Heimat und Identität: Heimatbegriff im Islam – Gastbeitrag von Max Heidelberger

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Wenn über die in Deutschland, bzw. in Europa im Allgemeinen lebenden Muslime geredet wird, ist in der Regel von ihren „Ursprungsländern“ die Rede. Der Zustand, zwischen einem Ursprungsland und dem Land, in welches man eingewandert ist, hin- und hergerissen zu sein und vielleicht auch gewisse Probleme zu haben, das Land, in welches man eingewandert hat, als seine „neue Heimat“ zu akzeptieren, beziehungsweise für die zweite Generation, quasi „zwischen zwei Kulturen“ zu leben, ist aber nicht ein speziell muslimisches Problem. Als in Deutschland geborener deutsch-Franzose (oder französisch-Deutscher?), kenne ich dieses „Problem“, wenn man es überhaupt als ein solches bezeichnen kann, zur Genüge aus eigener Erfahrung. Ja, man braucht sogar nicht mal ins Ausland zu gehen – schon wenn man, so wie ich, im badischen Karlsruhe aufgewachsen ist und später für längere Zeit in Berlin gelebt hat, wird man merken, dass es auch schon innerhalb Deutschlands schwierig sein kann, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen und eine andere Stadt als die, in der man geboren und aufgewachsen ist, als seine neue „Heimat“ anzuerkennen.

Bloggewitter: Heimat und Identität Welche Bedeutung hat aber nun der Begriff „Heimat“ in der islamischen Welt und was lässt sich in der religiösen Tradition des Islam hierzu finden?

In den meisten Ländern der islamischen Welt wird „Heimat“ durch das aus dem Arabischen stammende Wort „Watan“ (im Türkischen „vatan“ geschrieben) ausgedrückt. Dem „Lisan al-Arab“ („die Sprache der Araber“; verfasst 1290 von Ibn Manzur) genannten berühmtesten arabischen Lexikon zufolge ist watan „…Der Niederlassungsort (manzil), an dem man sich aufhält“ – „Niederlassung“ ist hier im Sinne von „Sesshaftwerdung“ zu verstehen. In sprachlicher Hinsicht wird mit diesem Ort also der Ort bezeichnet, an dem man seinen Wohnsitz hat; auch die Orte, an dem eine Herde zu weiden pflegt, wird im Arabischen als ihr „watan“ bezeichnet.

Zum Teil ist der Begriff „watan“ aber im Lauf der jüngeren Geschichte, ähnlich wie der deutsche Heimatbegriff, politisch stark aufgeladen und leider in einigen Fällen auch zu ideologischen Zwecken missbraucht worden: so haben in der arabischen Welt einige meist sozialistisch orientierte Parteien wie zum Beispiel die Ba’th-Partei diesen Begriff benutzt, um ihre Vorstellungen von der Arabischen Einheit zu untermalen. Im modernen Arabisch wird die arabische Welt in ihrer Gesamtheit, also vom Irak bis nach Mauretanien, deshalb auch als „al-watan al-Arabi“ („die arabische Heimat“ oder „das arabische Vaterland“) bezeichnet. Bereits gegen Ende des osmanischen Reiches und seit Atatürk, wird dieser Begriff auch in der Türkei dazu benutzt, um das Verständnis von Nation zu untermauern. So lautet einer der Slogans, die von den Soldaten  der türkischen Armee gerufen werden: „her _ey vatan için“ („alles für das Vaterland“), was für deutsche Ohren nicht gerade angenehme Assoziationen hervorruft.

Wie sieht es aber nun in religiöser Hinsicht mit dem Begriff der Heimat im Islam aus?

Im Koran taucht das Wort „watan“ nur an einer einzigen Stelle und in abgewandelter Form (mawatin – Orte) in einem Kontext auf, der mit „Heimat“ nicht besonders viel zu tun hat. Im koranischen Kontext ist es eher Begriff „diyar“ – Gefilde (vom Wort „dar“ – Haus abgeleitet), welcher für diejenigen Dinge steht, die mit dem Begriff „Heimat“ zusammenhängen. Die meisten Verse in diesem Zusammenhang nehmen darauf Bezug, was für ein gewaltiges Unrecht es darstellt, Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben. Dies ist ganz besonders vor dem Hintergrund der Geschichte der ersten muslimischen Gemeinde in Mekka und der Lebensgeschichte des Propheten zu sehen, die der muslimischen Überlieferung zufolge aufgrund der Intoleranz und Repressalien der heidnischen Mekkaner dazu gezwungen worden waren, ihre „diyar“, ihre Heimat zu verlassen. Diese Auswanderung (hidjra) des Propheten Muhammad im Jahre 622 n. Chr. Aus Mekka, um sich in Medina quasi eine „neue Heimat“ zu suchen, war so prägend für die Geschichte des Islam, dass sie den Anfangspunkt der islamischen Zeitrechnung bildet. Die Sehnsucht des Propheten und derjenigen seiner Gefährten, die mit ihm hatten auswandern müssen (muhadjirun – „Auswanderer“ genannt, im Gegensatz zu den ansar, den „Helfern“, welche sie bei sich in Medina aufnahmen) nach ihrer Heimatstadt Mekka ist eines der zentralsten Leitmotive der islamischen Heilsgeschichte, deren Höhepunkt die Zurückeroberung Mekkas bildet. Interessant ist, dass der Prophet dennoch nicht endgültig in seine ursprüngliche Heimat zurückkehrte, sondern weiterhin bis zu seinem Tode in seiner neuen Heimat Medina ansässig war, wo er auch begraben ist. Es scheint, als habe sich der Prophet, trotz seiner großen Sehnsucht nach seiner Heimatstadt, so stark mit seiner neuen Heimat identifiziert, dass er trotz einer Möglichkeit zur Rückkehr dort blieb.

In den Aussprüchen des Propheten Muhammad und dem islamischen Recht findet sich auch einiges darüber, ab wann man einen Ort als „Heimat“ bezeichnen kann und inwiefern man sich seiner neuen Heimat anpassen soll. So lautet ein Ausspruch des Propheten:

Wer sich 40 Tage lang bei einem Volk (arab. qawm – Volk, oder auch eine Gruppe von Menschen) aufhält, gehört zu ihnen.“ –

Es ist zwar hiermit in erster Linie gemeint, dass gute oder schlechte Absichten einer Gruppe, mit der man Umgang hat, auf einen abfärben, doch weist dieser Ausspruch auch darauf hin, dass einen die Gesellschaft, in der man sich aufhält, verändert und man sich quasi auch unbewusst seiner „neuen Heimat“ anpasst und schließlich „dazugehört“. Da das islamische Recht für Reisende einige Erleichterungen (z. B. Erlaubnis zur Verkürzung des Gebets oder das Fasten auf einen Zeitpunkt nach der Reise zu verschieben) vorsieht, finden sich dort recht genaue Definitionen dafür, ab wann man an einem Ort sozusagen „beheimatet“ ist oder „im Reisezustand“ (z. B. gehört alles, was  3 Tagesreisen vom eigenen Wohnort enfernt liegt, noch zum „Heimatort“ dazu und nach ca. 2 Wochen gilt man an seinem Ankunftsort als „beheimatet“). Aus einem der Aussprüche des Propheten lässt sich auch entnehmen, dass man die an seinem Aufenthaltsort vorherrschende Sprache gebrauchen soll, wenn man sich in einer Gruppe von Einheimischen befindet.

Recht häufig ist in Predigten in der arabischen Welt und in der Türkei auch das arabische Sprichwort: „Die Liebe zur Heimat gehört zum Glauben“. Zu hören. Meistens dürfte mit diesem Ausspruch der Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist, beabsichtigt sein, was auch in theologischer Hinsicht Sinn macht: wenn jemand glaubt, dass Gott für einen bestimmt hat, an einem bestimmten Ort zur Welt zu kommen und aufzuwachsen, wird es ihm als eine Respektlosigkeit Gott gegenüber erscheinen, seinen Ursprung und seine Wurzeln zu verleugnen.

In der islamischen Tradition findet sich aber auch ein anderes, dem bisher geschilderten scheinbar entgegengesetztes Motiv: das Jenseits oder die göttliche Gegenwart als die „wahre Heimat“ der Gläubigen, und das diesseitige Leben als eine Karawanserai in der man auf der Durchreise kurz Rast macht. So soll Muhammad gesagt haben:

Sei in dieser Welt wie ein Fremder oder einer, der auf der Durchreise ist.

In gewisser Weise ist im islamischen Verständnis der Gläubige also überall und nirgends zuhause.

Oder, um es mit den Worten eines meiner türkischen Freunde auszudrücken:

Der Schildkröte ist es egal, in welchem Garten sie ausgesetzt wird.

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Hussein Hamdan M.A., geb. 1979 studierte Islam- und Religionswissenschaft sowie Irankunde in Tübingen und schloss sein Studium 2007 mit einem Magister ab. Anschließend folgte, ebenfalls an der Universität Tübingen, die Doktorarbeit über das Wirken der Azhar-Universität im christlichen-islamischen Dialog, die im März 2013 abgeschlossen wurde. Hussein Hamdan war die ersten beiden Jahre seiner Promotion Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, ehe er 2009 für zwei Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für interkulturelle Kommunikation in Heidelberg wurde. Dort verfasste er u.a. den Band „Muslime in Deutschland. Geschichte, Gegenwart und Chancen“. Aktuell ist er an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart angestellt und für das Projekt „Gesellschaft gemeinsam gestalten – Junge Muslime als Partner“ verantwortlich. Hussein Hamdan ist Autor und Sprecher der Kolumne „Islam in Deutschland“ (SWR) und Referent zu diversen Themen des Islam. Seine Schwerpunkte sind Muslime in Deutschland, Interreligiöser Dialog, Humor im Islam sowie Einführungen in die Grundlagen, Quellen und Geschichte des Islam. Zudem ist er Mitglied des Runden Tischs Islam von Integrationsministerin Bilkay Öney in Baden-Württemberg. Hamdan hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen des interreligiösen und interkulturellen Dialogs engagiert. Von 2004-2007 moderierte er in Tübingen den Arabisch-Amerikanischen Dialog. Aktuell ist er Vorstandsmitglied des Bendorfer Forums.

4 Kommentare

  1. Zuordnung Kulturraum/Religion

    Danke für diesen schönen und interessanten Artikel!

    Du fragst:

    Welche Bedeutung hat aber nun der Begriff „Heimat“ in der islamischen Welt und was lässt sich in der religiösen Tradition des Islam hierzu finden?

    Der größte Teil deiner Ausführungen beziehen sich auf den arabischen und türkischen Kulturraum – als Teil der islamischen Welt. Weißt Du etwas über muslimische Länder, die nicht arabisch sind oder wo der Islam nicht Staatsreligion ist?

    Diese Länder haben vermutlich unterschiedliche religiöse Traditionen des Islam.

    Gerade hier in Deutschland, denke ich, ist es wichtig zwischen Kulturraum und Religion zu differenzieren (was DU in deinem Text ja auch tust)da viele Menschen Muslime mit Arabern oder Türken gleichsetzen.

    Wikipedia sagt der Begriff “islamische Welt wird verwendet für

    * die Gesamtheit jener Nationen, in denen der Islam die Mehrheitsreligion ist; in der islamischen Rechtstradition Dar al-Islam genannt

    * die Staaten, die Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) sind
    * selten auch: die Gemeinschaft aller gläubigen Muslime (Umma) im religiösen Sinne

  2. @Joe Dramiga

    Danke für das nette Lob! Was den Begriff “islamische Welt” betrifft, kann ich nur sagen, dass er sehr unterschiedlich definiert werden kann. Ich persönlich finde die erste Definition aus der Wikipedia recht zutreffend;

    Allerdings hat mein Studienfach, die Islamwissenschaft, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die “islamische Welt” zu erforschen, eine sehr viel weitere Sicht: man kann sich in der Islamwissenschaft auch mit Muslimen in Europa oder den USA beschäftigen – die Frage der Identifikation vor allem letzterer mit dem Staat, in dem sie leben, wäre sicher spannend.

    Es kam die Frage nach einem Land, das nicht mehrheitlich islamisch ist. Hier sei Indien genannt: Muhammad Iqbal (später einer der Vordenker für die Idee der Gründung Pakistans) schrieb in einem seiner Gedichte unter anderem (es müsste, glaube ich, während der dreissiger Jahre gewesen sein): “Mera vatan Hindustan” – meine Heimat Hindustan.

    Darauf, dass das Wort watan in den meisten Sprachen der islamischen Welt (also Arabisch, Persisch, Türkisch, Urdu, Pashto, Hindi, Uzbekisch, Kirgisisch, …) geläufig ist, habe ich oben schon hingewiesen.

    Meine Ausführungen beschränken sich in dieser Hinsicht also nicht nur auf die Arabische Welt oder die Türkei.

  3. Dein Artikel eröffnet neue Horizonte

    Lieber Max,

    dein Artikel stimmt einen sehr nachdenklich. Gerade als in der Diaspora lebender Muslim, sollte man sich nicht an den aktuellen Heimatbegriff der arabischen Welt orientieren sondern vielmehr an die islamische Definition.
    Das täte unserer Integrationsdebatte etwas Gutes.

  4. @abir

    Liebe Abir,

    Danke für Deinen Kommentar. Es freut mich, dass mein Artikel nachdenklich macht. Leider habe ich bei der Art und Weise, wie zur Zeit von manchen Personen die Integrationsdebatte geführt wird, das Gefühl, dass es an eben dieser Nachdenklichkeit fehlt.

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