Die Natur der Physik und der kritische Rationalismus

BLOG: Die Natur der Naturwissenschaft

Ansichten eines Physikers
Die Natur der Naturwissenschaft

Bei meinem morgendlichem Spaziergang treffe ich an einer Bushaltestelle manchmal einen guten Bekannten, der auf dem Weg zu seinem Labor für elektronische Musik ist.  In der kurzen Zeit bis sein Bus kommt  entspinnt sich immer eine intensive Diskussion, die er immer mit einer präzisen Frage einleitet, auf der dann Argumente in schneller Reihenfolge ausgetauscht werden.  Ich vermute, ein Außenstehender, der uns zwei Figuren dort gestikulierend sieht und dabei einige Worte aufschnappt, wird sich an Szenen aus einem Buñuel-  oder gar einem Loriot-Film erinnert fühlen.  Vor kurzem  ging es dabei gleich um Wunder, und als ich sagte, ich hielte die Hypothese, dass es einen übernatürlichen Agenten gibt, der ständig in die Welt eingreift, für überflüssig, entgegnete er zufrieden:  "Ja, also auch keine Transzendenz."  Da stutzte ich, und ehe ich etwas erwidern konnte, kam der Bus angerauscht und die kurze Episode war wieder einmal vorbei.

Der Begriff der Transzendenz ist wohl für viele mit dem Glauben an einer übernatürlichen Instanz verknüpft.  Solchen, die mit dieser  Vorstellung nichts oder nichts mehr anfangen können, wird oft vorgeworfen, sie wären so naiv zu glauben, alles in der Welt müsse man mit den menschlichen Verstandeskräften, also rational,  begreifen können.  Natürlich spielt für das Weltbild eines Menschen die Bildung und die intellektuelle Sozialisation eine große Rolle.  So wird man schwerlich einen Naturwissenschaftler finden, der an Wunder glaubt.  Er kennt zu viele Fälle, in denen Phänomene, die einem höherem Wesen zugeschrieben wurden,  durch Naturgesetze erklärbar wurden.  Blitz und Donner waren es in der frühen Geschichte der Menschheit, Kometen, Erdbeben und Krankheiten später , dann die Entstehung des Lebens und heute gilt der menschliche Geist manchen immer noch als durch einen irgendwie gearteten übernatürlichen Funken in die Welt gekommen.  Nun, aller Wahrscheinlichkeit nach wird auch diese letzte Bastion irgendwann  fallen:  Die Hypothese, dass Bewusstsein eine emergente Eigenschaft eines sehr komplexen Gehirns  und damit eine Frucht der Evolution ist, ist für jeden, der die Geschichte der Erforschung der Natur studiert hat, höchst plausibel und ich vermute, dass man für diese These  immer mehr gute Argumente entdecken wird.

Ein Naturwissenschaftler wird also  in der Regel zu einem  Naturalisten. Er ist zutiefst beeindruckt von den Erkenntnissen, die mit dem methodischen Atheismus in den Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten gewonnen wurden und erwartet in Zukunft weitere  Einsichten, die unser Weltbild und unsere Weltanschauung  ähnlich stark verändern werden.  Das heißt aber nun nicht, dass er  gar keine Grenzen für die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen anerkannt, weiß er doch,  dass der Mensch ein Produkt der Evolution ist, seine Erkenntnisfähigkeit  somit  auch auf solche Weise  in  dieser Welt entstanden ist und er somit nie in der  Lage sein wird, von "außen",  von einem archimedischen Punkt aus  die Welt zu sehen und zu verstehen.   
Von dieser Einsicht ist höchstens die Begründung durch die evolutionäre Entwicklung einigen relativ neu.  Interessant wird es nun aber, wenn man sich anschaut, welche Folgerungen man aus dieser Einsicht zieht. 

Man kann, wie die Religionen, Hypothesen über das "Jenseits" dieser Grenzen machen. Man kann aber auch das Fehlen eines archimedischen Punktes einfach akzeptieren und fragen, wie denn ein Erkenntnisprozess von "innen" heraus zu verstehen ist und was er leisten kann. Einem Physiker liegt eine solche Frage besonders nahe, ist er doch mit einem Erkenntnisprozess gut vertraut, der unstrittig große Erfolge in den letzten vier Jahrhunderten hatte.  Dass diese Erkenntnisse wahre Aussagen über die Natur machen, zeigt sich auch dem, der sich gar nicht mit diesen selbst beschäftigen will,  in dem Funktionieren der technischen Innovationen:  Menschen können sich in ihrem Zusammenleben eine Weile etwas "vormachen", doch "hart im Raume stoßen sich die Sachen". 

Aber unsere Theorien sind "nur" mathematische Modelle für Naturvorgänge und wir entdecken immer  wieder, dass diese Theorien an ihre Grenzen stoßen, wenn man in einen gänzlich neuen Phänomenbereich vordringt.  So muss man die Klassische Mechanik zur Relativistischen Mechanik  erweitern, wenn sehr hohe Geschwindigkeiten im Spiel sind. Auf atomarer Ebene taugen auch nur die Quantenversionen der Mechanik und der Elektrodynamik, in denen ganz neue  Begriffe wie der eines Quants nötig und Begriffe wie Realität obsolet werden.  Die Relativitätstheorie zeigt, dass Urteile über Raum und Zeit, bei Kant noch synthetische Urteile a priori, nun doch an der Erfahrung überprüfbar  sind und man fragt sich, ob es außerhalb der Mathematik überhaupt synthetische Urteile a priori gibt.  Ja, die Einteilung von Urteilen in analytische und synthetische, d.h. in solche, die sich schon logischerweise aus der Definition eines Begriffes ergeben und solche, die dieses nicht tun, scheint überhaupt hier nicht nützlich zu sein, denn in der Physik wird ja  z.B. ein Elektron nicht definiert, sondern gefunden, und erst langsam werden die Eigenschaften eines  so Vorgefundenen verstanden, so dass man berechnen kann, wie es sich unter gegebenen Umständen verhält.  Analytische Urteile und Urteile a priori, d.h. unabhängig von der Erfahrung, sind also in einer Naturwissenschaft nicht anzutreffen, wohl in einer Strukturwissenschaft, wie der Mathematik.

Mit solchen Überlegungen ist man aber schon mittendrin in dem, was man Erkenntnistheorie, und dort insbesondere die transzendentale Frage nennt.  Und mit der Erkenntnisfähigkeit der Menschen verhält es sich wie mit einem Elektron. Man findet auch sie nur vor und beobachtet nach und nach ihre Eigenschaften,  jede Definition oder Charakterisierung durch reines Nachdenken ist im Laufe der Zeit überholt worden, es gibt über sie auch nur synthetische Urteile a posteriori.  Nur der Weg, den  die Physik und die Wissenschaft  insgesamt  geht, scheint uns offen zu stehen:  Wir stellen Theorien auf, die stets nur einen Ausschnitt aus der Welt gut beschreiben, aber im Hinblick auf die Gesamtheit der Naturvorgänge stets ungenügend bleiben.  Zwar werden unsere Theorien immer mächtiger, beschreiben also höchst verlässlich einen immer größeren Phänomenbereich, aber eine letzte Theorie scheint  wie eine Letztbegründung nicht möglich zu sein.

Wenn man also insbesondere die Erkenntnisfähigkeit der Menschen dort betrachtet, wo sie bisher offensichtlich zu verlässlichstem Wissen gelangt  ist, nämlich in der Naturwissenschaft und hier insbesondere in der Physik, so kommt man zu einer Einsicht, die insbesondere auch der Philosoph Hans Albert  mit seiner Position des "kritischen Rationalismus" sehr treffend beschreibt.  Stellt sich jemand die Aufgabe, für alles eine Begründung zu verlangen, so gerät  er nach Hans Albert  in eine von drei Situationen:  In den  infiniten Regress, in die Kapitulation vor der Aufgabe durch Zuflucht zu einem "Dogma", welcher Art auch immer, und drittens in einen  Zirkelschluss.

Vom infiniten Regress hat  jeder einen Eindruck bekommen, der sich schon mal mit einem  aufgeweckten Kind unterhalten hat.  Bei  jeder  Antwort auf eine Frage des Kindes wird nachgehakt: "Und warum ist das so?",  und der bald entnervte Erwachsene wird irgendwann die zweite der oben erwähnten Möglichkeiten wählen, den Abbruch des Versuchs einer  Begründung mit Hilfe einer Antwort wie z.B.  "Das ist halt so" oder "Ja, das hat der liebe Gott so gemacht" .  Der Zirkelschluss schließlich besteht darin, dass man in der Begründung schon voraussetzt, was man eigentlich begründen will – ein Denkfehler, der uns oft  unbewusst unterläuft und vor dem auch die klarsten Denker nicht immer gefeit sind.  
Hans Albert  sieht keine Alternativen zu diesen drei Situationen und da er sie alle für unakzeptabel hält, bezeichnet er diese Situation insgesamt als ein Trilemma.  Dass man einem  infiniten Regress und einen Zirkelschluss aus dem Wege gehen will, ist wohl unstrittig. Dass  er aber auch den Abbruch des Verfahrens durch die Annahme eines Dogmas nicht akzeptiert,  zeigt einerseits, dass ihm die Antwort der Religionen auf dieses Trilemma nicht überzeugt, andererseits, dass er  z.B.  auch Wahrheitsgefühl ,  Intuition oder ähnliches nicht als Quelle der Erkenntnis anerkennt.   Wie man auch dazu steht, das Aufzeigen dieser drei Möglichkeiten trägt alleine schon zu einer Klarheit in den Gedanken bei ähnlich wie es auch durch die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen durch Kant geschehen ist.

Der kritische Rationalismus, den Hans Albert vertritt, begegnet diesem Trilemma nun mit einer Einstellung, die Naturwissenschaftler in ihrer Forschung mehr oder weniger bewusst praktizieren.  Hans Albert versteht darunter zunächst einen "kritischen Realismus", eine für Naturwissenschaftler selbstverständliche Sicht, nämlich dass wir die Welt als ein Gegenüber  sehen, die sich unabhängig von uns  verhält,  also real vorhanden ist.  "Kritisch" ist dieser Realismus, weil die Erscheinungen der Welt nicht unmittelbar eingesehen und verstanden werden können;  dieser Tatsache  muss sich eine Naturwissenschaftler jeden Tag stellen.  Weiterhin gehört zum Kritischen Rationalismus von Hans Albert  ein "Fallibilismus", d.h. die Anerkennung der prinzipiellen  Fehlbarkeit  der menschlichen Erkenntnis,  sowie  der "methodische Rationalismus",  der die Prüfung der Erkenntnisse zur Methode macht und damit, auch wenn absolute Sicherheit nicht erreicht werden kann, zumindest entscheidbar wird, welche Antwort auf eine Frage vorzuziehen ist. Die Hoffnung auf absolute  Gewissheit wird also aufgegeben, dafür eine Methode, mit der man der Wahrheit immer näher kommen könne, propagiert.

Das alles wirkt wie eine Beschreibung der naturwissenschaftlichen Methode. Unsere Theorien haben sich aus den verschiedensten Überlegungen durch ständige Prüfungen heraus "gemendelt", haben sich so gegenüber anderen Vorstellungen als überlegen gezeigt.  Man lernte aber auch, dass dieses jeweils nur  in einem bestimmten Gültigkeitsbereich gilt, dass sie über diesen Bereich hinaus "fehlbar" sind und dass dort eine allgemeinere Theorie gesucht werden muss.   Einsicht in die prinzipielle  Fehlbarkeit,  Konkurrenz unter den Antworten auf Fragen durch kritische Prüfung an einer Wirklichkeit: Das ist das Beste, was uns zur Verfügung steht. 

Dass der kritische Rationalismus einem Physiker so selbstverständlich erscheint, ist natürlich kein Zufall, denn die Wissenschaftstheoretiker haben in der Tat von jeher ihr Anschauungsmaterial vorwiegend in der Geschichte der  Mathematik und Physik gefunden.  Karl R. Popper und in seiner Nachfolge Hans Albert sehen im kritischen Rationalismus sogar eine Lebenseinstellung, als eine Art, wie man allgemein beim Lösen von Problemen vorgehen sollte. 

Wenn man sich also auf dieses Verfahren bei der Suche nach Erkenntnis einlässt, das Trilemma also nicht dadurch löst, indem man die Zuflucht zu irgendeiner Art von Dogma oder unverrückbarer Wahrheit wählt, leugnet man in keiner Weise die Beschränkung des Menschen in seiner Erkenntnisfähigkeit, ja, man zieht eigentlich erst eine klare Konsequenz aus der Einsicht in diese Beschränkung und die Praxis der Wissenschaft zeigt, dass gerade der kritische Ansatz, die ständige Bereitschaft zur Überprüfung, zu den weitreichendsten Erkenntnissen führt. 

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Veröffentlicht von

Josef Honerkamp war mehr als 30 Jahre als Professor für Theoretische Physik tätig, zunächst an der Universität Bonn, dann viele Jahre an der Universität Freiburg. Er hat er auf den Gebieten Quantenfeldtheorie, Statistische Mechanik und Stochastische Dynamische Systeme gearbeitet und ist Autor mehrerer Lehr- und Sachbücher. Nach seiner Emeritierung im Jahre 2006 möchte er sich noch mehr dem interdisziplinären Gespräch widmen. Er interessiert sich insbesondere für das jeweilige Selbstverständnis einer Wissenschaft, für ihre Methoden sowie für ihre grundsätzlichen Ausgangspunkte und Fragestellungen und kann berichten, zu welchen Ansichten ein Physiker angesichts der Entwicklung seines Faches gelangt. Insgesamt versteht er sich heute als Physiker und "wirklich freier Schriftsteller".

21 Kommentare

  1. Wir können zwar einen kritischen Realismus vertreten, aber ich fürchte, wir sind — ganz im Sinne der evolutionären Erkenntnistheorie — dazu verdammt, naive Realisten zu sein.

    Und sagt die evolutionäre Erkenntnistheorie nicht auch, dass ein echter Zugewinn an neuer Erkenntnis—wenn überhaupt—nur durch den evolutionären Wandel erfolgen kann?

    Individuell können wir doch allenfalls nur bis an unsere jeweiligen Erkenntnisgrenzen vorstoßen.

  2. Versteckter Idealismus im kritischen Realismus

    Popper’s Kritischer Realismus kann als Versuch-und-Irrtums-Ansatz auf einem höheren Niveau betrachtet werden. Im Gegensatz zum mehr oder weniger blinden Versuchs-und-Irrtums-Ansatz – den beispielsweise die Evolution betreibt – will der Kritische Realismus methodisch und rational vorgehen um Probleme zu lösen. Er glaubt auch, dass es eine objekive Wahrheit unabhängig von der Sichtweise gibt und dass wir uns dieser Wahrheit immer mehr annähern können. Zugleich schliesst er Irrtümer nie aus, weshalb er auch keine absolute Wahrheit kennt, jedoch Methoden kennt, um die Falschheit von vermeintlich sicherem Wissen zu zeigen.

    Der kritische Realismus will das, was in der Naturwissenschaft als Wahrheit, Fortschritt, und systematischer Lösungsansätz gilt auf die Gesellschaft und ihre Probleme übertragen. Damit wäre Dogmatismus und Ideologie ausgeschlossen, denn alles ausser dem rationalen Vorgehen und der offenen Grundhaltung stände zur Disposition und die Gesellschaft wäre jederzeit zu Reformen bereit.

    Für mich ist die entscheidende Frage, ob der kritsche Realismus ein befriedigendes Gesellschaftsmodell begründen kann. Nach Popper kann sie es in Form der offenen Gesellschaft – einer rationalen, reformbereiten Gesellschaft, die das Machbare verfolgt, radikale Umbrüche aber ablehnt.
    Das kann nur als Ideal aufgefasst werden. Die Geschichte zeichnet ein völlig anderes Bild. Nicht kontinuierliche Verbesserung und sich Herantasten an die Wahrheit beobachtet man in realen Gesellschaften, sondern eher die Ausbildung von immer wieder neuen Gleichgewichten und sich perpetuierenden Strukturen, bis es dann zu Umwälzungen kommt, die die etablierten Strukturen zerstören. Dann bildet sich wieder ein neuer halbwegs stabiler Zustand heraus. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird also wissenschaftstheorisch wohl besser durch Kuhn’s Modell des Paradigmenwechsels abgebildet.

  3. Kritischer Rationalismus

    Auch ich halte die Leistungen und Erfolge der Methodik des kritischen Rationalismus für unbestreitbar und unverzichtbar. Nur habe ich Zweifel, ob dies – gerade aus evolutionärer Sicht – der einzige Erkenntnisweg sein kann. In der Musik, der Kunst, der Liebe, dem Sport u.v.m. scheinen mindestens Ergänzungen dazu notwendig zu sein. Wäre das Universum nach kritisch-rationaler Methode organisiert, so hätte es mit Leben womöglich gar nicht angefangen…

  4. @Martin Holzherr

    Dass sich die Methodik des kritischen Rationalismus (nicht Realismus) auch in der Geschichte von Gesellschaften zeigt, scheint mir auch eine gewagte Hypothese zu sein. Eine Gesellschaft ist ja ein selbtsorganisierendes System und die Mechanismen sind sicherlich ganz andere und kompliziertere. Dass die Methodik des kritischen Rationalismus im gesellschaftlichen Diskurs und in der politischen Gestaltung größeres Gewicht haben sollte, ist aber wohl unstrittig.

  5. @Michael Blume

    Wenn Du Musik, Kunst und Liebe auch zu der Sphäre zählt, in der Erkenntnis nötig ist, dann hast Du wohl recht. In der Liebe ist ein ständiges kritisches Infragestellen wohl nicht lebbar (:-)). Aber ich rede nicht von diesen Sphären, dort geht es doch eher um Einfühlen, Inspiration und Vertrautheit, Tradition, Heimat und all das, was natürlich auch zum menschlichen Leben unbedingt dazu gehört.
    Was das Universum und das Leben betrifft: Verläuft Evolution nicht auch nach dem Schema des kritischen Rationalismus? Diese und die Evolution der Physik war ja gerade das Anschauungsmaterial der Popperianer.

  6. Daß die Physik dem Ideal des Kritischen Rationalismus besonders nahe kam, hat Popper selbst auch so gesehen. Besonders gut dokumentiert das Einsteins Brief, in dem er die ‘Logik der Forschung’ lobt. Popper hat ihn seitdem in Neuauflagen stets im Anhang veröffentlicht.

    Martin Holzherr hat ja schon beschrieben, wie das Ideal des Kritischen Modells aussieht, wenn man es auf die ‘Offene Gesellschaft’ überträgt. Ich würde es etwas anders formulieren. Kritischer Rationalismus heißt, eine Auseinandersetzung mit Argumenten zu führen statt mit Gewalt. In Poppers Worten: Laßt Ideen anstelle von Menschen sterben. Eine Offene Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Menschen die Art ihres Zusammenlebens nach dieser Maxime gestalten.

    Liberale Demokratien entsprechen diesem Ideal mehr als Diktaturen, weil sie das ermöglichen. Durch Meinungsfreiheit, die das unbehinderte Austauschen von Argumenten ermöglichen, durch Wahlen, durch Gewaltenteilung, etc.

    Daß die geschichtliche Entwicklung realer Gesellschaften tatsächlich so verläuft, hat er immer bestritten und ein ganzes Buch, ‘Das Elend des Historizismus’, geschrieben, um solche Vorstellungen zurückzuweisen.

    Stattdessen betonte er immer die Freiheit der Menschen, eine Offene Gesellschaft unter günstigen Bedingungen und mit etwas Glück zu gestalten – oder eben nicht.

    Das Problem der gegenwärtigen Politik scheint mir nicht, daß der Kritische Rationalismus Gesellschaften unzutreffend beschreibt, sondern daß seine Vertreter, wie Helmut Schmidt oder Ralf Dahrendorf, fehlen.

    Daß der Kritische Rationalismus aus evolutionärer Sicht ergänzt werden muß, kann ich nicht sehen. Im Gegenteil, die Prinzipien des Kritischen Rationalismus und der Evolution sind die gleichen. In Poppers Worten: “Alles Leben ist Problemlösen.”

  7. @Josef & Jürgen

    Hier scheint mir der zentrale Punkt erreicht zu sein: Entfaltet sich Evolution nach der Methodik des kritischen Rationalismus? M.E. nein: Liebe, Musik, Kunst und Religion sind “Sphären” in denen (hier stimmen wir überein, Josef) kritische Rationalität nicht ausreichen. Diese Sphären sind aber doch ganz klar Ergebnis der Evolutionsgeschichte. Und ich würde unsere Intuitionen und Emotionen ganz klar zu unserem Erkenntnisapparat zählen, mit dem wir uns orientieren und evolutionär bewähren.

  8. Michael: Rationalismus und Metaphysik

    Lassen wir mal den Meister sprechen: “Ich versuchte zu zeigen, daß es möglich ist, metaphysische Theorien zu kritisieren, weil sie Versuche sind, Probleme zu lösen – Probleme, für die es möglicherweise bessere oder weniger gute Lösungen gibt…Ich zeigte anhand einer kurzen historischen Skizze, daß es immer wieder Änderungen gegeben hat in unseren Ideen darüber, wie eine befriedigende Erklärung aussehen soll. Diese Ideen änderten sich unter dem Druck der Kritik. Sie waren also kritisierbar, wenn auch nicht empirisch nachprüfbar. Es waren metaphysische Ideen – Ideen von größter Bedeutung” (aus: Ausgangspunkte)

    Genau das tun Sie übrigens mit Ihren Untersuchungen, ob religiöse Gruppierungen reproduktiv erfolgreicher sind.

    Aber es muß auch klar sein, welche Art von Erkenntnis Musik, Liebe oder Religion NICHT verschaffen können. Wenn Alfred Einstein z.B. Mozarts Klavierkonzert KV 271 als frühes Meisterwerk ansieht, das Mozart nie übertroffen hat, jemand anders sieht aber in den Konzerten ab KV 449 noch Fortschritte: wie können wir entscheiden, wer recht hat? Argumentativ gar nicht.

    Wenn wir es dennoch versuchen, müssen wir in Machtdiskurse eintreten und z.B. auf die Popularität, eventuell bei ‘Experten’ verweisen, oder normative Aussagen über die Bedeutung von Originalität oder den Umgang mit Tradition machen.

    Wir können also nicht erkennen, welches Klavierkonzert von Mozart besser ist, wenn wir auch unsere persönlichen Favoriten haben mögen. Dasselbe gilt für Religion oder Liebe. Dagegen können wir sehr wohl erkennen, daß die ART die Bewegung von Himmelskörpern besser beschreibt als die Newtonssche Mechanik oder die Bibel.

  9. Kritischer Emotionalismus?

    Der Evolution waren scheinbar die Emotionen sogar wichtiger als Vernunft bzw. Verstand: http://www.focus.de/…s-hirnwelten_aid_56993.html

    (Emotionale) Moral geht der Rationalität voraus, nicht umgekehrt.

    Hier ist das auch nochmal schön dargestellt (von einem agnostischen Atheisten): http://wahrheitueberwahrheit.blogspot.com/….html (auch der darin enthaltene Link zu Quine ist gut, wenn auch sehr hart zu verstehen).

  10. @Jürgen

    Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass metaphysische Annahmen (z.B. Götter brauchen Menschenopfer) durch “bessere” (z.B. Gott schuf alle Menschen mit unveräußerlichen Rechten) abgelöst werden können – und sollen. Und ja, ich erforsche empirisch, welche Traditionen wann und warum erfolgreich sind. Und stelle -manchmal gegen meine Wünsche- fest, dass klar irrationale Mythen erfolgreicher sein können als rationalisierte Versionen. Für Musik, Kunst, Sport, Politik etc. gilt oft gleiches, so dass sich m.E. der kritische Rationalismus nicht als einziger Erkenntnisweg erweist. Leider gibt es aber noch kaum Kolleginnen und Kollegen, die auf diesem Gebiet empirisch arbeiten! uns fehlen sogar noch Begriffe, um das (oder die) Rätsel zu erfassen.

  11. ideale und die reale Gesellschaft

    Eine Gesellschaft ist ja ein selbtsorganisierendes System und die Mechanismen sind sicherlich ganz andere und kompliziertere. Dass die Methodik des kritischen Rationalismus im gesellschaftlichen Diskurs und in der politischen Gestaltung größeres Gewicht haben sollte, ist aber wohl unstrittig.

    Die Versuche Poppers und Kuhns ihre ideellen Wissenschafttheorien zu Gesellschafttheorien zu erweitern zu wollen waren sicherlich verständlich, aber am Ziel imho vorbei. Vor kurzem kam mir über Telepolis wieder Ted Kaczynksi und sein Manifest in die Gedanken, man kann diesen Mann als vieles bezeichnen wenn man über seine Taten urteilt, aber seine Theorien sind imho die eines sehr kritischen Rationalisten. Vieles was er darin als Zukunft prognostiziert ist bald Gegenwart, das kann man mittlerweile an der Selbstorganisation und Evolution unseres technologischen Gesellschaftssystem ablesen. Es konkurrieren keine Paradigmen mehr wie dies von Popper und Kuhn angedacht wurde, sondern Technologien, die mittlerweile immer mehr auch die Art bestimmen wie wir die Welt perzerpieren. Auch die scientific community ist in dieses System einbezogen und kann es nicht mehr unabhänig von aussen analysieren.

    Das Problem der gegenwärtigen Politik scheint mir nicht, daß der Kritische Rationalismus Gesellschaften unzutreffend beschreibt, sondern daß seine Vertreter, wie Helmut Schmidt oder Ralf Dahrendorf, fehlen.

    Einzelpersonen/-Institutionen und dialektischer Diskurs werden momentan in dieser Übergangszeit durch Meme und affirmative Bestärkung (facebook google etc.LIKE) immer mehr substituiert. Das Beurteilungskritierum für Wissenschaftler ist in diesem System die Zahl der Publikationen mittlerweile, es wäre ein Fehlschluss das als Zeitgeist zu verstehen. So wichtig und faszinierend ich beim Lesen damals Kuhns und Poppers Thesen empfand (sollte Standard Voresung in jedem MINT Fach sein), für das kommende Jahrhundet und unser heutiges System der Informationsverarbeitung/bewertung muss es imho grundlegend überdacht und wahrscheinlich technologisch gestaltet und reglementiert werden wenn man zu den richtigen Idealen des krit. Rationalismus zurück will.

    In der Kosmologie wird diese Debatte alle Nase lang geführt, ob vorgeschlagene Hypothesen zu Multiversen, Branenwelten überhaupt noch Kriterien wie Falsifizierbarkeit erfüllen. Was ist ein String, ein physikalische reale Entität, ein mathematisches Objekt, Metaphysik? Bestimmen letztendlich die Eigenschaften des math. geom. Raums die diesen Ur-Teilchen zugrunde liegen die Natur der Physik/Realität? Selbst gestandene respektable Professoren stellen hier Hypothesen auf, die meiner Meinung nach über die Grenzen des krit. Rationalismus hinausgehen Math. Unviersum . Ich denke den Glauben von der einen Wissenschafttheorie die wir zum Ideal von Forschung & gesell. Diskurs erheben können muss man sich verabscheiden in diesen Zeiten. Kaczynski hatte imho leider recht, dass Technologie/Mathematik immer mehr bestimmen werden, was wir sind und wie wir uns wahrnehmen und urteilen.

    Nicht das ich damit auf Dogmen gestütze Ideologien ein Existenzrecht ansprechen will. Für mich persönlich hat der krit. Rationalismus auch eine spirituelle Sphäre, sind best. Bereiche der Wirklichkeit der mensch. Erkenntnis und messtechn. Erschliessbarkeit ausgeschlossen. Ergo frei nach meinen Wünschen, Träumen, Hoffnungen interpretierbar. Unser Bewusstsein und Hirn wurde evolutionär auf das Verständnis der unmittelbar umgebenden Wirklichkeit optimiert. Ich brauche kein Fegefeuer noch Himmel noch 42 Jungfrauen um mich über die Vergänglichkeit hinwegzutrösten. Natürlich ist so eine Art von spirituellen Glauben nicht mehrheitskompatibel. Aber zeigt vielleicht dass Menschen sich immer mehr ihre eigene Wissenschafts-/Welttheorie in Zukunft suchen & konstruieren werden. Man sieht ja v.a. im englischen Web wie viele verschieden artige und hohe Verständnis- und Reflexionsniveau es gibt. Mann kann nicht mehr nur einfach in Dogmatiker, Wissenschaftler, Intellektuelle etc. differenzieren bei völlig freien Informationsfluss. An der Wiki und Bloglandschaft (Fachblogs, Groupblogs, Scholarpedia, Wikipedia…) lässt sich das alles sehr schön beobachten. Weswegen imho “alternative” massenkompatible Erkenntniswege wie Hr. Blume sie andeutet bzw. des öfteren hier vertritt ausselektiert werden. Es gibt keine Verständnissprünge/graben mehr zwischen dogmen-/wissenschaftsgestützen Weltanschauungen mehr. Jeder kann auf der Plausibilitätsleiter kontinuierlich Stufe für Stufe emporsteigen je nach Zeitinvestition und Intellekt. Mensch wird sich nicht mehr ausserkirchlich sozial organisieren und somit notgedrungen den kleinsten gemeinsamen Verständnis-Nenner der Mehrheit wählen müssen sondern selbstständig kleine dezentrale Gruppen bilden und anhängen. Das ist auch der Grund warum die Kirche immer mehr Kritiker hat, durch Internet wurden binnen kürzester Zeit viele gangbare Wege zu alternativen Verständnisarten und der persönlichen Wirklichkeit näheren Niveaus gelegt. Die Gesellschaft wird dadurch freier und offener, aber das muss nicht besser heissen.

    Die Frage einer gemeinsamen erhaltbaren wiss.theo. Methodik stellt sich mehr denn je und ob der Mensch oder die Technologie sie bestimmen wird. Die “Entschiedung” Japans ihre erdbebengefährdete Insel mit AKW zuzupflastern war kein Resultat eines off. gesell. Diskurses sondern durch die ökonom. Konkurrenten monetär und systemtechnologisch impliziert. Der off. gesellsch. Diskurs ist ein schönes Ideal und Fata Morgana zugleich, bevor man seine Eigenschaften im Sinne Habermas aufstellt muss man aber gerade heute erst mal klären wie man ihn technisch gewährleisten will, so dass er nicht immer erst dann stattfindet wenn die Entscheidung bereits gefallen ist und das ganze dann zu einer nachträgliche Gruppentherapiesitzung verkommt wie jede Talkrunde. Das Phänomen der Plagiatsjäger ist das erste Indiz imho dafür, dass hier Entscheidungen und Methodiken von einer kleinen off. Gesellschaft dezentral vorrausschauend gewahrt werden, hier wurde ein Wahrheitskriterium aus dem luflleeren Raum geschaffen und wirkt zurück, nachdem die Technologie zuvor das institutionell geschaff. Kriterium immer mehr relativiert hat. Komischerweise weil Technologie (einfache Gruppenorganisation) auf Technologie (copypaste) wirken konnte. Das funktioniert also für Wahrung wiss. Wahrheit, bei ökonom. Interessen offenbar noch nicht, da wird sich wohl durch Informationstechnologie indirekt nur die Art der Interessen ändern aber nicht deren zeitl. Bewältigung solange keine kurzfristigen & dezentralen Entscheidungsmechanismen (direke Demokratie, …) implementiert werden. Dann blockieren Technologien bessere Technologien wie man es im Energiesektor z.B. sieht. Technologische Ungleichgewichte waren in der Historie schon immer die notwendigen und oft hinreichenden Bedingungen für Kriege/Blasen/Kollapse. Ich ziehe aus Kaczynkis Analysen nicht dieselbe Conclusio, die richtige Conclusio wäre gewesen, dass Technologien so implementiert und reglementiert werden müssen, dass ihre Folgen gesellschaftstechnisch diskursfähig und -entscheidbar sind. Eine offene Gesellschaft kann nur eine sein, die dem einzelnen auch mehr Verantwortung abverlangt. Bei wachsender Produktivität und besseren Informationsmöglichkeiten sollte dies aber nicht DAS Problem sein.

  12. Kritischer Rationalismus: wo und wo nicht

    Ich kann natürlich nur über gute und weniger gute Lösungen sprechen, wenn ich ein Urteil einer äußeren Instanz (z.B. Natur) zulasse. Wenn ich das Urteil selbst fabriziere, wird man wohl nie Einigkeit erzielen. So kann man in Kunst, Musik, Religion, in allem von Menschen Gemachten wohl nicht einen kritischen Rationalismus erwarten. Dass solche “Sphären” ebenso wie unsere Erkenntnisfähigkeit durch die Evolution geprägt sind, ist ja klar. Wie wichtig diese für die Zukunft sind, können wir m.E. gar nicht beurteilen. Die biologischen Evolution gehorcht sicher auch nicht dem Prinzip des kritischen Rationalismus, da überlebt ja am besten das Angepassteste in einer sich ständig wandelnden Umgebung.
    In der Entwicklung von Gesellschaften muss das Prinzip auch nicht wirken – nur schön wäre es , wenn sich, wie gesagt, der Stil der Auseinandersetzungen nach diesem Prinzip richten würde und Kritik immer als Chance gelten würde. Ob sich Gesellschaften, in denen eine solche Kultur vorherrscht, dann besser schlagen, können wir gar nicht beurteilen, allein auch schon weil ja demokratische Gesellschaften, in denen diese ja nur eine Chance hat, noch sehr jung sind. Dass wir uns das wünschen, steht auf einem ganz anderen Blatt.

  13. @Josef

    Ja, Deinem Kommentar kann ich nur völlig zustimmen! Und frage dann doch: Gibt es also nur wissenschaftliche Erkenntnis? Sicher nicht – wir erkennen ja vor aller Wissenschaft mit unseren Sinnen!

    Erkennen wir auch in der Liebe (es ist zumindest ein uralter Ausdruck für einvernehmliche Sexualität – “sie erkannten einander”), der Musik, Kunst, Religion, Politik? War die Formulierung der Menschenrechte z.B. das Erkennen hin zu einer Realität, oder nur eine nette, aber letztlich unhaltbare Erfindung?

    Faszinierend finde ich, dass wir ja gerade in der evolutionären Erkenntnistheorie davon ausgehen, dass sich unsere Sinne an einer (mesokosmischen) Realität bewährt, sich ihr angenähert haben – und zwar schon lange, bevor der reiche und unverzichtbare Erkenntnisweg der Wissenschaft hinzu trat. Dein Buch hat bei mir genau diese Faszination wieder wachgerufen, denken wir nur an den noch immer so rätselhaften Status der Mathematik!

    Was “Erkennen” ist und was nicht halte ich für eine der zentralen Fragen der Gegenwart…

  14. @Michael

    Natürlich kann man eigentlich nur verabreden, was man als Erkenntnis bezeichnen will, und man ist da im Prinzip frei. Aber ich glaube, man sollte bestimmte Anforderungen an Verlässlichkeit und Objektivität stellen. Eine subjektive Einsicht sollte man m.E. nicht als Erkenntnis bezeichnen, ein Gefühl schon gar nicht. Im strengen Sinne dürfte man dann nur bei naturwissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen auch von Erkenntnissen reden, aber das ist ja unrealistisch. Man sieht wieder: Definitionen helfen nicht weiter, charakterisieren der Einsichten schon, vielleicht kann man ihr dann manchmal so gar den Status einer Erkenntnis zubilligen.

  15. Puzzle-Erkenntnis

    Lieber Herr Honerkamp,

    welchen Erkenntniswert billigen Sie einem fertig gelegten Puzzle zu?

    Nahezu jeder Mensch hat schon einmal ein Puzzlebild aus einem ungeordneten Haufen von Bruchstücken zusammengesetzt.
    Wahrscheinlich sah er darin eher einen Zeitvertreib als eine wissenschaftliche Tätigkeit, aber wenn er nach vielen konzentrierten Versuchen das komplette Bild vor sich hatte, in dem alle Grenzen der Fragmente haargenau zueinander passten und zusammen ein sinnvolles Muster ergaben, dann war er sich vermutlich völlig sicher, daß jedes Teil an seiner richtigen Stelle plaziert war und das erhaltene Bild das einzig richtige Ergebnis war.

    Die gleiche Überzeugung, das richtige Ergebnis aus einem Haufen von Fragmenten zusammengesetzt zu haben, hat auch der Archäologe, der aus Tonsplittern eine antike Vase zusammensetzt, oder der Paläontologe, der aus fossilien Knochen einen Dinosaurier rekonstruiert.

    Die Evidenz des fertigen Puzzles (der Vase, des Dinosauriers), das einzig richtige Ergebnis zu sein, kann durchaus der Gewißheit gleichwertig sein, mit der ein Physiker oder Mathematiker das Ergebnis einer Gleichung aufschreibt. Der Unterschied zwischen Puzzle-Evidenz und mathematischer Gewißheit liegt hauptsächlich darin, daß die mathematischen Ergebnisse durch Nachrechnung wiederholbar sind, während sich die Erkenntnis von der Wahrheit des Puzzlebildes nur auf zwei Beobachtungen stützen kann:
    1.Die Grenzen der Bruchstücke passen haargenau zusammen und
    2. Alle Fragmente ergeben in dieser Anordnung ein sinnvolles Bild.
    Wenn diese Bedingungen erfüllt sind besteht kein Grund, an der korrekten Zusammenfügung der Teile zu zweifeln.
    Was sagt der kritische Rationalist zu diesem Erkenntnisgewinn?

  16. @Steffen Rehm

    Ja, das ist, glaube ich, ganz einfach: Ich habe dann eine sehr überzeugende “Theorie” für das, was das Puzzle darstellen soll, und man kann sich keine bessere vorstellen. So ist das auch mit unseren physikalischen Theorien in ihrem Gültigkeitsbereich. Nur prinzipiell kann man das nicht ausschließen. Fallibilismus heißt ja nicht, dass ich stets auf wackeligen Boden stehe, ich kann sogar die Wahrheit besitzen, ohne dieses explizit zu wissen. Die Einstellung zu meinem Wissen ist so eine ganz andere: Nicht die Rechtfertigung soll dominieren, nicht das Gefühl, eine Wahrheit zu besitzen, sondern eine stets kritische Haltung und Bereitschaft zur Revision, wenn denn Argumente dagegen denn besser sind.

  17. @Josef & S. Rehm: Theorie

    Ich kann nur völlig zustimmen – und mir doch nicht den freundlichen Hinweis verkneifen, dass selbst im Begriff der “Theo-rie” noch das Göttliche mitschwingt…

    Andreas Müller schreibt dazu z.B. sehr schön:
    “Die Etymologie lehrt, dass der Begriff Theorie bereits sehr alt und dem Griechischen entlehnt ist: théa bezeichnet “das Anschauen”, horáein meint “sehen”. Dabei ist die Verwandtschaft zum griechischen Wort für “Gott”, théos, kein Zufall. Er ist derjenige, der unablässig auf die Menschheit herabschaut. Das Adjektiv theoretikós beschreibt eine innere Geisteshaltung, etwas gedanklich zu erfassen. Heute manifestiert sich diese Haltung beim Theoretiker.”
    http://www.wissenschaft-online.de/…/theorie.html

    Das Erkennen, was für ein spannender, schillernder Prozess und Begriff! 🙂

  18. @Josef Honerkamp

    Prima, es funktioniert auch bei mir wieder:

    looking up honerkamp-online.de
    connecting to honerkamp-online.de:80
    requesting http://honerkamp-online.de/…aege/Fortschritt.PDF
    remote size / mtime: 56830 / 1198008371

    Aus irgendeinem Grunde konnte der Server offenbar nicht auf die Dokumente zugreifen und hat die Anfrage umgeleitet. Das Problem bestand mindestens seit vergangenem Samstag. Mein Alarm war wohl etwas voreilig.

  19. Sinn

    Es geht Ihnen ja ausdrücklich um die Erkenntnisfähigkeit, deren Güte sie in der Naturwissenschaft hervorheben, Zweifel eingeschlossen, und da wollte ich mit dem Puzzle auf die Erkenntnisfähigkeit von Schulkindern hinweisen, die schon einfache Puzzles beherrschen, mit Hilfe der Fragment-Grenzen eine sinnvolle Gestalt konstruieren können, also zweifelsfreie Theorien herstellen.

    Bei unseren Vorfahren war das Spurenlesen zur Kunst entwickelt worden, das aus wenigen Indizien eine sinnvolle Strategie im Sinn aktualisierte, heute noch üblich bei der Kripo, aber auch im täglichen, sinnvollen Leben unentbehrlich.

    Ist die ganze Wissenschaft nicht auch so ein riesiges Mosaik, das ständig in Zerfall und Verbesserung befindlich ein Sinn-Ganzes aus den unzähligen Fragmenten bilden soll? Erkenntnisfähigkeit ist doch zum großen Teil Puzzle-Fähigkeit=Sinnbildung, auch in den großartigen Theorien der Physiker.
    Übrigens: SINN (oder Unsinn) ist das, was ich hier mittels Reihenfolgen von Buchstaben gerade in Eurem Hirn selektiv aktualisiere.
    Als Musiker werden Sie vielleicht meiner Hypothese zustimmen, daß Sinnbildung ein rhythmischer Vorgang sein muß, um immer aktuell im Geschehen zu sein. Lesen ist auch ein rhythmischer Vorgang der Augenbewegungen.
    Als Mathematiker haben Sie hoffentlich nichts dagegen, einen einfachen, „fraktalen“ Algorithmus hinter solchem Sinn-Rhythmus zu vermuten.
    Als Physiker können Sie die bioelektrischen Potentialschwankungen in der Hirnrinde als physiologisches Korrelat der rhythmischen Sinnbildung betrachten und ihrer Entstehung und Wirkung größte Aufmerksamkeit schenken.

    .

  20. @Steffen Rehm

    Sinnbildung scheint mir eher mit Relation- und Strukturerkennung, dh. mit Strukturbildung in unserem Hirn zu tun zu haben (dazu gehört u.a.auch der Rhythmus). Ob dabei “fraktales” oder überhaupt Algorithmen eine Rolle spielen, weiß ich nicht, bin aber eher skeptisch. Auf jeden Fall können wir beobachten, dass wir es angenehm finden, wenn wir irgendwo Sinn zu entdecken meinen. Und das ist so gefährlich, weil wir dann von jedem Unsinn, den wir für Sinn halten, so überzeugt sind. Also müssen wir aufpassen und kritisch bleiben.

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