilfe einer sehr einfachen Sprache sich eine rudimentäre Vorform unseres sich selbst-bewussten Denkens entwickeln kann. Die Genese einer „Ich-Vorstellung“ (Rouge-Test) bei einigen Primaten wie bei Kindern im Alter von ein bis zwei Jahren könnte ein Hinweis darauf sein.

    Es freut mich, dass Sie sich Wittgensteins Philosophische Untersuchungen „zu Gemüte führen wollen“ – aber Vorsicht: Sie sind gerade in ihrer scheinbaren Einfachheit sehr sperrig.

  34. Lichtjahre

    Lieber Herr Schupp,

    Sie schreiben:

    » Die beschriebenen rudimentären kognitiven Fähigkeiten [mancher Tiere] […] sind Lichtjahre von dem sich selbst-bewussten Denken entfernt. Und wie man von kognitiven Prozessen zum Bewusstsein gelangt, war ja der bisher auch nicht im mindesten eingelöste Anspruch diverser „Neurophilosophien“ der letzten 20 Jahre. Wie sollte man denn ohne Sprache jemals zu propositionalen Einstellungen (etwas wissen, etwas wünschen, etwas meinen, etwas glauben….) kommen? «

    Bitte bedenken Sie, auch das sich selbst bewusste Denken ist aus ganz bescheidenen Anfängen hervorgegangen. Ob ein Lichtjahr nun viel oder wenig ist, liegt letztlich im Auge des Betrachters. Und ich möchte behaupten, dass unser kleiner Hund sehr wohl einiges weiß, meint, glaubt und sich auch manches wünscht. Anders zwar als ein Mensch, aber dennoch.

  35. @Wolfgang Schupp

    Ich stimme Ihnen zu, dass man “Wittgenstein” sich nicht so einfach “zu Gemüte” führen kann. Ich schätze auch durchaus sein Bemühen, unsere Sprachgewohnheiten zu hinterfragen. Wie Sie aber wissen, wurden durch die moderne Physik unsere Vorstellungsgewohnheiten hinterfragt. Das ist eine viel größere Nummer: Auf Begriffe wie Quant und verschränkte Zustände wäre man durch reines Nachdenken und Nachbohren nie gekommen. Aus unserer Befangenheit aufgrund unserer evolutiver Herkunft kommen wir m.E. nur heraus, wenn wir die Natur selbst befragen. Das war der Tenor meines Artikels.
    Ich verstehe jetzt auch besser den Hintergrund des Bemühens von Bennett, er ist “Wittgenstein-Fan”.

  36. “Klarheit kan nie schaden”

    Ich schließe mich dem Aufsatz von Elmar Diederich an.
    „nicht die Daten oder die zu erklärenden Effekte innerhalb der Neurowissenschaft zur Diskussion stehen, sondern die Schlüsse, die die Neuros daraus ziehen. Und eine direkte Konfrontation dieser Schlüsse mit der Natur ist deshalb nicht möglich, weil die Schlüsse mentale Phänomene betreffen“
    Hier trifft das Kernproblem, das zu Missverständnissen führt. Die Neurowissenschaft stellt einen Schnittpunkt der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften dar. Man muss sich auf ein einheitliches begriffliches Verständnis einigen, um kommuni-zieren zu können.
    Sehr geehrter Herr Honerkamp, sie schreiben:
    „worin denn nun der Schaden für die Neurowissenschaft wirklich liegt, wenn man – zugebenerweise etwas großzügig – lediglich dem Gehirn einer Person diese Fähigkeiten zuschreibt; dort passieren die entsprechenden Prozesse ja schließlich.“
    Ich würde es mit der Analogie eines Staates vergleichen. Kann man „großzügig“ nur das Verhalten der Regierung studieren, um zu verstehen, warum ein Staat sich auf eine und nicht andere Weise sich Umweltanforderungen stellt (z. B. Wirtschaftskrise)? Die Steuerung des Gehirns bedeutet nicht nur, dass es die Befehle verteilt. Es reagiert auf erste Stelle auf die Anforderungen der internen Einheiten des Körpers. Seine erste Aufgabe ist diese Anforderungen in größtmögliche Breite zu befriedigen und dabei die Ganzheit des Körpers zu gewähren. Der Bezug Körper-Gehirn äußert sich wie ein Henne-Ei-Prinzip: eins bedingt den anderen.
    Der Körper wird als ein Statist dargestellt. Es ist jedoch nicht der Fall. Denken wir mit dem Kopf, fühlen mit dem Körper. Es ist ein Fehler zu glauben, dass die biochemi-sche Stoffe und das Nervensystem, die die „normalen“ Zellen zur Teilnahme an dem Gefühl aktivieren, werden von Gehirn gesteuert. Sie geben einen Impuls, wie es z. B. eine sinnliche Wahrnehmung einen Impuls für einen bestimmten Gedankenweg gibt.
    Nur hier wird es der Körper im Ganzen aktiviert. Es ist die Demokratie des Körpers, in dem es in die Funktion des Gehirns zurückwirkt und lässt ihn immer erinnern, wofür es geschafft worden ist.
    Man kann mir den Fall der Schmerzempfindung (also ein Gefühl) vorführen, um eine Lokalisierung des Gefühls im Gehirn zu bestätigen. Ich meine hier den Fall mit amputierte Hand, wenn man den Jukreiz oder Schmerz trotz fehlender Hand empfin-det. Erstens, denke ich, dass diese Grundgefühle, mehr als andere benötigen Sofort-reaktion des Ganzen. Es muss ein Gehirn schmerzen, um den Not des betroffenen Teils hervorheben und die Primaria im dem „Tagesplan“ des Gehirns zu erzwingen. Da wir dabei den Schmerz nicht im Gehirn – in der Hand – empfinden, zeigt evolutio-när notwendige Verknüpfung. Es bringt nichts, wenn wir ein Schmerz empfinden, aber ihn nicht zuordnen können (was durchaus öfter passiert).
    Zum Zweiten, denke ich, dass das Gehirn speichert und ruft die Informationen ab, die er sowohl von außen als auch von innen erhalten hat. Man kann auch visuelle, akus-tische oder olfaktorische Vorstellungen mehr oder weniger erfolgreich abrufen. Daher halte ich auch für möglich, dass ein Gehirn die komplexeren Gefühle nachbilden kann. Jedoch würde ich es eher als Ausnahmefall betrachten, wie ein Ausnahmefall ist, in dem Kopf eine gesehene Oper „buchstäblich“ abspielen lassen. Man würde auch hier sich mit akustischer Hilfe (dem Nachsingen, dem Musikinstrument) sich erinnern zu helfen. Projizierend auf Beziehung Körper-Gehirn: das Gehirn muss den Körper um Hilfe bitten, wenn es den Gefühl nachbilden wollte.

    Es sind alle Überlegungen, die noch naturwissenschaftliches und logisches Feld nicht überschreiten. Anders wird, wenn das Gehirn (unter der Annahme, dass dieser Begriff auf das Ganze ausgedehnt wird!) mit dem Phänomen des Erlebnisses gleich-gesetzt wird. Wenn es stillschweigend angenommen wäre, dass es nur um die Emergenz des neuronalen Netzes – um den Mehrwert – ginge, würde ich noch ein-verstanden. Letztendlich ist bei Begriffen wichtig nur, dass sie von allen Teilnehmern des Kommunikationsnetzes gleich gedeutet wurden. Es ist aber nicht der Fall. Immer öfter trifft man auf den Aussagen, die eindeutig die Funktion des Gehirns mit dem Erlebnis gleichsetzen. Man trifft ein Phänomen, dass man das eigene Existenzmedi-um – das Mentale – schlichtweg ignoriert. Man erhielt ein Blindes Fleck.
    Daher finde ich, zurück zum Hauptartikel kehrend, richtig die Definitionen und Begriff-lichkeit klären. Sie müssen nicht unbedingt ihre Ursprungsbedeutung behalten, sie müssen aber in dem bestimmten Zusammenhang eine Eindeutigkeit erlangen. „Klarheit kann nie schaden“ – Ihre Zitat…
    Es ist eine längere Post geworden, daher möchte ich mich entschuldigen für meine Sprach-Fehler. Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Daher schreibe und lerne ich gleichzeitig. Wobei Lernprozess in meinem Alter fällt schwerer aus.

  37. Verlierer und Versager

    „Wissenschaft entwickelt sich in einem Evolutionsprozess und es gibt eben keine Evolution ohne Verlierer oder Versager“.
    Diese Satz korrespondiert sehr mit dem egoistischen Gen von Richard Dawkins, mit der Versklavung, mit der einige Autoren Endosymbiose beschreiben, mit dem „Über-leben des Stärkeren“ in veralteten Auffassung der Evolutionstheorie. Ich finde, es muss viel vorsichtiger mit den wertenden Begriffen umgehen, da sie sich häu-fig falsch erweisen.

    Wobei es auch ein Musterbeispiel für kulturelle Evolution ist. Die Begriffe formen un-ser Bewusstsein, in dem sie in die Hierarchie der Werte eingreifen. Wenn diese Wir-kung auch durch näheres kulturelles Umfeld, in dem Fürsorge, friedliches Beisam-mensein herrscht, kann teilweise neutralisiert werden, es entsteht eine Gefälle, die den Trend noch verstärkt. Das Wachstum der Bedeutung der eigener Durchsetzung koppelt an das kulturelle Umwelt zurück, in der man versucht sich mit den Ellenbogen durchzusetzen. Die Individualisierung als Folge der Durchsetzung des eigenen Egos macht die Menschen einsamer und unglücklicher. Daher muss diesem Trend nach die Erreichung seiner Tiefe ein Ausweg folgen. Der Ausweg, den die Selbstorganisationsfähigkeit einer Gemeinschaft zu tage bringen wird. Mal sehen, was da kommt…
    Zurück zur vorigen Diskussion über den Mensch (als eine materielle Gestalt und den Träger des Mentalen) und der Begrifflichkeit. Ich frage mich, in wie weit werden wir Erfolg haben, wenn wir das Mentale bis auf sein Grund erforschen könnten. Es ist sehr interessantes Thema, jedoch der Antwort, wenn er auch möglich wäre, bringt uns nicht näher zur Klärung der s. g. kulturellen Evolution. Wie in oberem Beispiel dargestellt, die Evolution nimmt übergeordnete Ebene in Anspruch. Es ist ein Kom-munikationsnetz der Menschen, in dem ein Mensch durch Generationswechsel eine Fluktuation darstellt. Die Reduzierung auf einen Menschen, das übergeordnete Netz aus der Analyse zu streichen (was zwangsläufig in der Neurowissenschaft passiert), bringt uns nicht den erhofften Erfolg. Es ist meine tiefste Überzeugung. Das Mentale wird von der Umwelt geformt, emanzipiert sich zunehmend und koppelt gestaltend auf die Umwelt zurück. Es ist auch Prinzip der biologischen Evolution (Das Lebewesen ändert die Umwelt, an die das Leben anpassen muss). Es ist auch Prinzip der kosmologischen Evolution (die Sterne verändern gravitativ und stofflich ihre Umwelt und greifen somit in die Entstehung der nächsten Sterne).

  38. @Irena Pottel

    Liebe Frau Pottel, Sie schreiben, “Immer öfter trifft man auf den Aussagen, die eindeutig die Funktion des Gehirns mit dem Erlebnis gleichsetzen. Man trifft ein Phänomen, dass man das eigene Existenzmedium – das Mentale – schlichtweg ignoriert.” Ich muss gestehen, den Eindruck habe ich nicht: Ich habe immer den Eindruck, dass es so ist wie Sie formulieren: “Wenn es stillschweigend angenommen wäre, dass es nur um die Emergenz des neuronalen Netzes – um den Mehrwert – ginge, würde ich noch einverstanden.” d.h. ich meine, es steht immer der Emergenz-Gedanke dahinter. Wie könnte man denn die eigene Innenwelt ignorieren?
    Ich denke, wir unterscheiden uns nur in der Wahrnehmung. Auch in “„Wissenschaft entwickelt sich in einem Evolutionsprozess und es gibt eben keine Evolution ohne Verlierer oder Versager“.” denke ich nicht an Versklavung sondern an Vorstellungen wie Äther, Phlogiston oder die Webersche Theorie des Elektromagnetismus.
    Im Übrigen kommt es Ihnen wohl darauf an, das man die Dinge, Gehirne oder Menschen nicht isoliert betrachtet sondern stets auch die Wechselwirkung mit der Umwelt im Auge behält. Da kann ich auch nur zustimmen. Es wird vielleicht oft nicht genügend betont, weil man das schon zu sehr verinnerlicht hat. Was würde ein Gas sein ohne Wechselwirkung der Konstituenten: ein freies, ziemlich langweiliges Gas – keine verschiedenen Aggregatzustände, Phasenübergänge usw. Und mit Menschen, die nicht miteinander agieren, können Sie auch keinen Staat machen. Erst durch die Wechselwirkung treten ja auch neue Systemeigenschaften auf (Emergenz) und wird es interessant.

  39. Ich glaube, ihre Problematik ist jene, dass sie nicht wirklich verstanden haben bzw. verstehen wollen (ich tippe auf letzteres), was der eigentliche Gegenstand der Philosophie ist. Mit Sicherheit ist er nämlich nicht das Betreiben von naturwissenschaftlicher Forschung. Macht man sich das klar, so sind ihre Argumente meiner Ansicht nach zu einem großen Teil hinfällig, da ihre Betrachtung der Probleme in keinster Weise mit der philosophischen Betrachtung korrelieren. Ich finde, das ist einer der zentralen Gründe für die weit verbreitete Nichtakzeptanz von Geisteswissenschaften seitens der Naturwissenschaftler.

  40. Philosophie und Naturwissenschaft

    Philosophen können also nichts zu den Naturwissenschaften beitragen? Mir fallen auf Anhieb Namen von Klassikern wie Mach,Schlick, Popper, Lorenz, Riedl, Weizsäcker etc. ein, die in beidem zuhause waren. Eine schöne lange (angelsächsisch dominierte) Liste von Namen findet sich im Anhang zu “Philosophy of science” in der englischen Wikipedia. Und z.B. auf http://commonsenseatheism.com/?p=12409 (“Philo-Explainer” finden sich zwei Dutzend prominente Namen von Doppelbegabungen mitsamt Hinweisen auf ihre Leistungen in verschiedenen Diszipilinen, und zwar als Replik auf Hawkings etwas überhebliche (inorante?) Behauptung “Philosophy is dead” in “The Grand Design”,und dazu die Frage: “If philosophy is dead, why is Hawking himself doing so much of it?” plus Richtigstellung (“It might also be fair to say that the mainstream of (analytic) philosophy is more scientific than ever”) plus Erläuterungen.
    Und dafür war nur eine kurze Recherche nötig!
    Mit freundlichen Grüßen

  41. @Karl Steinkogler

    Moritz Schlick hat zwar als Physiker promoviert, ist aber eher als Philosoph zu betrachten. Er hat eine sehr schöne Schrift über die Einsteinschen Relativitätstheorien verfasst, aber zur Physik nichts beigetragen, wie übrigens auch der Philosoph Popper nicht. Mach und Weizsäcker sind von Hause aus Fachwissenschaftler (Physiker), die zu Philosophen geworden sind. Ähnlich steht es um die Zoologen Lorenz und Riedl. So herum geht es also, weil man die fachspezifischen Fragen in philosophischer Weise diskutieren kann (und soll). Und genau das habe ich auch betont und dabei zeigen sich auch Doppelbegabungen. Hier wäre Albert Einstein als bestes Beispiel anzuführen.
    Mir ging es darum, ob Fachphilosophen an der Front der Forschung eines anderen Faches etwas beitragen können. Das war die Hoffnung von Bennett. In jedem Fach geht es natürlich auch mehr oder wenige um philosophische Fragen, es ist aber die Aufgabe der Fachwissenschaftler, diese zu diskutieren und nur diese können das “fachgerecht”.
    Das manche Philosophen Experiomente machen, ist begrüßenswert, besagt auch noch nicht viel. Spinoza hat auch Experimente gemacht, hat aber nichts zur Physik beigetragen. (Dennoch schätze ich ihn sehr.)
    Den Slogan “Philosophie ist tot” mache ich mir auch nicht zu eigen. Im Gegenteil. Unsere Altvorderen Newton, Huygens, Boyle etc. waren u.a. auch Philosophen. Damals musste man sich auch immer noch mit dem christlichen Weltbild auseinander setzen. Heute sind Mach, Weizsäcker und Einstein die Vorbilder.

  42. Josef Honerkamp

    Wenn man nur “reine” Philosophen als Philosophen gelten lässt und letztlich somit fragt, ob etwa Rechtsphilosophen etc. Wesentliches zu den Naturwissenschaften beitragen können, dann muss man nach dieser Logik natürlich zwingend zu dem Schluss kommen,dass dies nicht der Fall sein kann.
    Ich verweise nochmals auf den Artikel in CommonSenseAtheism.
    Mit freundlichen Grüßen

  43. @Karl Steinkogler

    Es geht nicht nur um Rechtsphilosophen, sondern um alle, die keine Ausbildung in der bestimmten Fachwissenschaft haben und nicht darin einige Zeit mit Erfolg gearbeitet haben, z.B. auch Popper. Dieser hat auch nie behauptet, er hätte etwas zum Fach Physik beigetragen. Er hat sich der Entwicklung und dem Schicksal von Theorien beschäftigt aber nicht mit den Theorien selbst.
    Bei diesen muss man noch unterscheiden zwischen den Ergebnissen (Fakten, Relationen) und den Konzepten, die diese Ergebnisse in eine logische Ordnung (Theorie) bringen. Wenn es um die Gestaltung der logischen Ordnung geht, dann ist das eher philosophisch, aber es stimmt nicht, was der Autor Ihres empfohlenen Artikels sagt: “Much of the debate […] in how we should interpret quantum mechanics, turns out to be philosophical and not scientific.” Diese konzeptuellen Fragen sind auch(!) “scientific”, gehören sogar zum Kern des “scientific”. Die Dichotomie von “scientific” und “philosophical” ist falsch.
    Die Frage in meinem Artikel war nun, ob Personen, die keine Ausbildung in der bestimmten Fachwissenschaft haben und nicht darin einige Zeit mit Erfolg gearbeitet haben, zu dieser Konzeptbildung Entscheidendes beitragen können. (Darüber reden oder schreiben tun wohl schon mehrere; man merkt aber sofort, ob entsprechendes Wissen dahinter ist.) Dafür kennen sie das, was sie in eine logische Ordnung bringen wollen, gar nicht genügend gut. In der Physik kenne ich keinen Fall, in der Biologie haben mich die Beispiele Ihres Autors auch nicht überzeugt, obwohl ich die Referenzen z.T. sehr interessant fand. Ihr Gewährsmann unterschätzt vermutlich die Komplexität einer Fachwissenschaft. Als jemand, der ein Studium der Philosophie der Religionen abgebrochen hat und nun IT-Spezialist ist, hat er allerdings erstaunlich rationale und eigenständige Gedanken. Nur sein missionarischer Eifer stört mich ein wenig.
    Den Slogan “philosophy is dead” von Hawking würde ich im Übrigen auch nicht so wörtlich nehmen. Das sind so Marketing-Tricks. Er meint wohl höchstens die spekulative Naturphilosophie.
    Auch mit freundlichen Grüßen

  44. Dichotomie

    Die Dichotomie von “scientific” und “philosophical” ist falsch.

    Ist das in etwa so gemeint, dass bspw. derjenige, der die Befunde liefert, der Physiker, und derjenige, der die Gesetzmäßigkeit setzt, nehmen wir mal das Gravitationsgesetz, der Philosoph, nicht sinnvoll zu trennen ist, weil der Physiker ohnehin fortlaufend “physikphilosophisch” schafft und wegen dieser engen Verbindung der fachfremde philosophische Rat oft nicht hilfreich ist bzw. oft nicht hilfreich sein kann?

    MFG
    Dr. W

  45. @Dr. Webbaer

    Ja, genau – hierzu besonders treffend: Einstein: Mein Weltbild (siehe auch Zitat in meinem jüngsten Blog). Nur noch eins: Der “fachfremde philosophische Rat” ist nicht wegen der “engen Verbindung” zwischen Physik und kreativen Erdenken von Prinzipien im Angesicht physikalischer Tatsachen nicht hilfreich, sondern weil einfach der Fachfremde dem Fach zu fremd ist. Erst wenn man mit allen Facetten eines Problems aufs Tiefste vertraut ist, kann man – wenn man dann noch genial ist – vielleicht eine Idee entwickeln, die erfolgreich und folgenschwer eine logische Ordnung erzeugt (siehe z.B. Einsteins Weg zur Relativitätstheorie).

  46. @Honerkamp

    Erst wenn man mit allen Facetten eines Problems aufs Tiefste vertraut ist, kann man – wenn man dann noch genial ist – vielleicht eine Idee entwickeln, die erfolgreich und folgenschwer eine logische Ordnung erzeugt (siehe z.B. Einsteins Weg zur Relativitätstheorie).

    Das wäre dann wohl als Dissens gut beschrieben. – Der Philosoph kann aus eigenem Verständnis heraus, auf Meta-Ebene, aus dem Verständnis von möglichen Welten heraus, durchaus den Anspruch erheben hilfreich zu sein, wenn nicht (auf physikalischer Grundlage) bestimmend.

    Wenn der Schreiber dieser Zeilen bspw. Hawking richtig verstanden hat, dann argumentiert dieser ebenfalls weitgehend philosophisch [1], das Kann betreffend, weitgehend im epistemologischen Sinne vom empirischen Befund gelöst, wenn natürlich nicht gegenredend.

    MFG
    Dr. W

    [1] die Marketinglage scheint dem, wie geschildert, zu widersprechen

  47. Wenngleich dieser Beitrag und die Antworten schon etwas älter sind – das Netz spuckt es eben auch jetzt noch als Antwort aus. Daher meine Replik.

    Woher kommt eigentlich die Ansicht, Philosophen seien allesamt “Lehnstuhl-Denker”? Ich kann mir keinen uninformierten philosophischen Denker vorstellen. Es besteht aber ein relevanter Unterschied zwischen “informiert” und “abgerichtet”! Haben Sie, Herr Honerkamp, schon einmal darüber nachgedacht, dass es auch bei dieser Tätigkeit Abstufungen geben könnte?
    Ist es nicht interessant, dass es in unserer Gesellschaft diesen Ort namens Philosophie zu geben scheint, an dem sich bloße Besserwisser, Selbstdarsteller und Wortakrobaten versammeln dürfen – oder gar sollen? Ist nicht diese soziale Praxis eher hinterfragenswert als das philosophische Tun an sich (das eben gerade nicht uninformiert, unmotiviert und selbstgenügsam ist)?
    Zugegeben, auch ich habe in Veranstaltungen gesessen, deren Thema ‘Neurophilosophie’ war, und bis auf den Dozenten schien sich kein weiterer Teilnehmer zuvor zumindest grundlegend mit Hirnstrukturen auseinandergesetzt zu haben. Gut, es kann als Einführungsveranstaltung kategorisiert werden (seit dem Bologna-Prozess muss vieles wohl so eingeordnet werden) und irgendwann muss schließlich jeder einmal einen Anfang machen. Ich war trotzdem befremdet.
    Trotzdem ist es gerade ein Vorteil, nicht zu tief in der Materie zu stecken. Betriebsblindheit und gedankliche Verwirrungen sind weder eine seltene Eigenschaft noch eine besonderer Makel von Spezialisten. Dass man nur einen bestimmten Ausschnitt eines Bildes sieht, den man bereits für das gesamte Bild hält, kann einem oft nur durch mehr oder minder unbefangene Andere klar gemacht werden. Das geht dem Naturwissenschaftler nicht anders als dem Philosophen – und kommt bei keinem der beiden häufiger vor als beim je anderen! Es ist vielmehr eine ganz alltägliche Beobachtung. Doch allzu oft ist gerade das am besten versteckt, was ganz offen zutage liegt.

    Was an diesem Beitrag hier auffällt, ist etwas, das ich bei “harten Naturwissenschaftlern” auffallend häufig beobachte: die Haltung, es gebe “harte Fakten” und “Gelaber”, also Aussagen des eigenen Faches und Aussagen der “Laberfächer.” Ja, vielleicht haben Sie nur Laberstunden erlebt in Schule, Studium oder sonstwo, wenn es um “philosophische Themen” ging. Diese bringen auch mich regelmäßig in die Lage, tief durchatmen zu müssen. Was soll’s?
    Es zeigt sich aber gerade an diesen Beispielen ein Sachverhalt, der auf die “Empiriker” nicht minder zutrifft: Wir können uns als soziale Wesen sehen, die als solche auch bei scheinbar sachbezogenen Diskussionen bei weitem nicht nur – oder überhaupt vordergründig – mit den ‘besprochenen’ Dingen beschäftigt sind.
    Allein die genannte Kategorisierung und vor allem Hierarchisierung geben davon beredtes Zeugnis. Es ist sehr schön, wenn jemand “harte Fakten” als Sicherheit stiftendes Mittel gefunden hat. Das gibt auch Selbstsicherheit. Es gibt allerdings auch andere Menschen, denen diese nicht zur Verfügung stehen, weil ihre Neugier oder ihr Zweifel überwiegen. Vielleicht brauchen sie auch einfach nicht solche sicheren Anker… wie auch immer. Unter Naturwissenschaftlern habe ich zumindest keine allzu zweifelsanfälligen Persönlichkeiten kennen gelernt. Wenn man nicht sowieso gerade eine Flut von Daten auswendig lernen oder gar “verstehen lernen” muss, die häufig ganz offiziell nur zur Lichtung der Studierendenzahlen über einen ergossen wird, hört man bereitwillig, wie denn die Faktenlage so ‘ist.’ Dass jeder Naturwissenschaftler mit Wissenschaftsgeschichte oder nur -theorie vertraut sei, ist mir neu. Und auch da gibt es verschiedene “Angebote.” Ich fand die Ansichten von Thomas S. Kuhn oder Ludwik Fleck ziemlich inspirierend. Mein Interesse zielt aber auch gerade auf die sozialen (Vor)Bedingungen von Wissenschaft. Anderen erschienen diese nur als Geplänkel; sie waren auf sicherere Aussagen aus.
    Was “Sicherheit” so alles bedeuten kann, wie sie wirksam wird und welche (im wahrsten Sinne des Wortes) grundlegende Stellung sie in unserem Laben innehat, können Sie mit Gewinn in den Aufzeichnungen des bereits erwähnten Ludwig Wittgenstein lesen, die unter dem Titel “Über Gewissheit” erschienen sind. Oder sagen wir es so: es würde mich interessieren, was Sie aus ihnen ziehen, denn es ist m.E. eine der am stärksten fehlgeleitet und unfruchtbar interpretierten Publikationen – auch innerhalb der “Fachphilosophie.” Die Abkürzung einer Zusammenfassung in der Sekundärliteratur führt zu nichts oder gar zu Unfug. Aber es ist gerade dadurch eine Art “Indikator” für die Haltungen und Gewichtungen seiner Leser.

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