Emergente Phänomene

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Wenn man heute über Emergenz redet oder schreibt, steht man in Gefahr den Eindruck zu erwecken, man wolle auf einen ohnehin zu voll besetzten Zug auch noch aufspringen. Oft wird das Wort in die Debatte eingeworfen – mit einem unbestimmten Anspruch, man hätte damit den Kern der Sache irgendwie getroffen. Mehr oder weniger gut nachvollziehbare Definitionen werden angeboten, Wikipedia spricht von einer "spontanen Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente" und erwähnt, dass George Henry Lewis schon 1875 diesen Begriff zum ersten Mal "im Zusammenhang mit der Erklärung von Bewusstsein" verwendet habe. In Metzlers Philosophie-Lexikon findet man die kryptische Aussage, dass Emergenz " durch Neuheit und Unableitbarkeit aus tieferen Schichten der Realität gekennzeichnet" sei. In dem Kampf der amerikanischen Physiker um öffentliche Aufmerksamkeit und Gelder wird die Emergenz von den Festkörperphysikern gar zum vorherrschendem Prinzip hochstilisiert und dem "kruden Reduktionismus" der Teilchenphysiker entgegen gehalten.  
Wenn man genauer hinhört, hat fast jeder eine etwas andere Vorstellung von diesem Begriff, offensichtlich haben die intellektuelle Sozialisation und Atmosphäre, in der man aufgewachsen ist bzw. lebt, einen großen Einfluss darauf. In dem Beitrag "Emergenz" hatte ich schon meine Sicht auf diesen Begriff dargelegt, möchte aber nun einiges nachschieben, auf das ich danach durch viele Diskussionen geführt worden bin. Natürlich bleibt es die Sicht eines Physikers, und ich werde nicht behaupten, die einzig richtige Vorstellung von dem Begriff zu haben. Begriffe sind schließlich Denkwerkzeuge, und in jedem Gebiet darf man sie so zurichten, dass sie einem gute Dienste leisten. So möchte noch einmal darlegen, in welchem Gewand sich dieser Begriff in der Physik zeigen kann.

Systeme, emergente Begriffe, Phänomene und Gesetze auf zwei Ebenen
Der Hintergrund für jedes Reden über Emergenz ist der Begriff des Systems. Jeder weiß intuitiv, was man unter einem System versteht: eine Gesamtheit von Objekten, die in solcher Weise in Beziehung zu einander stehen oder untereinander wechselwirken, dass sie gegenüber der Umgebung als eine Einheit wirken. Irgendwann in der kosmologischen Entwicklung hat die Materie zu klumpen begonnene, es bildeten sich gebundene Systeme: Nukleonen, Atome, Moleküle – Systeme entstanden. Heute finden wir große und sehr unterschiedliche Mengen von solchen Klumpen, Systemen auf allen Größenordnungen. Die gesamte Naturwissenschaft besteht in der Identifikation von Systemen, in deren Studium und in der Aufklärung ihres Aufbaus aus Untersystemen. Alle Dinge, die wir mit unseren Sinnen erfassen können, sind Systeme von Atomen oder Molekülen:  Zellen bestehen aus Molekülen und Organismen aus Zellen; und schließlich kann man sogar auch Gesellschaften als Systeme von Menschen betrachten.
Nun kann an einem System immer Eigenschaften beobachten, die gegenüber den Eigenschaften der Untersysteme oder Konstituenten ganz neu sind, weil sie sich erst durch das Zusammenspiel der Konstituenten ergeben. Diese "Emergenz", dieses Auftauchen ist also ein nicht überraschendes Phänomen. Man kann es bei allen komplexen Systemen beobachten, dabei muss das System nicht einmal sehr komplex sein, schon eine Wasserstoffatom zeigt andere Eigenschaften und Phänomene als ein Proton oder ein Elektron allein, ein Schwingkreis andere als ein Kondensator und ein Widerstand allein.
In meinem Blogbeitrag "Emergenz" hatte ich in diesem Sinne schon das System "Gas, bestehend aus vielen Molekülen" diskutiert. Die neuen Eigenschaften waren z.B. die Temperatur oder der Druck, die zweifellos nur Eigenschaften des Systems "Gas" sind, denn Moleküle, aus denen die Gase bestehen, besitzen keine Temperatur, keinen Druck. Natürlich gibt es auch Eigenschaften des Gases, die auch den Molekülen eigen sind, z.B. besitzen Moleküle wie das Gas eine Energie.
Nun sind Begriffe, insbesondere die emergenten Begriffe "Temperatur" und "Druck" eigentlich nur Konstrukte unseres menschlichen Geistes – höchst nützlich, leicht messbar, aber es sind eben Eigenschaften, die wir dem System zuschreiben, ein Mittel zu dem Zweck, einen quantitativen Zugang zu den Beobachtungen zu erhalten. Um bei einem System auf etwas Neues hinweisen zu können, das auch in der Welt und nicht nur in unseren Köpfen wirkt, müssen wir danach Ausschau halten, ob das System ganz anders in der Welt agieren kann als seine Konstituenten allein, ob es also emergente Phänomene gibt. In der Tat: Ein Gas kann zu einer Flüssigkeit kondensieren, diese kann wiederum zu Eis gefrieren, wenn wir die Umgebung entsprechend einrichten. In den verschiedenen Phasen kann das System ganz verschieden in der Welt agieren: Eine Wolke kann abregnen, das Wasser kann in Gesteinsspalten eindringen und beim Gefrieren den Stein sprengen. Dass auf diese Weise "das Ganze mehr ist als Summe seiner Teile" ist für uns eigentlich auch eine Selbstverständlichkeit, aber diese Betrachtung lehrt uns, dass wir unterscheiden sollten zwischen emergenten Phänomenen, die in der Welt Veränderungen hervorrufen und emergenten Begriffen, mit deren Hilfe wir diese Phänomene studieren.  
Und noch etwas ist bei diesem Paradebeispiel für Emergenz gut zu erkennen: Es gibt zwei wohl bestimmte Ebenen der Betrachtung, und auf jeder Ebene können wir Regelmäßigkeit erkennen und in Form von Naturgesetzen quantitativ fassen. Auf der oberen Ebene des Systems "Gas" kennen wir die "Gasgesetze", z.B. jenes, das besagt, dass bei einem Gas (hinreichender Verdünnung) der Druck p in bestimmter Weise, nämlich in Form von p = NkT/V vom Volumen V, von der Temperatur T und der Anzahl N der Moleküle abhängt, wobei k eine Naturkonstante ist. Dieses Gesetz hatte man schon experimentell gefunden, bevor man überhaupt von Molekülen reden konnte, bevor man also das Gas als System von Konstituenten auffasste. Die "Thermodynamik" ist ein eigenständiges Gebiet, in dem allgemein die Beziehungen zwischen den Eigenschaften des Systems "Gas" ohne Hinblick auf eine untere Ebene studiert werden.   
Die Gesetze auf der unteren Ebene der Moleküle sind von ganz anderer Art; im Falle des Systems "Gas" gibt es im wesentlichen nur ein Gesetz, nämlich dasjenige, das die Kräfte zwischen den Konstituenten beschreibt.  
Bei den System "Gas" kann man also emergente, d.h. systemspezifische Eigenschaften, Phänomene und Gesetze erkennen. Die Eigenschaften und Gesetze sind von uns formuliert, die Phänomene beobachten wir, und auf die möchte ich das Hauptaugenmerk richten.

Emergenz und Reduktion am Beispiel des Systems "Gas"
Das System "Gas" wird ja im Zusammenhang mit dem Begriff Emergenz immer gerade deshalb als Paradebeispiel erwähnt, weil die Beziehungen zwischen der Eigenschaften und Gesetzen der beiden Ebenen klar heraus gearbeitet werden können, und dadurch das doch schon sehr komplexe Verhalten wie das Sieden oder Gefrieren einer Flüssigkeit völlig auf der Basis der Eigenschaften der Konstituenten verstanden werden kann. In der Statistischen Mechanik wird dieses Programm ganz explizit und mathematisch streng durchgeführt.
Der Schlüssel zu einer Beziehung zwischen Systemgrößen und Eigenschaften der Konstituenten sind die Begriffe "Mikrozustand" , "Makrozustand" , "Entropie" und "Gleichgewichtszustand" . Der Mikrozustand des Gases, der auf der Ebene der Konstituenten das Gas charakterisiert, ist hier gegeben durch die Angabe der Orte und Impulse aller Konstituenten. Der Makrozustand ist hingegen bestimmt durch die Eigenschaften des gesamten Gases, durch solche Größen wie seine Energie, das Volumen, das es einnimmt, durch die Anzahl der Moleküle, usw. Ein Makrozustand kann offensichtlich durch sehr viele verschiedene Mikrozustände, also Kombinationen von Orten und Impulsen der einzelnen Konstituenten realisiert sein. Man betrachte nun z.B. ein Gas, das völlig isoliert von seiner Umgebung ist und sich in einem Makrozustand, charakterisiert durch eine bestimmte Energie E, ein Volumen V und einer Teilchenanzahl N, befindet. Man habe dieses Gas für eine genügend lange Zeit sich selbst überlassen, so dass z.B. sich alle eventuell anfänglich vorhandenen Dichteunterschiede im Gas ausgeglichen haben. Man spricht von einem thermodynamischen Gleichgewicht, in dem sich das Gas dann befindet.
In diesem Zustand sollte es keine Unterschiede zwischen den möglichen Mikrozuständen geben, jeder sollte mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu jeder gegebener Zeit realisiert sein. Diese kann man ausrechnen und in dem mathematischen Ausdruck für diese Wahrscheinlichkeit gehen die Kräfte zwischen den Molekülen ein. Dies ist das Bindeglied zwischen den beiden Ebenen, der Ansatz, aus dem alles andere auf der oberen Ebene ableitbar ist:
Man wird auf den Ausdruck für die Entropie in Abhängigkeit von E,V und N geführt und auch auf weitere mathematische Ausdrücke, die sich als das entpuppen, was wir gemeinhin mit Temperatur und Druck eines Gases benennen, d.h. aus den Gleichungen erkennt man, dass die so gebildeten mathematischen Größen genau so messbar sein müssen, wie man es von der Temperatur bzw. vom Druck her kennt. Auf solche Weise entstehen also die emergenten Begriffe Temperatur und Druck, und die emergenten Gasgesetze werden dabei gleich mitgeliefert. Wenn man nun die entsprechenden Gasgesetze analysiert, entdeckt man auch die emergenten Phänomene, z.B. dass bei einem Druck von 1 atm und einer Temperatur von 100 Grad Celsius das System eine starke Volumenvergrößerung erfährt – beim Kochen wird aus Wasser Wasserdampf. So kann man aus einem einzigen Ausdruck für die Wahrscheinlichkeit den gesamten Begriffsapparat und alle Gesetzmäßigkeiten der Thermodynamik generieren. Und in diesem Ausdruck für die Wahrscheinlichkeit steckt die Information über die Kräfte, die die Konstituenten auf einander ausüben. Dadurch ergibt sich die Abhängigkeit der Phänomene und Gesetze von der Art der Konstituenten.
Das Phänomen der Emergenz kann man in diesem Sinne, "mit der Blickrichtung von unten nach oben", noch an vielen anderen Systemen beobachten und es ist eigentlich selbstverständlich. Bei dieser Entzauberung der Emergenz möchte man meinen, dass man ganz auf diesen Begriff verzichten könnte. Aber die Unterscheidung der beiden Ebenen ist schon nützlich, auch die Unterscheidung in emergente und nicht-emergente Eigenschaften. Letztere, wie z.B. die Energie, sind auf allen Ebenen relevant, emergente nur auf der oberen Ebene.
Hier bietet sich auch ein Wort zu dem ebenso umkämpften Begriff "Reduktion" an. In diesem systemtheoretischen Kontext ist Reduktion nichts anderes als der Rückweg von "oben nach unten", die Erklärung der emergenten Eigenschaften durch die Eigenschaften der Moleküle. Dabei aber zu formulieren, dass Wasser "nichts anderes" sei als ein Haufen von Molekülen, stellt eine irreführende Verkürzung dar. Die Kräfte zwischen Molekülen sind es ja gerade, die verantwortlich sind für all die emergenten Phänomene und die ihre spezielle Ausprägung bestimmen. Das kann man in dem ganzen mathematischen Apparat sehr gut sehen, denn wenn man unterstellt, dass es diese Kräfte gar nicht gibt, dann verschwinden auch die emergenten Phänomene. Auch wird man thermodynamische Überlegungen, also die Nutzung der Begriffe und Gesetze der oberen Ebene für Anwendungen und weitere Schlussfolgerungen nicht gering achten, nur weil man die "Herkunft" der Gesetze schließlich kennt. Das Aufsteigen auf die höhere Ebene ist ja ein notwendiger Schritt, um der Komplexität Herr zu werden.
In dieser Blickrichtung von "unten nach oben" habe ich den Begriff der Emergenz in einer ganz bestimmten Weise vorgeführt. Soll dieses Beispiel prototypisch für emergente Phänomene sein, so wären dann diese immer solche, bei denen eine Erklärung möglich ist und das Zusammenspiel der Konstituenten eine bedeutsame Rolle dabei spielt. Ein Naturwissenschaftler spricht aber auch dann gerne von einem emergenten Phänomen, wenn er dieses nicht naturwissenschaftlich erklären kann, aber annimmt, dass dieses irgendwann auf solche Weise doch möglich sein wird. Dahinter steht die Erfahrung, dass in der Vergangenheit der Fortschritt der Naturwissenschaft stets alle unsere Vorstellungen überholt hat. Im Blick sind dabei natürlich noch komplexere Ausdrucksformen der Materie und nicht solche unseres menschlichen Geistes.

Weitere emergente Phänomene: Strukturbildung, Realität
Die Gleichgewichtsthermodynamik und ihr Verständnis im Rahmen der Statistischen Mechanik hat auf die Zeitgenossen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts großen Eindruck gemacht. Man verstand damit auch das irreversible Verhalten und konnte das Streben eines jeden abgeschlossenen Systems ins Gleichgewicht verklären. Im Gleichgewichtszustand aber gibt es keine Strukturen, keine Prozesse. Alle Systeme aber, die irgendeiner Form "leben", in denen Prozesse stattfinden oder gar Strukturen und Ordnung aufrechterhalten werden, müssen demnach in einem Nichtgleichgewicht sein bzw. ständig Nichtgleichgewichtszustände durchlaufen. Hier sind nicht mehr alle Mikrozustände gleich wahrscheinlich, Ordnung in meinem Arbeitszimmer heißt ja z.B. auch, dass ein Buch auf meinem Schreibtisch liegt und nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf einem beliebigen Platz im Zimmer. Unsere Welt ist also eine riesige Ansammlung von Nichtgleichgewichtssystemen, in denen Strukturen ständig durch das natürliche Streben ins Gleichgewicht vom Zerfall bedroht sind und diesen auch irgendwann schließlich erleiden.
Das Entstehen bzw. die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Strukturen ist offensichtlich ein emergentes Phänomen von Nichtgleichgewichtssystemen. Um dieses zu erklären, muss man solche Systeme auch in mathematischer Sprache analysieren können. Das ist auf der molekularen wie auf der Ebene der Thermodynamik ungleich schwieriger als bei den Gleichgewichtssystemen. Es gibt aber einige prominente Experimente, die inzwischen sehr gut verstanden sind und bei denen man auch die Entstehung von Strukturen mathematisch beschreiben kann. Eines davon ist das berühmte Rayleigh-Bénard-Experiment:  
Das System besteht aus einer dünnen Flüssigkeitsschicht. Die Unterseite des Behälters, in dem sich die Flüssigkeit befindet, wird durch Heizung, die Oberseite durch Kühlung auf eine jeweils bestimmte Temperatur gehalten. Durch Wärmeleitung stellt sich demnach ein Temperaturgefälle in der Flüssigkeit ein. Solange die Temperaturdifferenz zwischen Unter- und Oberseite klein ist, bleibt die Flüssigkeit in Ruhe; die Energie, die durch die Heizung in die Flüssigkeit strömt und durch die Kühlung wieder nach außen abgegeben wird, wird durch die Stöße der Moleküle übertragen. Man nennt diese Form von Wärmeleitung auch Konduktion oder Wärmediffusion. Überschreitet die Temperaturdifferenz aber eine Schwelle, so setzt ein makroskopischer Materialstrom ein: Von der Unterseite erhitzte Flüssigkeit strömt – da sie sich ausdehnt, also eine geringere Dichte bekommt und damit einen Auftrieb erfährt – nach oben, wird dort abgekühlt und sinkt wieder zu Boden. Der Gesamteffekt ist der, dass sich so genannte Konvektionszellen bilden, in denen auf- und absteigende Flüssigkeitsströme nebeneinander entstanden sind (Abb. 1).

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Abb.1: Bénard-Rollen, links schematisch (nach I, Eyrian) , rechts dreidimensional (nach http://www.tu-harburg.de/rzt/rzt/it/Studium/seminar-lorenz/)

Es entsteht also eine Struktur. Dieses emergente Phänomen kommt dieses Mal durch das Zusammenspiel der Moleküle und (!) der Umgebung zustande. Dabei ist die Umgebung zweifach beteiligt, durch die Temperaturdifferenz zwischen Ober- und Unterseite und dadurch, dass sich das Ganze im Schwerefeld der Erde abspielt, und somit eine Gravitationskraft und entsprechend ein Auftrieb vorhanden ist. Außerdem sieht man hier, dass emergente Phänomene nicht allein durch Zusammenfügung verschiedener Objekte zu einem System entstehen können, sondern auch durch Änderung des Einflusses der Umgebung. Hier wirken die Verhältnisse auf der Ebene des Systems "Flüssigkeitsschicht" zurück auf das Verhalten der Konstituenten; es gibt also hier so etwas wie eine Rückkopplung oder Abwärtskausalität (downward causation) . Diese spielt offensichtlich eine bedeutsame Rolle in der Strukturbildung.
Den Übergang von einem einer Verhaltensweise in eine andere bei einem bestimmten Wert eines von außen steuerbaren Kontrollparameters, wie es hier die Temperaturdifferenz darstellt, nennt man Bifurkation. Erhöht man die Temperaturdifferenz immer weiter, so kann man eine Kaskade von Bifurkationen beobachten bis schließlich Turbulenz eintritt [1] . In solchen offenen Systemen im Nichtgleichgewicht emergieren als eine Fülle von verschiedenen und verschieden komplexen Verhaltensmustern.
Die mathematische Analyse diese Experimentes ist schon sehr aufwändig, die Theoretiker entdeckten aber bald, dass man die zugehörigen Gleichungen geeignet abspecken kann, so dass die dabei entstehenden Gleichungen die gleichen Phänomene vorhersagen, aber viel einfacher zu analysieren sind. Edward Lorenz entdeckte auf diese Weise 1962 als erster ein Verhalten, dass sich durch eine besonders starke von Form von Unvorhersagbarkeit auszeichnet, obwohl es durch eine deterministische Gleichung gut beschrieben wird: Kleinste Änderungen in den Anfangswerten können schnell zu größten Änderungen im Verlauf. Solche chaotischen Systeme, wie man sie bald nannte, wurden dann von den Mathematikern genauer untersucht und die Physiker entdeckten weitere Phänomene, die durch Modelle für chaotische Systeme zu beschreiben sind. Aber häufiger noch findet man in der Natur Oszillationen, und inzwischen kann man viele chemische Reaktionen und Reaktionszyklen mathematische beschreiben und steuern. Sogar elektronische Schaltungen können als von außen, durch eine elektrische Spannung getriebenes Nichtgleichgewichtssystem verstanden werden, die Colpitts- Schaltung z.B. wandelt Gleichstrom in Wechselstrom um, hier emergiert also auch, wieder durch eine Art Rückkopplung, eine Oszillation.
Das System Sonne-Erde- Weltraum ist dem eben besprochenen System des Benard-Experimentes sehr ähnlich. Die Erde wird wie die Flüssigkeitsschicht von einer Seite geheizt, nämlich durch die Sonne, auf der anderen Seite kann sie ihre Energie wieder an eine kalte Seite abgeben, an den Weltraum. So entstehen auch in der Atmosphäre der Erde Bewegung und Strukturen und über die Photosynthese entsteht Ordnung in Form von komplexeren Molekülen und Zellen, die wiederum als Energiespender für lebende Systeme dienen (siehe auch "Die Wandlungsfähigkeit der Materie").  Man weiß zwar noch nicht genau, wie Leben auf Erden entstanden bzw. wie es dort hingekommen ist. Sicher aber ist, dass lebende Systeme auch offene Nichtgleichgewichtssysteme sind. Biologische Phänomene sind so im Rahmen der Thermodynamik von Nichtgleichgewichtssystemen grundsätzlich, z.B. in Form von Energie- und Entropiebilanzen, zu verstehen. Aber auch lebende Systeme sind in "ihren besten Jahren" als offene Systeme im Fleißgleichgewicht zu betrachten, sie führen sich Energie in Form von Nahrung zu, in Form von Arbeit, Ausscheidungen und Wärme wird diese wieder an die Umgebung abgegeben. Die Entropie, die zusätzlich bei der Umsetzung der hochgeordneten Nahrung in niedriger geordnete Materie erzeugt wird, wird ständig im wesentlichen durch die Wärme abgeführt.
Dass sogar Begriffe, die für uns selbstverständlich sind, als emergente Eigenschaften der Natur entlarven können, habe ich in meinem Beitrag "Realität und Nichtseparabilität in Quantenmechanik und Buddhismus" dargelegt. Die obere Ebene ist dabei unsere im Alltag erfahrbare Welt der mittleren Dimensionen, die untere Ebene die Welt der kleinsten Dimensionen, die der Atome und Quanten. Realität ist das, was sich als emergente Eigenschaft auf unserer höheren Ebene zeigt, nämlich dass alle Dinge unserer makroskopischen Welt stets eindeutig bestimmte Eigenschaften besitzen, z.B. sich stets an einem bestimmten Ort mit einer bestimmten Geschwindigkeit befinden. Für Quanten gilt das nicht, und erst durch das Zusammenspiel der Quanten in Systemen mit vielen Atomen entsteht unsere Realität.

Emergenz in der Physik und anderswo
Können diese Beispiele aus der Physik komplexer Systeme denn nun zu einem Vorbild werden für das, was man allgemein unter Emergenz verstehen will?  Sind es letztlich die fundamentalen Wechselwirkungen zwischen den Quanten, die alles Zusammenspiel der Materie bestimmen?  Können wir konsistent von einem Schichtenaufbau der Welt reden, in der die Eigenschaften und Phänomene der Systeme einer Schicht (wenigstens im Prinzip) aus dem Zusammenspiel der Systeme einer unteren Schicht und aus Rückkopplungen der oben beschrieben Art zu erklären sind? Wäre damit das Bild von einem Haus der Naturwissenschaft gerechtfertigt, in dem die Physik das unterste Stockwerk bildet, sich darüber nach einander die Etagen der Chemie, der Biologie, der Medizin, Psychologie usw. erheben, in denen auf emergente immer höher emergente Begriffe geschichtet werden, um Systeme immer höherer Komplexität zu beschreiben? 
Bei solchen Fragen gerät man leicht in Gefahr, im Hinblick auf belastbare Begründungen "über seine Verhältnisse zu leben".  Statt hier Bekenntnisse abzuliefern möchte ich lieber diskutieren, welche Schlüsse man noch aus diesen Beispielen ziehen kann.
Zunächst lernt man hier deutlich zu unterscheiden zwischen emergenten Eigenschaften, Phänomenen und Gesetzen. Dabei kommt den Phänomenen besondere Bedeutung zu, diese sind ja überhaupt die Ursache für das Interesse des Naturwissenschaftlers . Im Gegensatz zu den Eigenschaften und Gesetzen sind diese nicht von uns Menschen gemacht sondern ereignen sich in der Natur. Wir bezweifeln ja nicht, dass es diese Phänomene schon vor der Existenz von denkenden Menschen gegeben hat.
Begriffe für Eigenschaften und Gesetze werden dagegen in unserem Kopf formuliert, sie können mehr oder weniger adäquat sein. Wenn man sich allerdings, wie Peter Janich es tut [2], auf diese allein konzentriert, dann kann man ihm auch in dem Satz folgen: "Emergenz ist ein Kulturphänomen", und auch seine Definition einer besonderen Art von Emergenz akzeptieren, die man mit Fug und Recht "stark" nennen kann: Wenn auf zwei Ebenen der Beschreibung des gleichen Systems jeweils Eigenschaften bzw. Begriffe benutzt werden, die zu ganz verschiedenen Kategorien gehören. Janich führt dazu u.a. das Beispiel eines Grammophons an: Auf der technischen Beschreibungsebene dient das Gerät zur beliebig häufigen Reproduktion eines Schallereignisses; auf einer Funktionsebene geht es um das Verstehen durch einen menschlichen Hörer. Hier und bei ähnlichen Beispielen verlässt man aber das Gebiet der "natürlichen" Dinge und bezieht "kultürliche" mit hinein, und wir landen letztlich wieder beim System "Mensch" und dem Phänomen, dass er überhaupt von "Verstehen" reden kann.  Für Bunge [3] dagegen ist Emergenz gerade kein erkenntnistheoretischer Begriff, sondern ein ontologischer; er hat nur die Phänomene im Blick. In der Physik haben wir es aber mit beiden zu tun, mit der Natur und mit der Kultur, mit Phänomenen und mit Begriffen. Man kann natürlich den Schwerpunkt auf Verschiedenes legen, das ist wieder etwas "Kultürliches". Wichtig scheint mir nur die klare gedankliche Trennung zwischen "Natürlichem" und "Kultürlichem" zu sein, wobei ich mit "Kultürlichem" schlicht die Bemühungen unseres menschlichen Geistes meine.
Weiterhin unterscheiden wir hier (wiederum in unserem Kopf) ganz deutlich zwei Ebenen. Aber man kann den "Abstand" zwischen den beiden ohne weiteres herunterfahren. Man braucht ja nur die Anzahl der Moleküle des Gases nach und nach zu verringern. Irgendwann verliert sich dann z.B. die Nützlichkeit des Temperaturbegriffs und die Phänomene werden weniger gut gegeneinander abgrenzbar.  Denkt man sich umgekehrt solch ein Gas allmählich durch eine stete Hinzunahme von Molekülen aufgebaut, so entdeckt man auch hier, dass einzelne Schritte, wie in der Evolution, unspektakulär sein können, dass diese aber in der Summe zu emergenten Phänomenen führen.  Die Identifikation der Ebenen (in unserem Kopf) wird also durch die Natur geleitet: Sie scheinen dann besonders gut gewählt, wenn neuartige Phänomene besonders deutlich hervortreten und sich dann erfahrungsgemäß besonders leicht adäquate Eigenschaften und Gesetze für Dinge und Phänomene finden lassen.
Ein Fachwissenschaftler, der nur philosophiert, um in der Landschaft seiner Begriffe Ordnung, Konsistenz und Übersicht herzustellen, fragt sich natürlich, zu welchem Zwecke er den Begriff der Emergenz braucht. Eigentlich braucht er ihn nur, um darauf hinzuweisen, dass auch höchst komplexe Phänomene durch das Zusammenspiel materieller Objekte entstehen können und damit auf einfache Ursachen zurückführbar sind.  Zum ersten Mal benutzt worden ist der Begriff der Emergenz ja nach meiner Kenntnis im Zusammenhang mit der Frage, wie es denn zu erklären sei, dass wir Menschen uns unserer selbst bewusst sein können. Dieses Phänomen stellt offensichtlich eine ganz besonders neue Qualität im Verhalten eines "Systems" dar. Viele können sich nicht vorstellen, dass dieses überhaupt erklärbar ist, und schon gar nicht auf "natürliche" Weise, also als eine Fähigkeit der Materie. Heute ist der Begriff wieder im Rahmen der Körper-Geist-Debatte aktuell geworden und alle Diskussionen um den Begriff der Emergenz laufen früher oder später immer wieder auf diese Frage zu. So scheint mir letztlich die Diskussion um die Emergenz ein "Stellvertreterstreit" (von einem solchen "Krieg" möchte ich nicht reden) in der Frage zu sein, was wir aus den Methoden und modernen Erkenntnisse der Naturwissenschaften für unser Menschenbild lernen können.  Ist unser Bewusstsein ein emergentes Phänomen, das wir mit emergenten Begriffen werden erklären können und für das wir mithilfe dieser Begriffe emergente Gesetze werden formulieren können? (Natürlich müssen diese nicht deterministischer Art sein.) Die Tatsache, dass sich unsere geistigen Fähigkeiten durch Evolution ergeben haben, spricht dafür, diese Frage vorläufig zu bejahen und dieses als Arbeitshypothese zu akzeptieren, wie es praktisch auch jeden Tag in Medizin und Psychiatrie geschieht.

[1] Albert J. Libchaber, "From Chaos to Turbulence in Bénard convection", Proceedings of the Royal Society A, Bd. 413, 1987, S.63.
[2] Peter Janich: Emergenz – Lückenbüßergottheit für Natur- und Geisteswissenschaften, Franz-Steiner Verlag Stuttgart 2011
[3] Mario Bunge und Martin Mahner: Die Natur der Dinge, Hirzel, 2004

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Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

38 Kommentare

  1. Emergenz als material. Abstraktion

    Emergenz kann man als Kultur- und Begriffsphänomen betrachten, denn es geht bei einem emergenten System immer um ein System, das sich sich durch Elemente einer tieferen Ebene konstituiert und was wir als emergent betrachten ist abhängig von unserer Absicht was wir auf der höheren Ebene als neu und emergent betrachten wollen.

    Die Phänomene, die emergieren (die wir als emergent bezeichnen) haben oft eine Eigenständigkeit, die über ihre materielle Realisation hinausgeht, ja wir können uns oft verschiedene “Materialisationen” der gleichen emergenten Phänomene vorstellen und sogar beobachten. So sind die im obigen Beitrag erwähnten Konvektionszellen nicht nur Mittel des Wärmetransports, sondern sie tauchen ganz unabhängig vom Wärmetransport auch beim Stoffaustausch auf und analog und formal gleich zum Fourierschen Gesetz welches für den Wärmeaustausch gilt gibt es das Ficksche Gesetz für den Stoffaustausch.
    Konvektionszellen könnte man also als etwas generisches auffassen, das materiell verschieden realisiert werden kann, genauso wie in der Informatik die gleichen Algorithmen auf ganz unterschiedliche Datentypen angewendet werden können. In der Technologie schliesslich wird es offensichtlich, dass Elemente auf einer höheren Ebene mit ganz unterschiedlichen Basistechnologien realisert werden können. Die logischen Gatter in Schaltplänen beispielsweise können mit elektronischen, optischen, Fluid- oder gar mechanischen (Babbage) Bauteilen aufgebaut werden. Zurecht definieren wir einen Computer über seine Verarbeitungsleistungen, welche auf den logischen Gattern beruhen und nicht darüber wie die logischen Gatter realisiert sind.
    Die Abstraktion logisches Gatter hat also eine Art Eigenleben erhalten. Selbst der im obigen Artikel besprochene Begriff Gas wird oft generisch verwendet. Man spricht vom Elektronengas und man kann einem Elektronengas sogar so etwas wie eine Temperatur zuordnen. Neben der Blickrichtung von unten nach oben gibt es also auch die Blickrichtung von oben nach unten im Sinne von “Wir haben uns ein System ausgedacht und wollen es nun auf irgend eine Art realisieren und das System selber ist wichtiger als die Art wie es realisiert wird”. Oder wir kennen schon ein bestehendes System und wollen es nachbauen. Genau das will ja die Artificial Intelligence. Sie kennt intelligente biologische Systeme (den Menschen beispielsweise) und will sie mit ganz anderen, nicht-biologischen Mitteln zum Leben erwecken. Intelligenz ist also aus der Biologie emergiert, hat aber nun eine Art Eigenständigkeit erworben, indem dieser Begriff unser Denken infiltriert hat und wir nun von intelligenten Maschinen, intelligenten Gebäuden und sogar von smarten Energienetzen sprechen.

    Emergenz gibt es wohl auch ohne den Menschen aber der Mensch bestimmt was als emergent und damit als wichtig zu betrachten ist.

  2. Emergenz und Reduktion

    Vielen Dank, insbesondere für die hilfreichen und anschaulichen Beispiele.

    Die häufig diskutierten Beispiele für Reduktion sind meines Wissens oft nicht so klar und nur an bestimmte Rahmenbedingungen gebunden (vgl. etwa Intertheory Relations in Physics).

    Die Tatsache, dass sich unsere geistigen Fähigkeiten durch Evolution ergeben haben, spricht dafür, diese Frage vorläufig zu bejahen…

    Dass etwas (alles heute Lebende?) eine evolutionäre Geschichte hat, erklärt weder, wie es entstehen konnte (zufällige genetische Mutationen?), noch, nach welchen Regeln es funktioniert.

    Im Übrigen halte ich es für fair, der Vollständigkeit halber auf Gen-Umwelt- und Evolution-Kultur-Interaktionen hinzuweisen.

    …und dieses als Arbeitshypothese zu akzeptieren, wie es praktisch auch jeden Tag in Medizin und Psychiatrie geschieht.

    Gerade für die Frage, ob sich die Psyche nahtlos in die Naturerklärungen einfügt, ist die klinische Praxis, insbesondere in der Psychiatrie, ein denkbar schlechtes Beispiel, denn bis heute und in absehbarer Zeit (DSM-5, 2013) gibt es kein einziges Beispiel für eine psychiatrische Störung, die sich beispielsweise durch biologische/genetische/neuronale Merkmale diagnostizieren lässt.

    Die gegenwärtige psychiatrische/klinisch-psychologische Praxis ist pragmatisch-behavioristisch und hat eine metaphysische Festlegung nicht nötig (vgl. Kendler, Zachar & Craver, 2011. What kinds of things are psychiatric disorders? Psychological Medicine 41: 1143–1150).

  3. @Josef Honerkamp

    Wann ich mich mit der Selbstorganisation zu beschäftigen begann und die Bedeutung der Wechselwirkung erkannt habe, hatte ich es wie eine Offenbarung empfunden. Hier ist der Grund der Emergenz und der Selbstorganisation, dachte ich. Mit weitere Analyse stellte ich jedoch heraus, dass es nicht so offensichtlich, wie es anfangs scheint. Ich stimme ihrem Artikel weitgehend zu. Sie halten fest, dass die Wechselwirkungen von dem Inneren der wechselwirkenden Einheiten zu erklären sind, und meinen damit die Emergenz entzaubern zu können. Mit der ersten Feststellung bin ich einverstanden. Mit der zweiten, denke ich, haben Sie zu früh den Schluss gefolgt.
    Das entstehende neue W-W-Netz entsteht aus inneren Trieben/Eigenschaften der Einheit dieses Netzes. Die Entwicklung dieses W-W-Netzes kann (und muss) bis gewisse Grenze durch Vorantreiben dieser Triebe erklärt werden. Jedoch entgeht Ihnen ein wichtiger Vorgang in diesem W-W-Netz. Ab einem gewissen Zustand kippt das Verhältnis die Einheit —- W-W-Netz. Die Einheit, die den Aufbau dieses W-W-Netzes initiiert hat, wird von dem W-W-Netz abhängig. Jetzt nicht sie diktiert voran geht. Das W-W-Netz lenkt die Evolution der Einheit. Die Freiheit der Äußerung dieser Einheit in das Netz wird beschränkt. Die Einheit baut ein W-W-Netz, das für ihre Belange notwendig ist und das sich zunehmend emanzipiert, verselbständigt. Sie können jeden Zustand dieses Netzes – jede evolutive Phase dieses Netzes – durch die inneren Wirkungen der Einheit oder, wie sie schreiben, der Konstituenten des Systems erklären. Diese Erklärung ist notwendig aber nicht ausreichend. Den Verlust der Freiheitsgrade der Entwicklung der Einheit könnte man damit nicht erklären. Es ist die Rückkoppelung des übergeordnetes W-W-Netzes, die Sie durch den Reduktionismus verlieren.
    Man kann immer(!) durch innere Eigenschaften einer Einheit ihre Verhalten im Ganzen erklären. Dadurch hält der Reduktionismus so hartnäckig seinen Anspruch auf die weltumfassende Beschreibung. Wenn man aber nicht den augenblickliche Zustand – die Evolution dieses Zustands – betrachtet, wird er durch die inneren Eigenschaften nicht erklärbar. Warum soll aus einem Haufen Zellen ein differenzierter Körper entstehen?! Warum die Zellen in dem entwickelnden Organismus Selbstmord begehen, warum sollen sie ihre essentielle Eigenschaft zur Teilung im Schach behalten?! Es war doch nicht im Sinne der Zelle, die die Funktionsregeln einer Kolonie (ihre Organisation) begründet hat, um ihren eigenen Schutz zu erhöhen.
    Die Entwicklung des Organismus führt uns die Evolutionsvorgänge nochmal vor. Der Freiheit des genetischen Guts werden nach der Verschmelzung zweier elterlichen Zellen zunehmend die Schränke gezeigt. Die Entstehung der neuen Ebenen der Wechselwirkungen geht mit dem Ausschalten bestimmter Genbereiche und zwar dauerhaft, irreversibel. Dieser Verlust des Freiheitsgrades einer Zelle, bzw. ihre genetischen Gedächtnisses wird durch die neue Ebene der Wechselwirkungen kompensiert. Noch mehr – es wird durch dieser Ebene verursacht! Es ist die Umwelt (ein übergeordnete W-W-Netz ist die nächste Umwelt für die Einheit), die nicht nur selektiert. Sie gestaltet.
    Auch die klassische unbelebte Natur gibt uns dauernd die Beispiele der Minderung der Freiheitsgrade einer Konstituente in zu bildendem System. Z. B. die Moleküle in einer Gaswolke, einer selbstorganisierten Struktur – nicht in ein Behälter gefüllten Gas. In dem letzten werden wir wohl nie eine Eigenschaft des W-W-Netzes der Gas-Moleküle beobachten können. Es ist nämlich das Herauskristallisieren des Rotationsimpulses, das einer Menge der chaotischen Impulse eine Richtung verleiht. Eine Richtung, die nicht von den inneren Eigenschaften der Moleküle ausgeht. Das Molekül bewegt sich nach wie vor chaotisch. Nur seine chaotische Bewegungen werden durch das neue Ganze – das übergeordnete W-W-Netz begrenzt.
    Noch besseres Beispiel ist das Kollabieren der präsolaren Wolke. Es bilden sich die Verdichtungen, in denen die Intensität und Rate der Wechselwirkungen steigt. Es wird mit der angehender Rotation begleitet, die an die Dynamik der Gravitation und des Gasdrucks sich anpasst, die entstehende Struktur stabilisiert. Die Entstehung des Gasdrucks in Folge der Gravitationswirkung kann man erklären. Nicht erklärbar dagegen ist die Rotation, die s. z. „schnürt“ den entstehenden Stern von der Umwelt ab und sorgt für seine Erhaltung.
    Na ja, ich habe Unrecht. Es gibt eine Erklärung durch Random-Walk-Effekt (http://www.mpibpc.mpg.de/…n__Planeten/index.html). Jedoch hat diese Erklärung ein Hacken. Dieser Effekt beschreibt ein Muster, eine Gesetzmäßigkeit der Selbstorganisation. Ich finde höchst fraglich das Muster, das zweifellos gibt, im Rang der Erklärung für die Entwicklungen, die das Muster erzeugen lassen, erheben. Auch beschreiben die Lotka-Volterra-Regeln Populationsdynamik in Räuber-Beute-Beziehungen. Die Beziehungen ändern sich aber nicht aufgrund dieser Regeln (!).

  4. Schöner Beitrag.

    Als Nicht-Physiker möchte ich eine Frage voranstellen: Können Sie eine irreduzibel emergentes physikalisches Phänomen anführen?

    Ich frage aus folgendem Grund: Ihre Darstellung unterstützt meine Vermutung, dass der Begriff der Emergenz speziell für den (behaupteten) Übergang von rein materiellen Vorgängen zum Bewusstsein entwickelt wurde. In diesem Zusammenhang scheint er mir so etwas wie ein Etikett auf einer black box zu sein, in der ein ungelöstes Problem geparkt wurde bei gleichzeitiger Suggestion, man habe durch die Aufschrift auf der box die prinzipielle Lösung bereits geliefert.

    Meine Vermutung ist: Innerhalb der Physik ist der Begriff der Emergenz vollkommen entbehrlich, und bietet keinen Erkenntnisgewinn. Wenn Phänomene rückführbar sind auf die Eigenschaften der Bestandteile, dann kann man auf den Begriff der Emergenz verzichten, und die Frage ist nur, wie ich meine Bestandteile definiere.

    Ich glaube, dass dies für die gesamte PHysik gilt.

    Was meinen Sie dazu?

  5. Zitat:

    Ist unser Bewusstsein ein emergentes Phänomen, das wir mit emergenten Begriffen werden erklären können und für das wir mithilfe dieser Begriffe emergente Gesetze werden formulieren können? (Natürlich müssen diese nicht deterministischer Art sein.) Die Tatsache, dass sich unsere geistigen Fähigkeiten durch Evolution ergeben haben, spricht dafür, diese Frage vorläufig zu bejahen und dieses als Arbeitshypothese zu akzeptieren,[…]

    Statt auf die Evolution zu verweisen, die ja von mehr als der Hälfte der Menschheit bezweifelt wird, könnte man auch die Onto- bzw. Organogenese anführen und diese nachzuzeichnen, Schritt für Schritt, vom Einzeller (der Zygote) über das erste spontane Aktionspotential der Nervenzellen im Embryo bis hin zum schöpferischen “Geist”. Aber ich fürchte, selbst das wird Hardcore-Skeptiker nicht davon überzeugen können, dass bei der Entwicklung der zerebralen Eigenschaften höchst wahrscheinlich “alles mit rechten Dingen” zugeht.

  6. @fegalo

    Der Grundaufgabe jeder Wissenschaft ist das Problem zu erkennen. Sein Benennen ist ein Zeichen dafür. Den Begriff inhaltlich zu füllen, es ist der nächste Schritt. Hier, sehen wir, streiten die Geister.
    Ein Physiker hat m. E. mit meiner Darstellung das Problem, dass er muss anerkennen, dass die Subjektivität spielt immer – auf jeder Komplexitätsebene – eine Rolle. Die Emanzipation des übergeordneten Netzes bedeutet seine Erhaltung, seine Fähigkeit sich als Ganze zu deutet, sich von der Umwelt unterscheiden. Diese Ganzheit zwingt ihre Einheiten in seinem Sinne zu verhalten. Auch seine Entwicklungsfreiheit ist gefährdet, erstens durch die Umwelt, zweitens durch die Umwelt der Gleichartigen, mit denen er seinerseits ein übergeordnetes Netz, von dem er abhängig wird, bildet.
    Ich vermeide den Begriff Bewusstsein. Habe noch nie eine zufriedenstellende Definition getroffen. Es scheint auch ein Begriff zu sein, der Streit in seiner inhaltlichen Füllung erzeugt. Auch das Phänomen Bewusstsein zu erklären allein durch die Analyse eines Menschen, der eine Einheit des übergeordneten Netzes – des Kommunikationsnetzes einer Gemeinschaft ist, finde ich falsch. Hier taucht gerade das Problem, den ich in meinem Beitrag ausgeführt habe – die Rückkoppelung des Netzes auf die Gestaltung seiner Einheit, sprich Bewusstseins.
    Wir sind integrative Teil einer evolutiven Einheit – einer Gemeinschaft. Da wir mit unseren Sinnen sie nicht wahrnehmen können ist ja verständlich. Sie war die Letzte auf dem Weg der biologischen Evolution. Jedoch haben wir ein Werkzeug erworben – einer Sprache, mit der wir durch Sprachdenken, die nicht davor gewesene Möglichkeit zur Erkundung unserer Umwelt gegeben hat, nachvollziehen können.

  7. @fegalo

    Schöner Kommentar.
    Ein irreduzibel emergentes physikalisches Phänomen kann ich Ihnen natürlich nicht nennen.
    Sie haben meine Meinung aber etwas radikaler ausgedrückt. Wenn Sie “völlig entbehrlich” durch “entbehrlich, aber auf einen interessanten Aspekt hinweisend” ersetzen und die “Suggestion” nur manchen unkritischen Zeitgenossen unterstellen, stimme ich Ihnen zu. Immerhin kann man sich schon wundern darüber, was die Materie “alles vermag” und so muss man sich nicht wundern, dass man die Arbeitshypthese für vernünftig hält.

  8. @fegalo, Nachtrag

    “die Frage ist nur, wie ich meine Bestandteile definiere.”
    Von Definieren kann hier keine Rede sein. Man findet die Bestandteile vor. Ich kann mir den Zusammenhang nicht konstruieren, indem ich mir geeignete Bestandteile ausdenke.

  9. @balanus

    Ja, das wäre auch einmal lohnend, die Ontogenese Schritt für Schritt im Hinblick auf Strukturbildung nachzuzeichnen. Leider habe ich mich zu wenig mit biologischen Phänomenen beschäftigt, um das gut und richtig zu können.

  10. @ Josef Honerkamp

    Danke für die Antwort.

    Es ging mir um die Klärung der Frage, ob es sich bei der von Vielen behaupteten Emergenz des Bewusstseins aus Gehirnprozessen um dasselbe Phänomen handeln kann wie bei den in der Physik „emergent“ genannten Phänomenen.

    Und das ist eben nicht der Fall! Somit ist eine bestimmte Argumentation verkehrt, der man häufig begegnen kann, welche ungefähr besagt, dass die Emergenz des Bewusstseins so etwas Besonderes gar nicht sei, denn die Welt der Physik sei voll von diesem Phänomen.
    Das gilt aber nur, wenn man keinen Unterschied macht zwischen einer reduziblen Emergenz und einer irreduziblen Emergenz.

    Beim Bewusstseins hätten wir es dann mit dem einzigen Fall von irreduzibler Emergenz zu tun – wenn es sich denn überhaupt um ein emergentes Phänomen handeln sollte! Denn dies ist gar nicht ausgemacht, sondern nur eine Idee.

    Ich halte es für extrem heikel, für die Entstehung des Bewusstseins einen Mechanismus zu postulieren, der einzig bei diesen beiden Phänomenen auftritt, und von dem niemand erklären kann, wie er funktioniert. Das nannte ich eine black box.
    Übrigens:
    Mit dem Definieren von Bestandteilen meinte ich folgendes: Bei der Erläuterung des Begriffs „Emergenz“ fällt oft der Begriff des „Neuen“, welches unvorhersehbare Eigenschaften auf einer höheren Systemebene bezeichnet. Wenn man allerdings beim Sauerstoff schon in die Definition mit aufnimmt, dass dieser Stoff mit Wasserstoff zusammen Wasser bildet, dann verspürt man vielleicht gar nicht mehr die Neigung, von Emergenz zu sprechen.

  11. Korrektur:

    Es darf nicht heißen: “der einzig bei diesen beiden Phänomenen auftritt….”, sondern “der einzig bei diesem Phänomen auftritt”

  12. @Josef Honerkamp

    Vorweg eine Typo-Korrektur: dem Rayleigh ist Ihrem Text das ‘y’ abhanden gekommen.

    Mir scheint, mit der Rayleigh-Bénard Konvektion haben Sie aber gerade ein Beispiel für ein nichtreduktiv emergentes Phänomen genannt. Bei der fluid-dynamischen Modellierung zeigen sich dort globale topologische Strukturen, die statistisch nicht erkennbar sind. Solche Muster lassen sich dann auch nicht erklären als statistische Manifestation von elementaren Prozessen auf einer Microebene.

    K. Krishan et al., Homology and symmetry breaking in Rayleigh-Bénard convection: Experiments and simulations. Physics of Fluids 19 117105 (2007) [PDF]

  13. @ fegalo: Irreduzibilität?

    Als Nicht-Physiker möchte ich eine Frage voranstellen: Können Sie eine irreduzibel emergentes physikalisches Phänomen anführen?

    Das impliziert natürlich die Frage, was man als “Reduktion” ansieht – spontan kommt mir da, in der Physik, das Beispiel des radioaktiven Zerfalls in den Sinn. Den kann man nur im großen Maßstab statistisch beschreiben, was mehr über die Fähigkeiten der menschlichen Mathematik als über die Natur aussagt. Im Einzelfall bleibt es, scheinbar prinzipiell, unmöglich, eine konkrete Aussage zu treffen, eine Ursache anzugeben.

    Ein besseres Beispiel könnte das Leben darstellen. Natürlich ist man lange vom Vitalismus abgerückt aber sein ursprüngliche Problem hat man nicht gelöst (Kischner, Gerhard & Mitchison [2000]. Molecular “Vitalism”. Cell 100: 79-88). Für du Bois-Reymond war das schon vor 130 Jahren eines der großen Welträtsel (du Bois-Reymond, E. [1872/1974]. Uber die Grenzen des Naturerkennens. In ders., Vortrage uber
    Philosophie und Gesellschaft, S. 54-78. Hamburg; ders. (1880/1974). Die sieben Weltratsel. ebenda, S. 159-188).

    Das Rätselhafteste: Man kann schon länger alle Bestandteile einer lebenden Zelle angeben, bloß wenn man die alle im Labor zusammenfügt, dann hat man… keine lebende Zelle.

    Auch jüngste Erfolge beim Herstellen sogenannter synthetischer Zellen (Gibson et al. [2010]. Creation of a Bacterial Cell Controlled by a Chemically Synthesized Genome. Science 329: 52-56) müssen mit Material lebender Zellen arbeiten.

  14. @ Stephan Schleim

    „Das impliziert natürlich die Frage, was man als “Reduktion” ansieht – spontan kommt mir da, in der Physik, das Beispiel des radioaktiven Zerfalls in den Sinn.“

    Das ist doch aber kein Fall von Emergenz, sondern nur von unserem Nichtwissen über Kernprozesse.

    „Ein besseres Beispiel könnte das Leben darstellen.“

    Eben. Leben als emergentes Phänomen anzusehen, liegt aus der naturalistischen Perspektive auf der Hand. Aber: Das ist zunächst auch nur eine Idee. Der Nachweis müsste praktisch geführt werden, durch Nachbau, aber genau das klappt ja nicht, wie Sie selbst feststellen.

    „Das Rätselhafteste: Man kann schon länger alle Bestandteile einer lebenden Zelle angeben, bloß wenn man die alle im Labor zusammenfügt, dann hat man… keine lebende Zelle.“

    Rätselhaft natürlich nur für Materialisten. Aus meiner Perspektive finde ich das nicht rätselhaft und erwarte ich nichts anderes, daher überrascht es mich nicht. Ich wäre umgekehrt sicherlich höchst irritiert, wenn das Zusammensetzen von irgendwelchen Molekülen zu einer lebenden Zelle gelänge, bin aber gleichzeitig extrem gelassen, was die Erwartung angeht. Selbiges gilt für künstliche Intelligenz. Also: Hier emergiert erstmal gar nichts.
    (Können Sie mir mal verraten, wie man hier kursiv und fett schreibt, und wie diese Zitatfunktion funktioniert? Danke)

  15. @ Irena Pottel

    Für mich ist der Begriff „Selbstorganisation“ eine ebensolche black box wie „Emergenz“. Wenn der Begriff irgendetwas aussagen soll, dann muss er mehr beinhalten als: „komplexe Kausalitäts- und Wechselwirkungsstrukturen“. Doch was sollte das sein? Wie aus einem Zauberhut holt man „Einheit“, „Selbstsein“, „Freiheit“ etc. daraus hervor.

    Aber diese Phänomene können Sie nicht aus rein physikalischen Prozessen ableiten oder rekonstruieren, auch nicht, wenn Sie Wechselwirkung mit ins Spiel bringen, behaupte ich. Denn sie beinhalten Subjektivität.

    „Selbstorganisation“ hat für mich immer den Touch des Mythologischen, so als würde da ein versteckter Akteur in die Kausalen Abläufe hineingeschummelt.

    Die Schwierigkeit liegt übrigens schon im Begriff. Denn „Selbst“ ist ja ein reflexiver Begriff, wie er nur auf Wesen Anwendung finden kann.

  16. @fegalo

    Zitat: “Leben als emergentes Phänomen anzusehen, liegt aus der naturalistischen Perspektive auf der Hand. Aber: Das ist zunächst auch nur eine Idee. Der Nachweis müsste praktisch geführt werden, durch Nachbau, aber genau das klappt ja nicht, wie Sie selbst feststellen.

    Nee, Nachbau wäre Konstruktion, also eine starke Form von Reduktion. Das ist nun ganz und gar nicht das, was mit einem emergenten Phänomen verstehen ist.

  17. @ Chrys

    Verstehe Ihren Einwand nicht. Emergenz ist das Entstehen von unvorhergesehenem „Neuem“ durch das Zusammenfügen von bestimmten Elementen. In der Natur sollen die Bestandteile einer Urzelle „zufällig“ zusammengekommen sein, im Labor wäre es halt absichtlich. Das ändert doch nichts an der Emergenz. Die Frage ist nur, ob der „Lebensmotor“ anspringt.

  18. @fegalo

    Die Begriffe Emergenz und Reduktion bezeichnen in dem hier gegebenen Kontext eine formale Beziehung zwischen zwei hierarchisch geordneten Beschreibungsebenen. Emergent sind dann erst einmal alle Begriffsbildungen, die nur auf der höheren Ebene definiert sind.

    Reduktion bedeutet (jedenfalls für mich), dass die auf einer höheren Beschreibungsebene erhaltenen Aussagen allesamt durch die Mittel einer hierarchisch niederen Beschreibungsebene formulierbar sind. Wo das gelingt, haben wir geflissentlich den Eindruck, die höhere Ebene durch die niedere “erklärt” zu haben.

    Nun lässt sich aber bei den empirischen Wissenschaften keineswegs ausschliessen, dass bei der (naturgemäss idealisierenden) Modellierung einer niederen Ebene diverse Aspekte als vernachlässigbar angesehen wurden, die sich auf einer höheren Ebene jedoch als bedeutsam erweisen. In einem solchen Fall wäre ein hinreichender Grund für ein Scheitern von Reduktion ersichtlich. Ein dergestelt nichtreduktives Phänomen erscheint dann aus Sicht der niederen Ebene als unvorhergesehen.

    N.B. Zum Setzen von Textattributen nehmen Sie ganz normale HTML tags.

  19. emergente Konzepte vs. Eigenlogiken

    Vorneweg mal ein Lob für diesen Blog, der wie kein anderer den ich kenne in der deutschen wiss. Bloggerszene die Leser mit auf eine interaktive Denkreise (Kommentare/Ideen werden oft im nächsten Artikel reflektiert) nimmt, entlang einem roten Faden ber mehrere Artikel hinweg. Von diesem Erfolgsrezept sollten die jüngeren Blogger mal etwas lernen, das bombardieren mit sehr unterschiedlichen Themen in jedem neuen Artikel in kurzen Zeitabständen bei steigender Anzahl der Blogger ist eher kontraproduktiv für Autor und Publikum, es fehlt oft etwas der didaktische Faden, man will ja auch lernen/verstehen und nicht bloss informiert werden. Dann ist der Leser nämlich auch gewillt die durchschnittlich längeren tiefergehenden Texte wie bei Ihnen zu lesen, notfalls auch zweimal. Sollte der rote Faden hoffentlich nicht allzu bald enden, liesse er sich auch bestimmt in ein interessantes Buch pressen.

    zum Artikel:

    Ich denke es macht Sinn bei Aggegatzuständen, beim Magnetismus, bei Supraleitfähigkeit oder fraktalen Strukturen von emergenten Phänomenen zu sprechen. Denn hier versagt eine reduktive Beschreibung durch Einzelteilchen, Grundkräften und Differentialgleichungen. Völlig neue abstrakte systemische Konzepte und math. Formalismen/Sprache waren nötig, um diese Phänomene erfolgreich modellieren zu können. Warum kondensieren best. Gase plötzlich, warum gibt es Magnentismus/Supraleitfähigkeit, durch Reduktion liessen sich diese Probleme doch nicht lösen, durch emergente Mechanismen/Effekte aber auch nicht, Denn physik. Prinzipien sind Grössenskalen egal, sie gelten überall. Ich würde eher sagen die emergente Denkweise des Menschen schaffte es zutiefst abstrakte Konzepte zu modellieren (Pauli-Prinzip, Quantenstatistik, Ordnungsprinzipien, Zustandsräume…) auf die wir weder durch Beobachtung/Messung noch durch Reduktion gestossen wären.

    Vergleicht man dies mit dem scheinbar “emergenten” Bewusstsein, so frage ich mich, was hier eigentlich unterschiedlich ist. Man kann Bewusstsein wie Supraleitfähigkeit im Experiment beobachten bei Affen, aber natürlich finde ich die Supraleitfähigkeit/Quantenstatistik nicht in magnetischen/geladenen Atomen, den reduziblen Bausteinen, genausowenig wie ich Bewusstsein in bunten fMRI Bildern sehe und lokalisieren kann. Daraus aber zu schliessen, etwas “Emergentes” (wofür ich bis jetzt immer noch keine vernünftige Definition gesehen haben., einen Begriff nur dadurch zu definieren, was er nicht ist, nicht reduzibel, war noch nie eine gute Motivation für wiss. Begriffe, bwz. fällt mir kein wiss. Begriff ein, der als Antonym eines anderen wiss. Konzeptes grossen Erfolg hatte), ein nichtphysikalisches Naturgesetz/-prinzip (?), ruft das Bewusstsein/Supraleitfähigkeit hervor ist eben genau so falsch. Bei hinreichender Komplexität und Verschaltung vieler physik. Gesetzte wird vieles möglich. Der Computer oder Ameisen zeigen es. Für ein einziges Beobachtungsphänomen eine neue Klasse nichtphys. Naturgesetze erfinden/suchen zu wollen, grenzt mir an wiss. Verzweiflung bwz. Ungeduld und scharf vorbei an Ockhams Razor.

    Wir müssen einfach konstatieren, dass die Hirnforschung noch am Anfang steht mit sehr banalen oberflächlichen Methoden und Konzepten. Auch hier werden wir einen eigenen math. Formalismus und abstrakte Ordnungskonzepte brauchen um verstehen zu können, wie Bewusstsein/Selbstbezüglichkeit beim Zusammenspiel vollständig bekannter materieller Entitäten evolvieren kann. Fegalo hat eine schöne Metapher mit der Black Box und dem Etikett gebracht, Begrifflichkeiten wie Emergenz, Supervenienz helfen leider nicht grossartig das Rätsel des Bewusstseins zu lösen, es bleibt nur eine Um-Etikettierung. Wir werden wohl weit abstraktere Konzepte brauchen um diese Komplexität herunterbrechen zu können.

    Emergenz kann nicht auf Irreduzibilität zurückgeführt werden, denn das geht mit vielen phys. Phänomenen/Systemen auch nicht. Natürlich ist Bewusstsein und Intelligenz nochmal von einer anderen Qualität als Magnetismus. Und der entscheidende Begriff scheint mir hier **Eigenlogik** solcher Systeme zu sein. Und die Bedarf einer gewissen Komplexität(Dimensionalität, Freiheitsgrade, autarke Untersysteme) des Systems. Somit wäre das schon mal ein wichtigerer Faktor, den Eigenlogiken in einfachen Systemen beobachten wir nicht, Regelkreise wie bei Benard-Zellen, eher ein kybernetisches als ein emergentes System für mich. Die **Ameisenforschung** ist hier recht aufschlussreich, den letztlich kommunizieren diese Systeme in einer nicht direkt mathematisch fassbaren Sprache miteinander, über Geruchsspuren und Moleküle bilden sich zahllose Eigenlogiken in diesem Systemen aus, die man nicht in ein paar schlauen phys. und chem. Formeln einfach reduzieren könnte. Das die Komplexität eines Menschenhirns jetzt noch mal zig. Grössenordnungen über denen des Ameisen-Superorganismus liegt, lässt erahnen, mit was für einer ungeheuren wiss. Problemstellung wir es hier wohl zu tun haben und wo die Hirnforschung vom Wissenstand steht. In den Kinderschuhen. Und da wird sie noch lange bleiben, wenn die Biologen, Psychologen, Neurowiss. nicht aufhören nach emergenten Mechanismen und Effekten in bunten fMRI Bildchen zu stochern. Sie müssen anfangen abstrakte eigene math. oder linguistische (oder Hybride davon) Konzepte zu kreieren, die basierend auf materiellen Entitäten ihre Untersuchungsgegenstände monistisch erklären können. Die evo. Erkenntistheorie sowie biolog. Evolution machen auch nicht ersichtlich, warum all diese emergenten Gesetze/Prinzipien eigentlich nur beim menschl. Hirn wirksam sein sollen, alles andere in der Evolution sich aber reduktionistisch erklären lässt. Die Emergenz löst genau ein Problem und schafft dafür zig neue… **Emergenz als anthroprozentrischer Fehlschluss.**

    nebenbei, auf http://theoreticalphysics.stackexchange.com/ organisiert sich momentan ein Teil der physik. scientific community mit recht bekannten Namen (Lubos Motl, Peter Shor…), neben mathoverflow.net entsteht hier openscience zum Mitmachen und Diskutieren aktueller Forschungsfragen abseits von Konferenzen und Journalen mit ansprechenden LaTeX Editor und über Verstärkung/Beiträge erfahrener Physiker wie sie freuen wir uns immer. Schauen sie mal vorbei bei Interesse.

  20. @stephan schleim: radioaktiver Zerfall

    statistische “Gesetze” können sie doch in allem Möglichen finden. Der spontane Alpha-Zerfall wird durch den quantenmechanishcen Tunneleffekt verständlich bei Betrachtung eines Atoms, dafür müssen sie nicht mehrere Atome statistisch auswerten, mit Emergenz hat das nix zu tun, genauso wie Kernfusion (die ganze Sonne mit allen ihren Phänomenen) in der Sonne nur wegen des Tunneleffekts stattfinden kann, ein “winziger” Effekt lässt die Bildung und Evlution dieser Sterne überhaupt erst zu. Wann das einzelne Atom zerfällt können sie natürlich nicht vorhersagen, das ist eben in der Quantennatur der Teilchen begründet. Einen tieferen Determinismus werden sie hier nicht mehr finden, der erklärt warum Atome völlig zufällig zerfallen, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit.

    Sie können auch viele magnetische Atome zu einem Festkörper zusammenbauen, das heisst nicht dass dieser magnetisch oder supraleitend ist. Es ist nicht die Frage, woraus sie eine Zelle aufbauen, sondern wie, ihr Bild von Physik scheint dann doch etwas vereinfacht und unvollständig. Die Konzepte in der Physik sind weit ausgefeilter als pure Reduktion, nur verstehen das die meisten Nicht-Physiker scheinbar nicht.

    Wie in meinem obigen Kommentar muss ich fragen oder beklagen, das gerade Philosophen, die mit Sprache genauer umgehen sollten als Physiker, dann die Physik genauer studieren müssen, bevor sich zu solchen Fehlschluss-Analoga hinreissen lassen die niemanden weiterbringen, am wenigsten die Philosophen. Dem Bewusstsein mit fMRI Bildchen auf die Schliche kommen zu wollen, ist wie mit einem Holzhammer Atome zertrümmern und analysieren zu wollen.

  21. @ Chrys

    Danke für die Info mit den tags!

    Das Eine ist, das Höhere durch das Niedere zu erklären, das andere ist, das Höhere durch ein geeignetes Arrangement des Niederen hervorzubringen, auch wenn ich für das Ergebnis keine Erklärung anbieten kann. So wie Fotografen nicht unbedingt wissen, wie eine Kamera funktioniert, aber trotzdem Bilder machen können.

    Der Beleg für Emergenz wäre aber trotzdem gegeben, denn die Voraussage der Emergenz lautet ja: Bei Vorliegen von XYZ stellt sich Phänomen P ein.
    Die Irreduzibilität bliebe erhalten.

  22. @fegalo

    In einer high-level/low-level Hierarchie erachte ich ein emergentes (i.e., im high-level Formalismus beschriebenes) Phänomen als reduzierbar, wenn es auch im low-level Formalismus beschrieben werden kann. Das ist also nur eine Art von formaler Übersetzung, oder Reformulierung. Es geht dabei aber immer nur um zwei Darstellungen ein und desselben Phänomens auf unterschiedlichen Levels.

    Dass damit irgendwas erklärt wird ist allenfalls ein individueller Eindruck, den man haben kann aber keineswegs haben muss. Es kann didaktisch sehr vorteilhaft sein, wenn man einen Sachverhalt auf unterschiedliche Weisen darlegen kann. Das sagt dann aber weniger über das Phänomen als über die Fähigkeiten unseres Verstehens des betreffenden Phänomens.

    Die Frage, ob oder wie an dieser Stelle etwas hervorgebracht wird — im Sinne eines Wirkmechanismus — halte ich für schlecht gestellt. Es handelt sich ja nur um zwei verschiedene Beschreibungen desselben Sachverhalts. Das Hervorbringen von irgend etwas gehört eher zum Begriff Selbstorganisation als zur Emergenz oder Reduktion. Zugegeben, das Wort Emergenz, wie es im Zusammenhang mit der Untersuchung von Komplexität als terminus technicus gebraucht wird, ist eigentlich ein misnomer, wenn man von seiner ursprünglichen Bedeutung ausgeht.

    Nichtreduzierbarkeit eines emergenten Phänomens liegt dann vor, wenn eine solche Übersetzung vom high-level in den low-level Formalismus nicht möglich ist. Daran ist aber nichts Mystisches, denn das besagt ja nur, dass die formal-sprachlichen Ausdrucksmittel des niederen Levels nicht hinreichen, um das betreffende Phänomen gleichwertig zu beschreiben. Wenn eine low-level Modellierung also zu simpel gestrickt ist, dann passiert so etwas zwangsläufig.

    N.B. Wie Sie sich vielleicht inzwischen schon gedacht haben, die Zitatfunktion mit den grossen Anführungszeichen kriegt man hier mit dem <blockquote> tag. Nur der Vollständigkeit halber sei das noch erwähnt.

  23. @Chris,fegalo,Thomas Kuhn

    @Chris:
    Die von Ihnen zitierte Arbeit zeigt m.E. nur die praktischen Schwierigkeiten einer fluiddynamischen Modellierung und Simulation (z.B. die Grenzen der Boussinesq-Approximation), zieht aber nicht in Zweifel, dass hier alles physikalisch zu geht. Ich glaube, wir gebrauchen immer noch alle den Begriff im unterschiedlichen Sinne, so würde ich auch noch von Emergenz reden, wen ich etwas nachbauen kann. Die Systemeigenschaften und -Gesetze sind so oder so vorhanden. Außerdem würde ich nie das Argument akzeptieren, dass etwas nicht geht (es sei denn, man kann es einwandfrei auf eine logische Basis stellen). Haben sich unserer Vorfahren vorstellen können, worüber wir heute reden oder forschen? Ich vermute, man wird auch Leben nachbauen können, wenn auch nicht so, wie es die Evolution gemacht hat. Beim Traum vom Fliegen hat man ja auch nicht zuerst die Vögel nachgebaut, aber das Prinzip verstanden und erfolgreich genutzt.
    @fegalo:
    Ich habe deshalb den Begriff “Emergenz” an durchsichtigen Beispielen der Physik eingeführt, um klar zu zeigen, dass die Phänomene sich dabei allein durch “Physikalisches” erklären lassen. Ich schränke den Begriff damit bewusst ein. Dann ist die Anwendung dieses Begriffes auf ein Phänomen, dass ich (noch) nicht auf diese Weise erklären kann, natürlich nur eine Hypothese oder eine Idee, ein Anspruch. Wenn ich aber behaupten wollte, eine Erklärung für etwas geht grundsätzlich nicht, muss ich schon rein logische Gründe anführen können, oder ich muss ein nichtphysikalisches Naturgesetz (wie Thomas Kuhn es nennt) postulieren.
    Mir scheint die “physikalistische” Hypothese die vernünftigste zu sein. Die Einheit der Natur zeigt sich schon auf vielen unteren Ebenen, warum sollte auf den höheren Ebenen der Komplexität, die wir ja erst gerade zu untersuchen beginnen, ein “ganz neues unabhängiges Prinzip” auftauchen, die Natur sozusagen noch einmal einen neuen Anlauf nehmen.
    Ich glaube auch, dass wir alle, die wir hier diskutieren, nicht so weit von einander entfernt sind, auch wenn wir “Emergenz” immer noch verschieden benutzen.
    @Thomas Kuhn
    Vielen Dank für die anerkennenden Worte, (ich stehe in der Tat im Gespräch mit einem Verlag über eine Veröffentlichung der Blogbeiträge).
    In der Grundeinstellung stimmen wir überein (s.a. meine Antwort an fegalo), aber ich würde auch noch den mathematischen Apparat der Statistischen Mechanik (wo es keine Differentialgleichungen gibt) als Mittel der Reduktion ansehen ebenso wie alle naturwissenschaftliche Argumente, die irgendwie “zurückführen”. Die Frage ist doch nur, ob ich auf irgendeiner Ebene völlig neu ansetzen muss – mit irgendwelchen nichtphysikalischen Prinzipien. Und in dieser Frage stimmen wir offensichtlich überein.
    Interessant scheint mir der Begriff “Eigenlogik” zu sein, können Sie für den – nein, nicht eine Definition angeben – ein Beispiel angeben?

  24. @ Thomas Kuhn(?): Ihre vs meine Emergenz

    Ich gehöre zugegebenermaßen nicht zu den Wissenschaftstheoretikern mit physikalischer Ausbildung, wie übrigens beispielsweise Thomas Kuhn, die wahrscheinlich noch stets die Mehrheit dieses Lagers stellen. Ich wünsche mir, mich eines Tages einmal neurowissenschaftlicher Wissenschaftstheoretiker nennen zu können.

    Der radioaktive Zerfall war mehr ein “best guess” und ich wollte sehen, wie man hier darauf reagiert. Wenn emergente Eigenschaften per Definition Systemeigenschaften sind, dann kann der Zerfall eines Atoms nur dann ein Fall von Emergenz sein, wenn es sich hierbei bereits um ein System handelt – darüber weiß ich aber zu wenig.

    Es scheint mir aber ohne größere Probleme möglich, ein System zu konstruieren, in dem ein Prozess des radioaktiven Zerfalls eine (zumindest kausal) irreduzible Komponente hinzufügt, denken wir an Schrödingers Katze. Vielleicht “emergiert” hier der Tod der Katze über dem radioaktiven Zerfall.

    Mir ging es aber eigentlich darum, über den Emergenzbegriff Honerkamps hinauszugehen; wenn ich seinen Beitrag richtig verstehe (und meine früheren Gespräche mit Physikern und Chemikern deuten ebenfalls in diese Richtung), dann könnte man seinen Emergenzbegriff wohl durch den der Systemeigenschaft ersetzen. Systemeigenschaften können zwar faszinierend sein, scheinen mir dann wissenschaftstheoretisch aber nicht so besonders – dass ich gerade den Tee aus meiner Tasse trinken kann, ohne dass er über den Schreitisch fließt, ist eine Eigenschaft der Tasse, die keines ihrer einzelnen Atome besitzt (im Sinne Emergenz = Objekte plus ihre Relationen, siehe R. M. Francescotti [2007]. Emergence. Erkenntnis 67: 47-63).

    Das ist aber sicher nicht die Art und Weise, wie der Emergenzbegriff beispielsweise in der Leib-Seele-Debatte verwendet wurde (man denke an die Britischen Emergentisten des frühen 20. Jahrhunderts, etwa C. D. Broad). Neben der Neuheit und Irreduzibilität der emergenten Eigenschaften ging es dabei auch um kausale Kräfte – man nannte das Abwärtskausalität (downward causation; siehe auch A. Beckermann, H. Flohr, & J. Kim [Eds.] [1992], Emergence or reduction? Essays on the prospects of nonreductive physicalism. Berlin: De Gruyter.).

    Beispielsweise könnten irreduzible Eigenschaften lebender Systeme oder bewusster Systeme auch kausal relevant sein – ganz so, wie es unseren Intuitionen entspricht.

    Vielleicht ist so ein Emergenzbegriff aber auch bloß nur ein Lückenbüßer für etwas, das wir noch nicht richtig verstanden haben. Dass Beispielsweise Lebendigkeit oder Bewusstsein sich so nachdrücklich einer wissenschaftlichen Erklärung widersetzen, könnte man aber in ein skeptisches Induktionsargument fließen lassen. How much absence of evidence constitutes evidence of absence?

  25. @ Chrys

    Danke auch für die zweite Info!

    Nachdem ja nun geklärt wäre, dass innerhalb der Physik Emergenz nicht in der Form der Irreduzibilität vorliegt, will ich mal die Betrachtung auf den Fall des hypothetisch emergenten aber irreduziblen Bewusstseins konzentrieren.
    Unter Einbeziehung dessen, was Sie schrieben, würde ich folgende Alternativen sehen:

    – Bewusstsein ist vorläufig irreduzibel emergent, weil unsere Beschreibungen der zugrundliegenden Strukturen, sprich der physikalischen Prozesse inadäquat sind. Beispielsweise könnte unser Begriff von der Materie als solcher falsch sein etc.

    – Bewusstsein ist prinzipiell irreduzibel emergent, das ist die von mir so genannte „black box“-Position, wie sie meines Wissens gewisse Hirnforscher, z.B. Gerhard Roth, vertreten. In meinen Augen ist diese Position ein intellektueller Skandal. 🙂

    Positionen 1 und 2 dürften üblicherweise von Menschen vertreten werden, die den Physikalismus für die zutreffende metaphysische Annahme halten.

    – Bewusstsein ist gar kein emergentes Phänomen, sondern die Forschung ist schlicht barking up the wrong tree.

  26. @Josef Honerkamp / @fegalo

    @Josef Honerkamp
    Dass es bei Rayleigh-Bénard nur um Physik geht, steht, wie ich hoffe, für niemanden hier ausser Frage. Nach meinem Verständnis liegt das Problem hier auch nicht bei der fluid-dynamischen (high-level) Simulation, denn die zeigt ja die topologischen Asymmetrien übereinstimmend mit dem Experiment. Non-Boussinesq Effekte lassen sich fluid-dynamisch recht einfach durch Störungsrechnung einbeziehen, und das klappt offenbar. Ernsthafte Schwierigkeiten ergeben sich aber für den Micro-Level, wo das Geschehen als ein Geschubse von Fluidpartikeln modelliert wird. Mit den low-level Methoden der statistischen Mechanik allein kommt man da über eine Boussinesq Approximation wohl nicht hinaus (jedenfalls sehe ich nicht, wie das gehen sollte). Die low-level Modellierung scheint mir folglich in diesem Fall zu simpel, um alle high-level Phänomene darstellen zu können, und darum geht’s doch bei der Reduktion.

    Wer argumentiert, dass auch die Biologie sich nicht in dieser Weise auf die Physik wird reduzieren lassen, muss freilich über eine Nennung von Beispielen hinausgehen. Aber z.B. Stuart Kauffman tut dies auch, indem er diese Fragestellung quasi informationstheoretisch angreift und in Beziehung bringt zu Turings Aussage über die Existenz definierbarer Zahlen, welche nicht berechenbar sind. Gegen Turing hilft dann auch kein Optimismus mehr.

    @fegalo
    Wenn man das Gehirn ansieht als ein dynamisches neurales Netzwerk, das sich in einem adaptiven und vielfach rekursiven Prozess beständig selbst organisiert, reguliert, und programmiert, dann lässt sich vielleicht eine brauchbare “organic computing” Definition von Bewusstsein festlegen. Das würde ich persönlich für methodisch sinnvoll halten. Aber auch hier hätte das Gehirn so etwas wie eine niedere Hardware- und eine höhere Software-Ebene. Wir können uns der Frage nach dem Bewusstsein vermutlich nicht nähern, ohne dabei irgendwelche begrifflichen Hierarchien einzuführen, und dann gibt es auch immer einen Weg, Bewusstsein als emergentes Phänomen zu sehen.

    Aber prinzipiell sehe ich Emergenz und Reduktion als epistemologische Konzepte. Es hängt letztlich von unseren Modellen, unseren Theorien, unseren Beschreibungen ab, ob und wie wir ein Phänomen als emergent und, falls ja, reduzibel oder irreduzibel erkennen.

  27. @Josef Honerkamp

    Sicherlich noch ganz interessant wäre Ihre Einschätzung eines nichtreduktiven Physikalismus, wie er hier vertreten wird:

    A. Rueger, P. McGivern. Hierarchies and levels of reality. Synthese (2010) 176:379–397. [Link]

    Nichtreduktiv bedeutet ja nicht das Eingreifen mystischer Mächte, es bleibt alles physikalisch.

  28. Leben ohne Vitalismus

    Besser spät als gar nicht. Hierzu gab es noch eine Anmerkung zu machen:

    »Natürlich ist man lange vom Vitalismus abgerückt aber sein ursprüngliche Problem hat man nicht gelöst… «

    »Das Rätselhafteste: Man kann schon länger alle Bestandteile einer lebenden Zelle angeben, bloß wenn man die alle im Labor zusammenfügt, dann hat man… keine lebende Zelle. «
    (Stephan Schleim, 24.11.)

    »Rätselhaft natürlich nur für Materialisten. «
    (fegalo, am Tag darauf)

    Ich bin mir nicht sicher, ob ich alle Kriterien für einen Materialisten erfülle, aber ich erkenne auch nichts Rätselhaftes darin, dass eine Suspension aus Zellbestandteilen nicht lebt.

    Oder ist mit “im Labor zusammenfügt” gemeint, dass die Prozess-Strukturen einer Zelle genau nachgebildet wurden? Wo wäre das schon einmal gemacht worden?

    Man kann vernünftigerweise durchaus annehmen, dass, wenn es gelänge, sämtliche molekularen Bestandteile und Strukturen etwa eines Trockensamens originalgetreu zusammenzufügen, dass dieser Samen bei Zugabe von Wasser zu keimen beginnen würde. Warum nicht, was sollte dem entgegen stehen?

    Es ist ein rein technisches Problem. Theoretisch scheint mir das Problem des Vitalismus sehr wohl gelöst zu sein (sonst hätte es wohl keinen Grund gegeben, vom Vitalismus “abzurücken”).

  29. @Chris

    Die Autoren konstruieren eine “Wärmeleitungsgleichung” mit einer Temperatur (!) auf der Mikroebene, diskutieren deren Beziehung zur Wärmeleitungsgleichung der Makroebene und zeigen, dass eine Reduktion problematisch ist. Der Ausgangspunkt ist selbstgestrickt und hat nichts mit Physik zu tun. Die Autoren haben gar nicht verstanden, was man in der Physik unter Reduktion versteht. Natürlich kann man die Wärmeleitung aufgrund der Gesetze der Mikrophysik verstehen, aber nicht auf einem solchen abstrusen Weg. Vermutlich hat einer der Autoren in seinem Studium etwas Mathematik kennen gelernt, ist dabei wohl aber nie in die Nähe der Physik oder eines Physiker geraten. Kein gutes Zeichen für die Referees der Zeitschrift “Synthese”, obwohl es lange zwischen “received” und “accepted” (Nov 2007-Mai 2009) gedauert hat.

  30. @Balanus:

    Ich stimme Ihnen völlig zu. Ich frage mich immer, wieso manche Leute aus der Tatsache, dass wir – wie unserer Vorfahren auch – inmitten einer Entwicklung stehen und somit noch viele Phänomene nicht vollständig verstehen, zum Anlass nehmen, zu glauben, dass es da ein “tieferes”, ganz neues oder andersartiges Prinzip gibt, das nun die vermeintlichen Rätsel löst. Dafür gibt es nicht das leiseste Anzeichen und ich kenne auch nicht einen einzigen vernünftigen Versuch, solch einen Verdacht zu konkretisieren.

  31. @Josef Honerkamp

    Mit Verlaub, Ihre Bewertung scheint mir da nicht ganz unvoreingenommen zu sein. Rueger und McGivern haben das Beispiel mit der Wärmeleitung tatsächlich aus dem genannten Buch von Mark H. Holmes übernommen (Introduction to Perturbation Methods, Springer, 1995). Dort wird dieses Beispiel in Sec. 5.2 en detail mathematisch durchexerziert. Holmes dient es dabei zur Einführung einer Strategie, die u.a. auch als effective medium theory bekannt ist. Wenn Sie z.B. einmal nach “effective medium theory thermal conductivity” googeln, dann finden Sie hierzu auch praxisbezogene Anwendungen in beträchtlicher Fülle.

    Das Beispiel spricht ja gar nicht gegen eine Reduktion als brauchbares Werkzeug in konkreten Einzelfällen. Es demonstriert aber auch, dass die Gesetzmässigkeiten eines Macro-Levels nicht generell aus jenen eines hierarchisch niederen Micro-Levels deduzierbar sind. Nicht einmal dann, wenn der Macro-Level sich als Limes einer skalierten Familie von Micro-Levels approximieren lässt.

    Mich wundert halt etwas, dass Sie vom Reduktionismus als Weltanschauung offenbar doch sehr viel mehr überzeugt sind als Mario Bunge, mit dessen Ansichten Sie sonst doch durchaus sympathisieren.

    The radical reductionist thesis is that all the higher-level constructs are deducible from (reducible to) lower-level ones, so that eventually all of the factual sciences will be derivable from physics. The most famous case of reduction is that of thermodynamics, which indeed is deducible from laws satisfied by the microphysical components of thermodynamic systems. But there are not many examples like this, not even within physics (see Bunge 1973a). The limited success of the reductionist program is rooted in two features of the real world. One of them is that emergence and the accompanying level structure of reality are pervasive (Bunge 2003a).

    Zitiert nach Matter and Mind, p. 91. (Die Bemerkung zur Thermodynamik gilt jedenfalls für das Gas im thermodynamischen Gleichgewicht, das hatte er anderswo auch als Beispiel genannt.)

  32. @Chris

    Vielen Dank für den Hinweis auf die “effectice medium theory”. Eine solche “Theorie” mag ja in der Praxis mitunter ganz brauchbar sein, aber sie spielt bei der Diskussion über Reduktion keine Rolle, weil sie gar keine fundamentale Theorie auf der unteren Ebene ist sondern nur eine Näherung, in der ein “inhomogenes System durch ein effektives homogenes Medium ersetzt wird”. So etwas macht man auch bei dem Übergang von den mikroskopischen zu den makroskopischen Maxwell-Gleichungen. Man kann natürlich nicht erwarten, dass jede Näherung auf einer Ebene mit einer Reduktion kompatibel ist, und ich bin sicher, man könnte noch mehr solche Beispiele a la Holmes finden. (Übrigens Holmes ist auch Mathematiker, und er interessiert sich für mathematische Eigenschaften bei Gleichungen und Näherungen, die die Physik bereit stellt. )
    Mario Bunge hin oder her (aber Sie haben recht damit, dass ich mit seinen Ansichten in vielem, aber nicht allem, übereinstimme) – ich würde nicht so sehr von einer Weltanschauung oder Überzeugung hinsichtlich des Reduktionismus reden, sondern ich finde schlicht die Behauptung, dass es Phänomene und Eigenschaften auf den höheren Schichten der Komplexität gibt, für deren Erklärung man ganz neue, bisher unbekannte Prinzipien nötig hat, für weniger überzeugend. Das Argument, dass wir heute (!) hier und da Probleme haben, überzeugt mich nicht, es müsste wirklich ein Beispiel gefunden werden, in dem dieses “neue” Prinzip auftaucht und sich als einzige Möglichkeit für eine Erklärung zeigt. Das möchte ich gerne mal sehen, ehe ich zu einer anderen Meinung komme.

  33. @Josef Honerkamp

    Eine nicht geringe Schwierigkeit beim Thema Komplexität stellt tatsächlich unsere Sprache dar, die gegenwärtig noch viel zu unpräzise ist, um eine angemessene Klarheit erreichen zu können. In Englischen ist es eigentlich noch schlimmer, da bleibt oft rätselhaft, ob das Wort emergence umgangssprachlich oder in einem eingeschränkt spezifischen Sinne gemeint ist. Grundsätzlich ist das Problem auch bekannt, so schreibt Melanie Mitchell im letzten Kapitel ihrem Buches (Complexity, OUP, 2009):

    We need a new vocabulary that not only captures the conceptual building blocks of self-organization and emergence but that can also describe how these come to encompass what we call functionality, purpose, or meaning […] These ill-defined terms need to be replaced by new, better-defined terms that reflect increased understanding of the phenomena in question.

    Damit liegt sie sicherlich richtig. Ich fürchte nur, die Unklarheiten werden uns noch eine ganze Weile erhalten bleiben.

  34. @Chris

    Ja, dem stimme ich zu. Ich glaube auch, dass unsere Formulierungen noch zu sehr von unserem Vorverständnis beeinflusst sind und dass wir unser Vokabular erst noch fester an das anbinden müssen, was man schon eindeutig begründen kann.

  35. Emergenz und Forschungspolitik

    Die Debatte über Emergenz im Sinne von Phil Anderson und Robert Laughlin ist auch aus wissenschaftspolitischer Sicht relevant. “Fundamentale Physik” (Astrophysik, Teilchenbeschleuniger) verschlingt überproportional viele Steuergelder mit dem Versprechen, aus den Ergebnissen irgendwann auch Nutzen für die Zivilgesellschaft ziehen zu können. Die mesoskopische/mesoskalige Forschung leidet darunter. Diese kann sich fast nur auf Industrien stützen, die begriffen haben, dass spontane Strukturbildung oder Emergenz in Fluid-Dynamik, Biochemie, Nanoelektronik und anderen Feldern wichtiger sind. Anderson und Laughlin haben das als erste polemisch diskutiert und in den USA hat man daraus längst auch praktische Schlußfolgerungen (und die Stecker aus einigen Großanlagen) gezogen.
    Scholastik und Reduktionismus waren europäische Projekte, scheinen es aber immer noch zu sein. Ist nur die Neue Welt in der Lage, olle Kamellen beiseite zu schieben?

  36. @Helmut Z. Baumert

    Ja, ich habe sogar den Eindruck, dass der politische Aspekt die wesentliche Triebfeder dahinter ist, vielleicht sogar die Eitelkeit der Protagonisten. Aber die Verbrämung mit aufgepeppten wissenschaftstheoretischen Argumenten ist nun doch zu störend. Andererseits würde ich fundamentale Physik nicht als “olle Kamellen” bezeichnen, und beiseite geschoben wird sie auch nicht in der Neuen Welt. Der Antagonismus ist ja auch nur hochgeputscht aus fachfremden Gründen (siehe oben). Methodisch sind sich die beiden Richtungen ja auch ähnlich und sie befruchten sich gegenseitig.
    Wo Scholastik noch ein europäisches Projekt ist,kann ich nicht sehen.

  37. Fundamental = ?

    Wehe uns, wenn Eitelkeit am Steuer sitzt, was ich weder bei Laughlin noch bei Anderson sehe, sondern Lust an guter Florettführung. Der Kampf (um Budgets) zwischen Neuer Physik (=> emergente Phänomene der Mesoskala) und der sog. “fundamentalen Physik” ist plausibel, weil letztere an ihre natürlichen Machbarkeitsgrenzen gestoßen ist und ihre Methoden finanziell nicht mehr extrapolierbar sind (Beschleuniger, Erforschung sehr entfernter Objekte), erstere jedoch grade durchstartet. Hinzu kommt, dass all unser Wissen wohl Ausschnitt war, ist und nach bisheriger Erfahrung immer sein wird: aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen; Chemie ist noch immer nicht reduzierbar auf Physik, Biologie nicht auf Chemie etc. Was nicht verhindert, dass unsere Gleichungen ein hierarchisches System von “Physiken” der Bewegungsebenen bilden, die nicht immer, aber bislang in der Regel ineinander transformiert werden konnten. Dies ist verführerisch. Historisch gab es immer wieder neue Hoffnung auf eine letzte Ebene, nach der wir dann ruhen könnten. Es sieht aber nicht nach einer solchen (auch arbeitsmarktpolitischen) Katastrophe aus. Es gibt wohl nichts wirklich Fundamentales. Gelobet sei das gute Beispiel Feynmanscher Nüchternheit. (Die ollen Kamellen nehme ich selbstredend zurück.)

  38. Ich denke, dass im Zusammenhang mit dem Begriff der Emergenz alle Assoziationen in Richtung “Ebenen”, “höher/tiefer”, “bottom-up”, “top down”, “hervorbringen” u.ä. in der Gefahr stehen, das dualistische Bild eines Schwebens der emergenten Phänomene über ihren Konstituenten heraufzubeschwören; die Seele, die über dem Leib schwebt, wäre da nur der Extremfall.

    Ich denke, dass in einem ganz einfachen Sinne nichts hinzukommt: Wir haben die Elementarteilchen (was immer sie genau sein mögen) als “Ur-Stoff” (hyle) und ihre Form (morphe). Diese betrachten wir mit unterschiedlichem epistemischem Zoom und finden je nach gewählter Auflösung höchstunterschiedliche, interessante Phänomene – obwohl es sich weiterhin um nichts anderes als Elementarteilchen in ihrer jeweiligen Anordnung handelt. Da wird nichts nach oben exprimiert! Und es kommen auch, soweit wir heute wissen, keine neuen Kräfte bzw. Wechselwirkungen zu den vier bekannten Wechselwirkungen hinzu. (Genau deswegen sind Gedanken für das Gehirn gerade NICHT das, was der Urin für die Nieren ist.)

    Schon bei einem einfachen Rad kann ich die Bewegung der einzelnen Atome, aus dem es besteht, nur unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Umgebung – also der Form des Rades und der Umgebung, in der es rollt – erklären oder vorhersagen. Es wäre aber unsinnig, jetzt zu behaupten, die Form – das Rad – wirke ursächlich auf die Atome, das Rad-Sein sei sozusagen eine eigene ontologische Realität.

    Konstituiert wird das Rad allein durch die (An-)Ordnung seiner Teile. Diese Ordnung muss natürlich ETWAS ordnen, sie schwebt nicht über dem Ur-Stoff und kann nicht an und für sich existieren. Aber der a-morphe Stoff für sich genommen erklärt ebenfalls nichts, denn jedes Atom des Rades könnte folgenlos für das Gesamtsystem ausgetauscht werden, vorausgesetzt: die Ordnung bliebe erhalten.

    Hylemorphismus (Aristoteles, Thomas von Aquin) in der Leib-Seele-Debatte steht zwischen Substanzendualismus und materialistischem Monismus und erfährt daher zurzeit zu Recht eine Renaissance. Auch wenn mit ihr noch nichts erklärt ist, vermeidet diese Beschreibung der Zusammenhänge von vornherein bestimmte ontologisierende Verzerrungen, die in einen fruchtlosen Substanzendualismus münden würden. Nicht zuletzt ist dieser Zugang physikalisch plausibel und mit unseren Alltagserfahrung konsistent.

    Können Sie sich damit anfreunden, Herr Prof. Honerkamp?

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