Medizinische Fachartikel finden und einordnen

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Medizin einfach erklärt
Die Monacologin

Medizinische Fachartikel finden und einordnen – wie geht das eigentlich? Für Fachfremde ist das gar nicht so einfach. Hier habe ich ein paar Tipps, wie Sie bei der Recherche und Lektüre vorgehen können.  

Publikationen, Preprints, Case Reports, Reviews und Metaanalysen

Wenn Forscher eine Beobachtung machen und ihre Erkenntnisse mit anderen Wissenschaftlern teilen wollen, können sie ihre Ergebnisse in Form einer Publikation (Paper, Fachartikel) bei wissenschaftlichen Fachzeitschriften einreichen. Experten aus dem jeweiligen Fachgebiet prüfen dann die Qualität und Aussagekraft der Daten und verlangen unter Umständen weitere Analysen und eine Überarbeitung, bevor sie das Manuskript veröffentlichen (Peer-Review-Prozess).

Dieser Peer-Review-Prozess braucht Zeit. Während der Pandemie war es besonders wichtig, dass internationale Wissenschaftler ihre Ergebnisse schnell mit anderen teilen. Viele Wissenschaftler haben ihre Manuskripte deshalb auf sogenannten Preprint-Servern hochgeladen. Preprints sind Manuskripte, die den Peer-Review-Prozess noch nicht durchlaufen haben.

In der Medizin gibt es außerdem sogenannte Case Reports (Fallberichte). Darin schildern Mediziner einzelne Fälle aus der Praxis, die für Kollegen von besonderem Interesse sein können (zum Beispiel, weil es um eine seltene Erkrankung, Nebenwirkung oder eine sehr ungewöhnliche Präsentation einer Erkrankung geht).

In sogenannten Reviews fassen Wissenschaftler Ergebnisse vieler wissenschaftlicher Publikationen zu einem Thema systematisch zusammen. Ähnlich sind sogenannte Metaanalysen. Hier werten Wissenschaftler die Ergebnisse mehrerer Studien – zum Beispiel klinischer Studien – quantitativ statistisch aus. Wenn mehrere Studien zum selben Ergebnis kommen, ist das in der Wissenschaft der höchste mögliche Grad an Evidenz.

Die Fachsprache der Wissenschaft ist Englisch

Die Sprache der medizinischen und naturwissenschaftlichen Wissenschaft ist in erster Linie Englisch. Ohne Englischkenntnisse ist es leider fast nicht möglich, sich mit sogenannten Primärquellen, also Originalliteratur von Wissenschaftlern, auseinanderzusetzen. Wissenschaftliche Publikationen enthalten zu Beginn meistens einen Abstract, in der die Fragestellung der Studie, deren Relevanz, die eingesetzten Methoden, die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Arbeit zusammengefasst sind.

Wenn Sie über gar keine Englischkenntnisse verfügen, aber Primärquellen prüfen wollen, können Sie diese Abstracts in Online Übersetzer wie DeepL oder Google Translate kopieren. Die Übersetzungen sind gar nicht so schlecht.

Medizinische Fachartikel finden

In einem anderen Artikel habe ich erklärt, welche Arten von Quellen für medizinische Informationen es gibt. Wenn Sie wissenschaftliche Originalliteratur zu einem Thema aus der Medizin suchen wollen, schlage ich vor, die Datenbanken/Suchmaschinen Pubmed oder Google Scholar zu benutzen. In der Suchleiste können Sie Suchbegriffe eingeben (auch hier gilt: fast alle Literatur ist auf Englisch, also sollten Sie Englische Suchbegriffe eingeben. Sie können nach Stichworten suchen, um die es in der Publikation gehen soll, aber auch nach Autoren). Auch können Sie weitere Suchkriterien einstellen (etwa das Alter der Veröffentlichungen).

Wichtige Begriffe zu Klinischen Studien

In klinischen Studien werden bestimmte Fachbegriffe verwendet. Die wichtigsten möchte ich hier erklären:

  • Retrospektive Studie: die Wissenschaftler blicken zurück und versuchen eine Fragestellung zu beantworten. Zum Beispiel: haben meine Lungenkrebspatienten in ihrer Vergangenheit irgendetwas gemeinsam gehabt? Beobachtung: die meisten von ihnen haben in der Vergangenheit geraucht. Einschränkung: aus retrospektiven Studien lassen sich statistische Zusammenhänge ableiten, allerdings lässt sich ein ursächlicher (kausaler) Zusammenhang nicht beweisen.
  • Prospektive Studie: die Wissenschaftler blicken in die Zukunft und beobachten eine Gruppe ab einem bestimmten Zeitpunkt.
  • Interventionsstudie: Wissenschaftler untersuchen die Wirkung einer Intervention. Das kann ein Medikament sein, aber auch irgendeine andere Art Therapie (OP, Bestrahlung, Physiotherapie etc.) oder Präventionsmaßnahme (Sportprogramm, Ernährung etc.).
  • Phase I Studie: ein Medikament/ eine Impfung wird nach Experimenten in Zellkultur und an Tieren das erste Mal am Menschen getestet. Die Probanden sind meist jung und gesund, die Anzahl der Probanden ist gering, die Dosis des Medikaments ist gering und wird langsam aufdosiert. Hier wird in erster Linie die Sicherheit des Medikaments im Menschen untersucht. Es gibt allerdings auch häufig Phase I Studien mit kranken Patienten. Etwa, wenn auf jeden Fall Nebenwirkungen zu erwarten sind, mit denen gesunde Probanden nicht unnötig zu kämpfen haben sollen. Und dann, wenn Kranke möglichst schnell vom erwarteten Nutzen des Medikaments profitieren soll. (Beides ist häufig bei Krebsmedikamenten der Fall).
  • Phase II Studie: in diesen Studien wird die eigentliche Wirkung eines Medikaments untersucht.
  • Phase III Studie: hier werden Wirkung, Nebenwirkung und Dosis an einer noch größeren Probandengruppe getestet
  • Placebo-kontrolliert: Menschen erkranken ständig an irgendwelchen Erkrankungen. Um eine zufällige Erkrankung, die zeitlich auf eine Medikamentengabe folgt, von echten Nebenwirkungen zu unterscheiden, werden viele neue Medikamente in Studien mit der Wirkung eines Scheinmedikaments (Placebo/ Substanz ohne Wirkung) verglichen. Tritt nur in der Probandengruppe ein erwarteter Effekt auf, spricht das für eine Wirkung des Medikaments. Unterscheiden sich unerwünschte Beschwerden in der Probanden- und Kontrollgruppe nicht, spricht das für eine gute Sicherheit des Medikaments. In der Medizin ist es allerdings häufig nicht möglich, eine Placebo-kontrollierte Studie durchzuführen. In vielen Fällen wäre es nämlich unethisch kranken Menschen nur ein Placebo statt eines Medikaments zu geben. Unter anderem in Studien mit neuen Krebs-Medikamenten werden deshalb meistens die Standardtherapien mit der neuen Therapie verglichen. Selbst wenn sich in einer Studie herausstellt, dass ein neues Medikament nicht besser als ein altes wirkt, muss das keine Enttäuschung sein. Denn sollten beide gleich gut wirken (sogenannte non-inferiority/Nicht-Unterlegenheit), haben Ärzte damit mehr Therapieoptionen. Medikamente können sich in ihrer Darreichungsform und Gabe (Tabletten, Infusionen, Häufigkeit etc.) unterscheiden, unterschiedlich teuer sein und unterschiedliche Nebenwirkungen haben.
  • Randomisiert: stellen Sie sich vor, Sie wollen ein Medikament an 100 Personen testen, 50 sollen das Medikament und 50 ein Placebo bekommen. Wenn Sie nun 50 100-jährigen mit Vorerkrankungen das Medikament verabreichen, und 50 jungen, gesunden Menschen ein Placebo, sind die Ergebnisse natürlich nicht vergleichbar. Es ist deshalb wichtig, dass die Probanden- und Kontrollgruppe ganz zufällig und nicht nach bestimmten Merkmalen ausgewählt werden. Wichtig ist, dass sich Probanden- und Kontrollgruppe in ihren Eigenschaften (Altersverteilung, Geschlechtsverteilung, Vorerkrankungen etc.) so ähnlich wie möglich sind. Je ähnlicher, desto eher lassen sich die Gruppen vergleichen. In klinischen Studien gibt es immer eine Tabelle mit den Eigenschaften der beiden Gruppen.
  • Doppelblind: der Proband und der Arzt, der ein Medikament verabreicht/ den Patienten in der Folge untersucht, wissen nicht, zu welcher Gruppe der Proband gehört. Manchmal ist es methodisch nicht möglich, dass eine Studie doppelblind ist. Etwa wenn es um einen chirurgischen Eingriff geht. Da weiß der behandelnde Art natürlich, was er operiert.
  • Multizentrisch: viele große klinische Studien finden an unterschiedlichen medizinischen Einrichtungen, zum Teil sogar in verschiedenen Ländern statt.

Qualität der Publikationen grob beurteilen

Es gibt zehntausende Fachzeitschriften von unterschiedlicher Qualität – darunter leider auch sogenannte predatory journals, die Arbeiten nicht im oben beschriebenen Peer-Review-Prozess prüfen. Für Fachfremde ist sehr schwer zu erkennen, ob eine Publikation von guter Qualität ist und wie aussagekräftig sie ist. Ich möchte Ihnen dennoch ein paar Orientierungspunkte nennen, mit denen Sie medizinische Fachinformationen auch ohne Fachkenntnisse grob einordnen können.

Die Studie

  • Plausibilitätscheck von Fragestellung, Relevanz und Ziel der Studie: sind die Fragestellung, die Relevanz des Themas und das Ziel der Studie in Abstract und Einleitung plausibel begründet?
  • Plausibilitätscheck Methoden: welche Methoden wurden verwendet, um die Fragestellung zu beantworten? Sind sie dafür geeignet? Ein überzogenes Beispiel: wollen Wissenschaftler etwas über Oberschenkelhalsfrakturen herausfinden, sollten sie keine Schultern untersuchen. Oder handelt es sich um eine Studie, die in Zellkultur durchgeführt wurde und Rückschlüsse auf ganze Organismen zieht? Gab es Kontrollen? (bei klinischen Studien z. B.: eine Kontrollgruppe, die ein Placebo oder ein Standardmedikament enthalten haben) Wie viele Probanden gab es (Wichtig: bei seltenen Erkrankungen kann es natürlich nicht viele Probanden geben. Eine kleine Probandengruppe bedeutet nicht automatisch, dass die Studie nicht aussagekräftig ist)? Im Fall von Labor-Arbeiten: wurde eine Fragestellung mithilfe verschiedener Methoden untersucht?
  • Plausibilitätscheck Ergebnisse und Schlussfolgerung: können aus den Ergebnissen die behaupteten Schlussfolgerungen geschlossen werden? Wieder ein überzogenes Beispiel: wenn die Autoren eine Studie mit zwei Probanden durchgeführt haben, können sie damit nicht auf die Allgemeinheit schließen.
  • Limitationen: Werden die Einschränkungen der eigenen Studie von den Autoren kritisch diskutiert? (In den meisten seriösen Zeitschriften üblich)
  • Quellen: wenn sich die Autoren in der Veröffentlichung auf bereits vorhandenes Wissen zum Thema oder bestimmte Methoden beziehen, sollte am Ende eine der Publikation ein ausführliches Literaturverzeichnis stehen. Sie können grob prüfen, ob die Überschriften der zitierten Studie zu der zitierten Aussage passen. Die zitierten Publikationen können Sie nach den hier genannten Kriterien prüfen.

Die Autoren und die Einrichtungen

  • Autoren: wer sind die Autoren? Der erstgenannte Autor ist in der Regel der Studienleiter bzw. der, der die meisten Experimente gemacht und die Publikation geschrieben hat. Der letztgenannte Autor ist in der Regel der Arbeitsgruppenleiter, der Professor, der Chef. Diese beiden Positionen in einer Autorenliste sind also besonders wichtig. Googeln Sie diese beiden Autoren. Haben sie bereits im Bereich, der Sie interessiert, veröffentlicht? Vor allem der Letztautor sollte, wenn er Spezialist in diesem Bereich ist, schon einige Publikationen zum Thema veröffentlicht haben. Suchen Sie bei Google, ob der Letztautor in dem jeweiligen Fachgebiet renommiert ist: ist er in zentralen Positionen von Fachgesellschaften? Tritt er bei Fachkongressen auf? Gibt es Berichte über ihn? Bei großen klinischen Studien sind häufig zahlreiche Ärzte und Wissenschaftler beteiligt. Statt einzelne Autoren zu googeln, können Sie hier die aufgelisteten Institutionen ansehen: welche Kliniken waren beteiligt? Kommen die Kliniken Ihnen seriös vor?
  • Institution: an welcher Institution arbeiten die Autoren (Universität, Behörde, Industrie etc.)? Kommt Ihnen die Institution seriös vor?

Die Fachzeitschrift( bzw. das Journal)

  • Impact Factor: der sogenannte Impact Factor (IF) ist ein Wert, der angibt, wie häufig Beiträge aus einer Fachzeitschrift von anderen Wissenschaftlern zitiert werden. Er ist also ein Anhaltspunkt dafür, wie groß der Einfluss (Impact) des Journals auf die wissenschaftliche Community ist. Um den Impact Factor einer Zeitschrift zu finden, geben Sie einfach den Namen der Fachzeitschrift und das Stichwort Impact Factor in eine Suchmaschine ein. Je höher der Impact Factor, desto höher der Impact. Es gibt viele Kritikpunkte am IF, so wie es sie auch an Universitäts-Rankings gibt. Wieder gilt: ein hoher IF ist keine Garantie für Qualität, ein niedriger bedeutet nicht, dass eine Publikation nicht qualitativ hochwertig ist. In Nischenthemen, mit denen sich nicht viele Wissenschaftler beschäftigen, sind niedrigere IF normal. Für Fachfremde, die den Inhalt einer Publikation selbst nicht prüfen können, halte ich den IF trotz seiner Mängel für einen möglichen Orientierungspunkt. In der Medizin und Biologie ist es in der Regel so: zweistellige IF sind sehr hoch. Ein IF im Bereich von 1 ist eher niedrig, höhere einstellige Werte sind auch eher hoch.
  • Beispiele für medizinische und (bio)wissenschaftliche Fachzeitschriften mit besonders hohen IF: New England Journal of Medicine (NEJM), British Medical Journal (BMJ), The Lancet, Nature, Science, Cell.
  • Herausgeber des Journals: wer ist der Herausgeber des Journals? Vielleicht ein bekannter wissenschaftlicher Verlag oder eine Fachgesellschaft (ein Zusammenschluss von Fachleuten)? Beispiel: The Journal of the American Medical Association (JAMA)

Zu welchen Schlüssen kommen andere Leute?

  • Medienberichte/Expertenkommentare: finden Sie online Medienberichte, in denen sich Experten aus dem Fachgebiet, die nicht an der Studie beteiligt waren, zu der Studie äußern? Falls ja, halten sie die Einschätzung für nachvollziehbar?
  • Weitere Studien: Kommen auch andere Wissenschaftler zum selben Ergebnis?

Einordnung von Studien mit Beteiligung der Pharmaindustrie

Ich mache es kurz und schmerzlos: Medikamentenstudien sind ohne Beteiligung der Industrie praktisch nicht möglich. Die Entwicklung neuer Medikamente kann Milliarden kosten. Stellt sich ein Medikament als Pleite heraus, ist das Geld verloren. Universitäten und Forschungseinrichtungen können solche Investitionen in der Regel nicht tätigen. Auch haben sie gar nicht die nötige Infrastruktur und das nötige Personal: denn klinische Studien erfordern sehr viel bürokratischen Aufwand (Genehmigungen von Behörden, rechtliche Absicherung, Versicherungsschutz für die Probanden, Dokumentation etc.).

Es gibt Studien, die Pharmaunternehmen direkt durchführen (etwa experimentelle Studien). Die Autoren stehen dann natürlich in einem Arbeitsverhältnis mit dem Unternehmen. Für solche Studien gelten bei der Veröffentlichung aber dieselben Qualitätskriterien, wie für alle anderen auch. Die Studien werden also von unbeteiligten anderen Wissenschaftlern geprüft.

Die meisten großen Medikamentenstudien laufen an vielen verschiedenen Einrichtungen ab, nur so können möglichst viele Patienten auf der ganzen Welt eingeschlossen werden. Die meisten Ärzte stehen mit den Pharmaunternehmen dann gar nicht direkt in Kontakt, sie behandeln einfach ihre Patienten und dokumentieren, wie es ihnen mit der untersuchten Therapie geht. Sie dürfen auch keine Geschenke von der Industrie annehmen.

In wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist eine industrielle Beteiligung immer angegeben. Außerdem müssen Autoren mögliche Interessenkonflikte offenlegen (etwa, wenn sie für Pharmaunternehmen Vorträge halten oder Beratertätigkeiten ausüben und dafür ein Honorar bekommen).

Bild: Pixabay (ds_30)

Veröffentlicht von

Marisa Kurz ist Assistenzärztin an einem Universitätsklinikum und befindet sich in der Ausbildung zur Fachärztin für Hämatologie und Onkologie. Vor dem Medizinstudium hat sie ein Studium der Biochemie (M. Sc., B. Sc.) und der Philosophie mit Nebenfach Sprache, Literatur und Kultur (B. A.) abgeschlossen. Nebenbei schreibt sie als freie Journalistin, u. a. für den Georg Thieme-Verlag. Sie promoviert in der Krebsforschung zu Immuncheckpoints bei Lungenkrebs. Mein Ziel: Ich will, dass Patienten ihre Erkrankungen und Therapien besser verstehen. Deshalb möchte ich Medizin leicht verständlich ohne Fachbegriffe erklären. Nur gut informierte Patienten können autonome Entscheidungen über ihre Behandlungen treffen. Und gut informierte Patienten fühlen sich, so bin ich überzeugt, besser aufgehoben.

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