Zombie-Riffe im Anthropozän?

von Reinhold Leinfelder

Korallenriffe sind bekanntermaßen ernsthaft bedroht – nach Meinung vieler Wissenschaftler könnten sie in wenigen Jahrzehnten komplett verschwunden sein. So sorgte vor kurzem ein Artikel von Roger Bradbury in der New York Times für große Aufregung und Diskussion. Heutige Korallenriffe seien nur noch „Zombie-Ökosysteme“, die weder tot noch wirklich lebendig in einem funktionalen Sinn seien. Das Riffsystem sei rettungslos verloren. Dies würden Korallenriffforscher häufig so nicht zugeben, sie würden einen beschönigenden Blick auf ihre Forschungsobjekte werfe. Danach seien Riffe zwar ernsthaft bedroht, es gäbe jedoch Hoffnung. Dieser  Blick ist nach Roger Bradbury falsch falsch.

Im Oktober wird in Berlin das dritte internationale Treffen junger Riffwissenschaftler unter dem Motto „Corals in a Changing World“ stattfinden. Beiträge zur Frage, ob Korallenriffe noch zu retten sind, stehen auf dem Programm. Nachfolgendes Statement soll die Diskussion für das Treffen stimulieren helfen:

Gesunde Korallenriffe besitzen zwar viele Redundanzmechanismen, so dass sich Riffe nach kurzzeitigen Störungen häufig rasch regenerieren können. Redundant angelegt sind etwa  Mechanismen, die das Überwuchern von Korallen durch Mikro- und Makroalgen verhindern.  So halten nicht nur herbivore Fische, sondern auch Seeigel oder Schnecken diese Algenrasen kurz. Solch notwendige Redundanzen gehen jedoch durch Überfischung, Umweltverschmutzung, Krankheiten etc. rasch verloren, was dann sehr wahrscheinlich zu plötzlichem Ökosystem-Kippen entlang irreversibler Kaskaden führt. Die exakte Vorhersage des Kippens gefährdeter Riffe ist jedoch ähnlich schwierig wie die Vorhersage konkreter Erdbeben in erdbebengefährdeten Regionen. Verstärkte Forschungsbemühungen zu Faktoren und Vorhersagbarkeit von Korallenriff-Kipppunkten sind dringend notwendig. Ein besseres Verständnis der erdgeschichtlichen Evolution der Riff-Ökosysteme kann dabei helfen, denn evolutionär ältere Riffsysteme scheinen geeignete Modelle für neue semistabile, „atavistische“ post-tipping-point-Ökosysteme darzustellen (e.g. Leinfelder & Nose 1999, Leinfelder et al. 2012).

 

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Abb. 1: Kipppunktverhalten in Korallenriffen nach Bellwood et al. (2004). Die Zeitpunkte des Kippens sind nicht exakt vorhersagbar

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Abb. 2: Little Reef, Reef Station C, NW vor Andros Island, Karibik, Kolumbien. Dokumentation durch Jörn Geister, Bern.
Für Gesamtabfolge über 30 Jahre siehe hier

Überraschenderweise scheinen nicht alle Korallenriffe das Kipppunktverhalten aufzuweisen. Einige Riffe könnten eine breiteres Anpassungpotenzial besitzen als bisher angenommen. So erscheinen einige Riffe vor Brasilien sowie in der Karibik offenbar “trainiert” und „abgehärtet, da sie seit tausenden von Jahren in Regionen mit häufigen natürlichen Störungen  wachsen. Sie könnten somit die Fähigkeit haben, sich schrittweise in Riffsysteme umzuwandeln, die auch an anthropogene Umweltveränderung besser angepasst sind (Seemann et al. 2012, Leinfelder et al. 2012)

Ein besseres Verständnis solcher möglicher Anpassungsstrategien, aber auch der Wechselwirkungen von Stressfaktoren sowie eventueller Verzögerungszeiten bei Erholungs- und Anpassungsprozessen ist eine Voraussetzung, um Korallenriffe erfolgreich für das Anthropozän managen zu können. Die wichtigsten Strategien zur Erhaltung der Korallenriffe und ihrer ökosystemaren Leistungen sind jedoch die rasche Absenkung des fossilen Kohlendioxid-Ausstoßes sowie die Einrichtung eines integrierten, zivilgesellschaftlich verankerten Riffschutz-Management. Letzeres muss auch den Schutz von bereits stärker geschädigten Riffen beinhalten (da diese besonders hohes evolutionär-adaptatives Anpassungsverhalten aufweisen können), aber auch mit Riffen systemisch verbundene Lebens- und Sedimentationsräume (wie Seegraswiesen, Mangroven und Flüsse) in Schutzmaßnahmen integrieren. Hinzukommen müssen ein langzeitorientiertes, Land-Meer übergreifendes Küsten- und Gewässermanagement sowie gemeinsame (lokale, nationale, multinationale und globale) Anstrengungen, um Überfischung, Überdüngung und andere Arten der Verschmutzung (darunter Verschmutzung durch toxische organische Verbindungen, Plastik und “Gewürz“-Metalle) stark zu reduzieren. Dies sind sehr anspruchsvolle Voraussetzungen, damit wir im Anthropozän nicht nur „Zombie-Riffe“ sehen werden.

Dieser Artikel basiert auf einem Keynote-Abstract für das 3rd Young Reef Scientists Meeting 2012 „Corals in a Changing World“, 4th-6th Oct. 2012, Institute of Geological Sciences, Freie Universität Berlin

Zitierte Literatur

Bellwood, D. R., Hughes, T. R., Folke, C. & Nyström, M. (2004): Confronting the coral reef crisis. Nature 429, 872-833.

Leinfelder, R.R. & Nose, M. (1999): Increasing complexity – decreasing flexibility. A different perspective of reef evolution through time.- Profil, 17, 135-147, Stuttgart

Leinfelder, R.R., Seemann, J., Heiss, G.A., & Struck, U. (2012): Could ‘Ecosystem Atavisms’ Help Reefs to Adapt to the Anthropocene?- Proceedings of the 12th International Coral Reef Symposium, Cairns, Australia, 9-13 July 2012 2B Coral reefs: is the past the key to the future? Online publication: http://www.icrs2012.com/proceedings/manuscripts/ICRS2012_2B_2.pdf

Seemann, J., Carballo-Bolaños, R., Berry, K.L., González, C.T., Richter, C. & Leinfelder, R.R. (2012): Importance of heterotrophic adaptations of corals to maintain energy reserves.- Proceedings of the 12th International Coral Reef Symposium, Cairns, Australia, 9-13 July 2012 19A Human impacts on coral reef. Online Publication: http://www.icrs2012.com/proceedings/manuscripts/ICRS2012_19A_4.pdf

Bradbury, Roger: A World Without Coral Reefs.- New York Times, The Opinion Pages, 13. July 2012,
http://www.nytimes.com/2012/07/14/opinion/a-world-without-coral-reefs.html

Hinweis: die Diskussion zu Zombie Riffen wurde von Andrew Revkin, ebenfalls NYT fortgesetzt:

Reefs in the Anthropocene – Zombie Ecology?- Dot Earth, The New York Times The Opinion Pages 14 July 2012,
http://dotearth.blogs.nytimes.com/2012/07/14/reefs-in-the-anthropocene-zombie-ecology/

Eine Dokumentation des Kippens eines Korallenriffs über einen Zeitraum von 30 Jahren finden Sie unter
http://www.palaeo.de/tv/moviesriffe/reef_c_anim_ns.mov

 

Reinhold Leinfelder ist Geologe, Geobiologe und Paläontologe. Er ist Professor an der Freien Universität zu Berlin (Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung) sowie (seit Okt 2018) zusätzlich Senior Lecturer am Institut Futur der FU. Seit April 2022 ist er formal im Ruhestand. Seit 2012 ist er Mitglied der Anthropocene Working Group der International Stratigraphic Commission. Von 2006-2010 war er Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin, von 2008-2013 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), von 2011-2014 Research Fellow und affiliate Carson Professor am Rachel Carson Center an der LMU, München, von 2012-2018 Principal Investigator am Exzellenzcluster "Bild-Wissen-Gestaltung" der Humboldt-Universität zu Berlin, von 1. Sept. 2014 bis 15. Sept. 2016 Gründungsdirektor der Futurium gGmbH in Berlin. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen beim Anthropozän, Korallenriffen, neuen Methoden und Herausforderungen des Wissenstransfers und Museologie | Homepage des Autors | blog in english, via google translate

2 Kommentare

  1. Kippunkte

    Es ist eben ein Irrtum, dass es vorab erkennbare Kippunkte oder Tipping Points in hoch komplexen oder “chaotischen” Systemen gibt.

    Festhalten tut man sich hier an minderkomplexen Konstrukten wie bspw. der überlaufenden Badewanne, aber in der Natur mit ihrer hohen Anzahl an Wirkfaktoren ist ein wie hier gemeinter Punkt nicht ex ante feststellbar – und ist er es ex post, bleibt die Feststellung meist unsicher.

    ‘Das Leben wird einen Weg finden.’, sagte mal ein kluger Mensch (oder Schauspieler).

    MFG
    Dr. Webbaer (der noch alles Gute beim WBGU-Gewürge wünscht)

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