Wir sind in eine neue Epoche eingetreten

Mein Interview mit der ZEIT ist nun auch bei Spektrum.de erschienen, hier ein paar Ausschnitte:

Ein neues erdgeschichtliches Zeitalter hat begonnen: das Anthropozän. Der Begriff soll unser Denken verändern. Ein Gespräch mit dem Geologen Reinhold Leinfelder von der Freien Universität Berlin.

Das Interview führte Ulrich Schnabel
Sie sind einer der Initiatoren des Anthropozän-Projektes, das letzte Woche in Berlin startete. Worum geht es?

Reinhold Leinfelder: Der Begriff Anthropozän – Menschenzeit – soll zum Ausdruck bringen, dass wir die erdgeschichtlich relativ stabile Epoche des Holozäns hinter uns gelassen haben und etwa seit dem Jahr 1800 in eine neue Epoche eingetreten sind, in der der Mensch zum dominierenden geologischen Faktor geworden ist. Das kann man an vielen Punkten festmachen: Mehr als 90 Prozent allen Pflanzenwachstums findet in Systemen statt, die der Mensch beeinflusst, 90 Prozent der Biomasse aller lebenden Säugetiere werden vom Menschen und seinen Haustieren gestellt, und mehr als drei Viertel der eisfreien Landoberfläche sind nicht mehr im ursprünglichen Zustand.

Fördert die Sichtweise vom Anthropozän nicht eine neue Hybris? Es ist ja kein Zufall, dass der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen, der als einer der Erster den Begriff Anthropozän wieder aufbrachte, auch das so genannte Geoengineering nicht ausschloss – etwa den Vorschlag, mit Aerosolen künstlich die Sonneneinstrahlung zu bremsen und so den Klimawandel aufzuhalten. Dabei können wir die Folgen solcher großtechnologischer Eingriffe derzeit weder übersehen noch vollständig beherrschen.

Diese Gefahr sehe ich auch. Hinter solchen Ideen steckt oft der Glaube an monokausale Klempnerlösungen, also die Vorstellung, man könne Probleme dadurch abstellen, dass man an einer einzigen Stellschraube dreht. Davon müssen wir wegkommen. Das ist zwar oft gut gemeint, doch solche technokratischen Lösungen sind systemisch meist nicht durchgedacht. Das war auch bei den Agrarkraftstoffen zu beobachten, dem Benzin aus Pflanzen: Die ganzen Nebenwirkungen – steigende Lebensmittelpreise, Transport- und Effizienzverluste, fatale Auswirkungen auf die Landwirtschaft et cetera – wurden nicht bedacht. Was wir brauchen, ist so etwas wie ein gärtnerisches Gestalten, das ein Verständnis für die Komplexität des Gesamtsystems entwickelt.

Sind wir dazu klug genug? Werden wir diese Komplexität je überblicken?

… Um ein solches Gesamtverständnis zu erreichen, brauchen wir sicher noch eine sehr viel bessere Verschränkung von Natur- und Geisteswissenschaften; dasselbe gilt aber auch für Technik und Gesellschaft. Die Wissenschaft kann nicht allein die Antwort geben. Wir brauchen mehr Partizipation auf allen Ebenen. …

Wird der Nachwuchs dafür richtig ausgebildet?

Wir brauchen sicher mehr Karrierewege, die von vornherein die systemische Perspektive eröffnen. Das fängt schon in den Schulen an: Dort wird ja auch meist noch sektoral gedacht – Physik, Chemie, Biologie – und nicht themenbezogen. Um das zu ändern, braucht es entsprechend ausgebildete Leute und Anreizsysteme in den Hochschulen. Das dauert. Aber da bewegt sich schon etwas.

(> zum ganzen Interview)

Reinhold Leinfelder ist Geologe, Geobiologe und Paläontologe. Er ist Professor an der Freien Universität zu Berlin (Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung) sowie (seit Okt 2018) zusätzlich Senior Lecturer am Institut Futur der FU. Seit April 2022 ist er formal im Ruhestand. Seit 2012 ist er Mitglied der Anthropocene Working Group der International Stratigraphic Commission. Von 2006-2010 war er Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin, von 2008-2013 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), von 2011-2014 Research Fellow und affiliate Carson Professor am Rachel Carson Center an der LMU, München, von 2012-2018 Principal Investigator am Exzellenzcluster "Bild-Wissen-Gestaltung" der Humboldt-Universität zu Berlin, von 1. Sept. 2014 bis 15. Sept. 2016 Gründungsdirektor der Futurium gGmbH in Berlin. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen beim Anthropozän, Korallenriffen, neuen Methoden und Herausforderungen des Wissenstransfers und Museologie | Homepage des Autors | blog in english, via google translate

6 Kommentare

  1. einzige Stellschraube

    “Hinter solchen Ideen steckt oft der Glaube an monokausale Klempnerlösungen, also die Vorstellung, man könne Probleme dadurch abstellen, dass man an einer einzigen Stellschraube dreht.”

    Die URSACHE aller WIRKSAMEN Probleme / Symptomatiken unseres nun “anthropozänen Zusammenlebens” wie ein albernes Krebsgeschwür, ist der nun “freiheitliche” Wettbewerb um …, wo der Glaube an “gesundes” Konkurrenzdenken die Menschen mit Bildung zu Suppenkaspermentalität auf systemrationaler Sündenbocksuche im SCHEINBAR unabänderlichen System von “Wer soll das bezahlen?” und “Arbeit macht frei” hält – der Zeitgeist, im stets reformistischen Stillstand, des mit geistig-heilendem Selbst- und Massenbewußtsein zu entwickelnden “Individualbewußtseins”, seit der “Vertreibung aus dem Paradies” (unser erster und bisher einzige GEISTIGE Evolutionssprung).

    Wenn GRUNDSÄTZLICH alles allen gehören würde, so daß wir OHNE Steuern, OHNE “Sozial”-Versicherungen, OHNE manipulativ-schwankende “Werte”, OHNE Zeit-/Leistungsdruck zu / in einer Karriere von Kindesbeinen, usw., wirklich-wahrhaftig leben und gestalten würden, könnte PRINZIPIELL alles zweifelsfrei-menschenwürdig und eindeutig-gerecht organisiert werden!

    “Sind wir dazu klug genug?
    Werden wir diese Komplexität je überblicken?
    Wird der Nachwuchs dafür richtig ausgebildet?”

    Wo INTELLIGENZ nur für die KONFUSION in systemrationaler Überproduktion von KOMMUNIKATIONSMÜLL FUNKTIONAL ausgebildet wird, also Bewußtseinsentwicklung im Wettbewerb von Ausbeutung und Unterdrückung zum “Treuhändertum” von expertisen FACHIDIOTEN verkümmert, da kann man nur auf ein Wunder, oder auf eine alles verändernde Mutation hoffen!?

  2. Anthropozän

    Anthropozän … als ob nicht schon lange Anthropozän gewesen wäre.

    “Anthropos metron hapanton”

    Protagoras. Ich würd’ das Anthropozän also früher ansetzen. Intellektuell. Nicht geologisch.

  3. Technokratie

    (…) die Vorstellung, man könne Probleme dadurch abstellen, dass man an einer einzigen Stellschraube dreht. Davon müssen wir wegkommen. Das ist zwar oft gut gemeint, doch solche technokratischen Lösungen sind systemisch meist nicht durchgedacht.

    …scheint nicht gegeben, wenn darüber nachgedacht und geplant wird die Erde über Installationen in der geostationären Bahn ein wenig abzuschatten.

    Hätte man doch so einen singulären Punkt des Zugriffs und könnte umfangreiche, bürokratische und technokratische Ansätze umgehen.

    In Wirtschaft und Politik versucht man regelmäßig derartige Workarounds um Probleme zu packen zu bekommmen. Die terrestrische Verwaltung einer bestimmten klimastabilisierenden Industrialisierung dürfte eine weit größere Herausforderung sein, die wegen fehlenden politischen Mandats auch im Umsetzungserfolg fraglich wäre. – Wie man ja auch aus den aktuellen politischen/klimatologistischen Entwicklungen ablesen kann.

    MFG
    Dr. W

  4. Fruchtbarer Gedanke?

    Gibt es eigentlich irgendeinen, die bisherige Sichtweise der Welt überbietenden oder irritierenden (nicht bekannten) Gedanken, der sich mit dem sagenhaften Begriff des Anthropozäns verbindet? Und wenn ja, welchen?

  5. @Geoman

    “Gibt es eigentlich irgendeinen, …”

    Ja, unter anderem die Gedanken die zu dem Wort TITITAINMENT (neues Wort für Brot & Spiele) geführt haben – das “denken” wird dem Zeitgeist entsprechend angepaßt und alles bleibt im Grunde wie gehabt.

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