Das Anthropozän beginnt doch erst ab 1950? Der Vorschlag der Anthropocene Working Group

von Reinhold Leinfelder

Das Anthropozän-Konzept ist zwischenzeitlich zwar vielleicht nicht in aller Munde, aber doch in vielen natur-, sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Communities weit verbreitet, die Medien berichten nach wie vor recht ausführlich, Kultur- und Kunstaktivitäten finden (z.B. am Haus der Kulturen der Welt in Berlin) statt und noch dieses Jahr beginnt die bislang vielleicht größte wissenschaftsbasierte Ausstellung zum Anthropozän am Deutschen Museum in München. Der Verfasser freut sich, als Initiator, Ideengeber und „Coproduzent“ an diesen Aktivitäten beteiligt zu sein und als Sprecher des interdisziplinären Cluster-Projekts „Die Anthropozän-Küche. Das Labor der Verknüpfung von Haus und  Welt“ sowie in seiner Arbeitsgruppe „Anthropozänforschung“ spannende interdisziplinäre Fragen anpacken zu dürfen und auch seine Lehrveranstaltungen immer stärker in Richtung Anthropozän-Aspekt ausrichten zu können.  So weit, so gut.

Allerdings ist noch längst nicht klar, ob das Anthropozän auch ganz formal als neue erdgeschichtliche Epoche akzeptiert wird. Zuständig dafür ist sozusagen die Bürokratie der erdgeschichtlichen Wissenschaften, die „International Commission on Stratigraphy” (als  größter und ältester „scientific body“ der International Union of Geological Sciences, IUGS). Für alle Aspekte, welche die Unterteilung der Erdgeschichte in einzelne Zeitabschnitte angeht, müssen hier die „offiziellen“ Diskussionen geführt und die formalen Beschlüsse gefasst werden. Die ICS ist also vielleicht so etwas wie die UN der Geowissenschaften. Es gibt sehr viele Subkommissionen (mehrere für das Präkambrium, jeweils eine für die weiteren erdgeschichtlichen Perioden, wie Trias, Jura oder Kreidezeit). Natürlich gibt es auch eine Subkommission für Quartärstratitgraphie. Wann immer neue Untereinheiten etabliert, ältere Untereinheiten zusammengefasst oder auch Perioden- oder Untereinheitsgrenzen anders definiert werden sollen, werden die Subkommissionen aktiv. Oft dauert es viele Jahre, bis alle Vorschläge und Gegenargumente gesichtet, ausdiskutiert und abgewogen sind und dann ein formaler Beschluss gefasst wird.

Für die Prüfung des Vorschlags, eine Anthropozän-Zeit einzurichten,  ist die Subcommission on Quaternary Stratitgraphy (SQS) zuständig, denn vorschlagsweise soll das Anthropozän eine Untereinheit des Quartärs, eine formale Epoche werden. Innerhalb der SQS gibt es verschiedene Working Groups, etwa zur Neudefinition der Unterteilung des Pleistozäns, aber eben auch eine Anthropocene Working Group. Diese ist zwar von Geowissenschaftlern dominiert (- der Autor gehört auch zu dieser AWG-Gruppe – ), aber erstmalig sind auch sehr viele andere Wissenschaftszweige darin vertreten, darunter Soziologen, Historiker, Umweltjuristen, Biologen und viele mehr. Der Paläobiologe und Geologe Jan Zalasiewics leitet unsere Gruppe. Wir sollen nun also in den nächsten beiden Jahren einen ausdiskutierten und von der Gruppe möglichst komplett getragenen Vorschlag zur Positionierung des Beginns des Anthropozäns machen, der auch geowissenschaftlichen Ansprüchen genügt, d.h. nach Möglichkeit geologisch relativ einfach erkannt werden kann. Es geht also auch um die geologische Überlieferungsfähigkeit des Anthropozäns.

Der Originalvorschlag der Gruppe um Nobelpreisträger Paul Crutzen war, das Anthropozän im Jahr 1800 beginnen zu lassen, da hier die Industrialisierung (etwa mit der Optimierung der Dampfmaschine von James Watt kurz vor der Jahrhundertwende) so richtig durchstartete. Andere Vorschläge wollen das Anthropozän bereits mit dem Neolithikum beginnen lassen, wieder andere gar noch früher, etwa mit dem Aussterben vieler Großsäugetiere im späten Pleistozän. Es geht immer darum, ob der Mensch hier bereits als geologischer (nicht nur biologischer) Faktor so aktiv war, dass dies global spürbar war (als Erdsystemfaktor), ob dies auch zeitlich eindeutig in einem kurzen Zeitraum einsetzt (Golden Spike-Prinzip) und ob dann diese Grenze, aber auch das darüberliegende Anthropozän als spezielles Sedimentpaket gut auch unter geologischen Gesichtspunkten erkennbar ist.

Die große Beschleunigung (aus Steffen et al. 2011, verändert). a) anthropogen bedingte Veränderungen in den Natursphären. Beachte die Beschleunigungsraten, diese sind häufig ab 1950 besonders ausgeprägt
Die große Beschleunigung (aus Steffen et al. 2011, verändert). a) anthropogen bedingte Veränderungen in den Natursphären. Beachte die Beschleunigungsraten, diese sind häufig ab 1950 besonders ausgeprägt
Die große Beschleunigung (aus Steffen et al. 2011, verändert). b) gesellschaftlich-technische Veränderungen. Der Peak ist um 1950 besonders stark ausgeprägt.
Die große Beschleunigung (aus Steffen et al. 2011, verändert). b) gesellschaftlich-technische Veränderungen. Der Peak ist um 1950 besonders stark ausgeprägt.

Wir haben uns nach kräftiger Diskussion in der Arbeitsgruppe nun entschlossen, einen anderen Vorschlag zu machen, nämlich das Anthropozän erst im Jahre 1950 beginnen zu lassen. Die entsprechende Publikation dazu ist im Druck und soll demnächst in der Fachzeitschrift Journal of Quaternary Geology erscheinen (Zalasiewicz et al. 2014). Am 4. Mai 2014 berichtete „The Independant“ dazu.  Nachfolgend das wesentliche daraus in übersetzter Form:

„…  1950 könnte … das Jahr gewesen sein, in dem menschliche Aktivitäten begannen, einen unauslöschlichen Abdruck auf die Geologie des Planeten Erde zu hinterlassen , also eine sichtbare Verschiebung im Gleichgewicht zwischen Natur- und Menschenkraft einzuleiten. Wissenschaftler wollen nun förmlich vorschlagen, 1950 als Beginn einer neuen geologischen Epoche genannt Anthropozän – einer vom Menschen dominierten Zeit zu definieren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen dramatischen Anstieg nicht nur der menschlichen Bevölkerung , sondern auch neuer Technologien und Industriezweige, aber auch der Umweltverschmutzung und des Abfalls. Diese Zeit nennen Wissenschaftler die “große Beschleunigung”. Wälder wurden abgeholzt , Meere ausgeraubt , zahllose Arten an den Rand der Ausrottung getrieben und vieles mehr.
Solche Veränderungen sind bereits sichtbar in den Sedimenten, welche die Gesteine und Fossilien der Zukunft bilden werden. Einige Experten argumentieren, dieser Umschwung sei genauso wichtig wie Grenzen zwischen früheren erdgeschichtlichen Perioden, etwa zwischen Jura-und Trias-Zeit. Sie glauben, es sei an der Zeit, das Ende des 11.000 -jährigen Holozän auszurufen.

Dr. Jan Zalasiewicz , Vorsitzender des Anthropozän Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS), sagte: ” Die Beweislage dafür, dass die Menschen die Erde sehr erheblich und auf neuartige Weise verändert haben, ist ziemlich gut. Wir entwickeln uns kulturell um ein vielfaches schneller als es die biologische Evolution könnte. Dies treibt den Erdsystemwechsel an … wo die Reise hingehen wird, kann man nur vermuten …. Wir müssen klug genug werden, um die Änderungen, die wir erzeugen, auch zu managen.”
Bei einem europäischen Treffen der Geosciences Union in der letzten Woche in Wien offenbarte Dr. Zalasiewicz , dass die Arbeitsgruppe nun eher in Richtung 1950 als Startdatum für das Anthropozän denkt , im Gegensatz zu alternativen Vorschläge wie die „Geburt der Dampfalters“ im späten 18. Jahrhundert oder die Erfindung der Landwirtschaft vor Tausenden von Jahren .

Ein globaler Marker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Radioaktivität aus Freiland-Atombombentests. Doch die vielleicht tiefgreifendste Veränderung war der Anstieg der Treibhausgas-Emissionen , welche die globale Durchschnittstemperatur hochtreiben . Die Umweltverschmutzung hat unsere Luft in eine giftige Suppe verwandelt , welche ein Achtel aller Todesfälle auf der Erde verursacht.

Da die Ozeane mehr Kohlendioxid absorbierten , werden sie immer saurer und gefährden Korallenriffe und Muscheln. Die Menge an Kunststoff, die in den Ozeanen landet, ist ebenfalls in einem alarmierenden Tempo gewachsen. Der Great Pacific Garbage Patch – in denen sich Müll durch Strömungen sammelt – hat schätzungsweise die doppelten Größe der kontinentalen USA.

An Land bewegen wir etwa 10-mal so viel Gestein und Erde als dies natürliche Phänomene wie Plattentektonik , Vulkanausbrüche oder Erdrutsche vermögen. Die Menschen stellen etwa ein Drittel der gesamten Körpermasse aller großen Tiere, und ihre Haus- und Zuchttiere machen fast den ganzen Rest aus. Wilde Tiere sind nur mit etwa 3 bis 5 Prozent an der Gesamtbiomasse aller (größeren) Tiere beteiligt.
…
Dr. Zalasiewicz  von der Universität Leicester sagte, es werde immer noch darüber diskutiert, ob die Veränderungen so tiefgreifend seinen, dass sie tatsächlich eine neue Epoche repräsentieren. “Es muss eine klare Trennlinie geben … ein Geologe im Feld oder im Labor sollte seine Finger darauf legen und sagen können: “Hier ist sie“, sagte er.

Für einige in der Arbeitsgruppe ist es zu früh für einen Wechsel. Professor Philip Gibbard , Cambridge University, meinte , er wolle zwar nicht die Auswirkungen der Menschheit herunterspielen , dennoch widersprach er “sehr stark” , dass der Mensch eine ” getrennte Zeitperiode ” geschaffen hätte.“ (Ende des Zitats).

Vielleicht kann man den Diskussionsstand folgendermaßen zusammenfassen: Die Menschheit begann schon vor tausenden von Jahren einen zunehmenden, aber in der Regel regionalen und stark diachronen Einfluss auf das Erdsystem auszuüben. Mit dem Beginn der industriellen Revolution hatte die Menschheit alle technischen Voraussetzungen, um zu einem starken geologischen Faktor zu werden. Ohne die industrielle Revolution wäre es also nicht zu einem Anthropozän gekommen. Es dauerte allerdings noch bis in die Mitte 20. Jahrhunderts, bis sich die Auswirkungen dermaßen weltweit beschleunigten, dass der geologische Abdruck des Anthropozäns global und nahezu synchron sichtbar wird. Oder kurz gefasst: 1800 wird der Weg ins Anthropozän eröffnet, 1945/1950 ist er erreicht worden. Die Zeit ab 1800, vielleicht auch schon die Zeit ab der Neolithischen Revolution bleibt also für das Verständnis des Anthropozäns essenziell und sollte –  ggf. als „Prä-Anthropozäne Übergangszeit“ – weiterhin Forscher aus allen Bereichen, darunter Umwelthistoriker, Anthropologen, Kultur- und Kunsthistoriker, Juristen, Soziologen, Literaturwissenschaftler und viele andere zur Untersuchung anziehen. Ab 1950 sind allerdings dann integrative Erdsystemwissenschaften ohne menschlichen Faktor nicht mehr möglich, denn Natursphären und Soziosphären sind spätestens dann definitiv zu einem Großsystem verschmolzen.

Die Frage, die bleibt wäre also nun: ist das Anthropozän vielleicht nur ein – geologisch betrachtet, kurzzeitiger – Event, eine globale Aussterbephase, verbunden ggf. mit einem Verschwinden aller heutigen gesellschaftlichen Strukturen und Infrastrukturen, oder schaffen wir es vielleicht doch, das Anthropozän wissensbasiert, systemisch reflektiert und unter dem Verantwortungs- und Vorsorgegedanken so zu gestalten, dass es tatsächlich zu einer langanhaltenden erdgeschichtlichen Epoche wird?

Zitiert: W. Steffen, J. Grinevald, P. Crutzen, und J. McNeill, „The Anthropocene: conceptual and historical perspectives“, Philosophical Transactions of the Royal Society A: Mathematical, Physical and Engineering Sciences, Bd. 369, Nr. 1938, S. 842 –867, März 2011.

Zalasiewicz, J., Waters, C.N., Williams, M., Barnosky, A.D., Cearreta, A., Crutzen, P., Ellis, E., Fairchild, I.J., Grinevald, J., Leinfelder, R., McNeill, J., Poirier, C., Richter, D., Steffen, W., Vidas, D., Wagreich, M. & Zhisheng, A. 2014c forthcoming. When did the Anthropocene begin? A mid-twentieth century boundary level is stratigraphically optimal (submitted to Quaternary International).

Reinhold Leinfelder ist Geologe, Geobiologe und Paläontologe. Er ist Professor an der Freien Universität zu Berlin (Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung) sowie (seit Okt 2018) zusätzlich Senior Lecturer am Institut Futur der FU. Seit April 2022 ist er formal im Ruhestand. Seit 2012 ist er Mitglied der Anthropocene Working Group der International Stratigraphic Commission. Von 2006-2010 war er Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin, von 2008-2013 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), von 2011-2014 Research Fellow und affiliate Carson Professor am Rachel Carson Center an der LMU, München, von 2012-2018 Principal Investigator am Exzellenzcluster "Bild-Wissen-Gestaltung" der Humboldt-Universität zu Berlin, von 1. Sept. 2014 bis 15. Sept. 2016 Gründungsdirektor der Futurium gGmbH in Berlin. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen beim Anthropozän, Korallenriffen, neuen Methoden und Herausforderungen des Wissenstransfers und Museologie | Homepage des Autors | blog in english, via google translate

8 Kommentare

  1. Die Frage, die bleibt wäre also nun: ist das Anthropozän vielleicht nur ein – geologisch betrachtet, kurzzeitiger – Event, eine globale Aussterbephase, verbunden ggf. mit einem Verschwinden aller heutigen gesellschaftlichen Strukturen und Infrastrukturen, oder schaffen wir es vielleicht doch, das Anthropozän wissensbasiert, systemisch reflektiert und unter dem Verantwortungs- und Vorsorgegedanken so zu gestalten, dass es tatsächlich zu einer langanhaltenden erdgeschichtlichen Epoche wird?

    Der gemeinte hochentwickelte Primat persistiert halt; wie dies genau einzuordnen ist, ist eine spannende Frage.
    Stanley Kubrick hat hier in einem besonderen Film keinen besonderen Humor gezeigt, Terry Pratchett in etlichen Abhandlungen oder Büchern schon etwas mehr; insgesamt ist diese Problematik schwierig zu bearbeiten, vielleicht wissen Sie mehr.

    MFG
    Dr. W (der sich zuvörderst über ‘Aussterbe-Phasen’ [1] amüsiert, nichts aber gegen Begrifflichkeiten wie den ‘Anthropozän’ hat)

    [1] was immer die auch genau meinen, der Schreiber dieser Zeilen war dabei, als es drei Milliarden Menschen gab und wird womöglich noch dabei sein, wenn es zehn Milliarden Menschen geben wird – die Sache mit dem Mondflug, der ebenfalls beobachtet worden ist, war natürlich ein Reinfall, weil nichts mehr folgte (Bitternis soll hier aber nicht ausgedrückt werden) – ‘Aussterbephasen’ sind vielleicht doch eher etwas für die Anderen

    • zur Ihrer Fußnote: Ich verstehe nun nicht was am Begriff “Aussterbe-Phasen” “amüsant” sein sollte. In der Erdgeschichte gab es u.a. die “Big Five” und etliche weitere, Faktum. Das beschleunigte Aussterben vieler Arten wird ja wohl nicht durch die Bevölkerungsexplosion nur einer Art, und sei es auch der eigenen “wettgemacht”, oder wollten Sie das damit aussagen? Ich habe auch nie behauptet, dass die Art Homo sapiens vom Aussterben bedroht sei, sondern es geht bei einem evtl. Business-As-Usual um das Nicht-Aufrechterhaltenkönnen bzw. den raschen möglichen Kollaps unserer derzeitigen Gesellschaftssysteme, oder noch offener formuliert: es geht auch um die Erforschung der Lern-, Vermeidungs-, Anpassungs- und Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaften, was allerdings nur im systemischen Kontext gelingen kann. Siehe hierzu auch meine Erwiderung von 18:41 Uhr zu nachfolgendem Kommentar von Martin Holzherr. Das Anthropozän-Konzept will weit mehr als nur die Erfassung des derzeitigen Zustandes der Erde.

  2. Geomarker werden im zitierten Anthropozän-Artikel kaum erwähnt, negative Auswirkungen des Menschen auf die Umwelt jedoch zuhauf.
    Wenn das Anthropozän implizit mit Fragen wie “ist das Anthropozän vielleicht nur ein – geologisch betrachtet, kurzzeitiger – Event, eine globale Aussterbephase, verbunden ggf. mit einem Verschwinden aller heutigen gesellschaftlichen Strukturen und Infrastrukturen” assoziiert wird, dann stehen die Aussichten darauf, dass das Anthropozän von einer Stratigraphie-Gruppe als neues Zeitalter akzeptiert wird, wahrscheinlich schlecht. Gerade wenn man an das Anthropzän als globale Aussterbephase glaubt, muss man sich fragen, wer diesen neuen Begriff denn überhaupt brauchen wird. Oder wird der letzte Mensch noch in die giftige Atmosphäre als letzte Mitteilung “Adieu Anthropozän” hauchen. Mit andern Worten: Ist der neue Begriff Anthropozän zukunftstauglich? Vorschlag: Man soll doch den definitiven Entscheid ob es ein Anthropozän als geologische Epoche braucht, auf das Jahr 2114 vertagen.

    • Wenn man das Anthropozän-Konzept nur als Beschreibung allen Umweltfrevels dieser Welt betrachten würde, bräuchte man es tatsächlich nicht. Tatsächlich ist die Beschreibung des Status Quo (sowie die daraus abgeleitete Diskussion, wo man die Untergrenze legen kann) nur ein kleiner Teil des Konzepts. Es geht um die Auflösung des oft hinderlichen Dualismuses Natur und Mensch (incl. Kultur, Technik etc) und daraus der Ableitung eines systemischen Verständnisses der Mensch-Umwelt-Beziehungen, was ermöglichen soll, mit der Erde eben entsprechend wissensbasiert und gärtnerisch umzugehen. Wegen der langen Lag-Zeiten bzw. ggf. Unumkehrbarkeiten von einmal eingeleiteten Prozessen muss diese neue Sicht auf die Welt allerdings jetzt generiert werden. Bis 2114 zu warten wäre mehr als fahrlässig. Aber wer auch die anderen Beiträge in diesem Weblog liest, sollte wirklich bereits bemerkt haben, dass es genau darum geht, z.B. im Beitrag vom 21.3.”

      Falsch angewandt könnte das Anthropozän-Konzept missverstanden und damit kontraproduktiv werden. Zwar geht es maßgeblich auch um eine Bestandsaufnahme und ein Monitoring des menschlichen Einflusses auf das Erdsystem, dennoch meint das Konzept nicht die Auflistung aller Übel, die der Mensch mit der Natur angestellt hat. …. Tatsächlich erfordert der Anthropozän-Gedanke insbesondere inter- und transdisziplinäre Forschung. Es geht dabei auch um das Durchdringen aller möglichen Auswirkungen unseres derzeitigen und zukünftigen Handelns. … Um im Anthropozan die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist es wichtig, dass die Menschen Gelegenheit bekommen, über ihr Verhältnis zur Technik, Natur und Kultur nachzudenken. Dazu benötigen wir sowohl ein Verständnis von Naturwissenschaft und Technik, Geschichte und Gesellschaft als auch die Fähigkeit zum kritischen Hinterfragen wissenschaftlicher Daten und Positionen. Um auf die Frage, was wir wollen, eine Antwort zu finden, müssen Szenarien und alternative Visionen entwickelt werden, die reflektiert und ausprobiert werden müssen. Hier mündet Forschung für das Anthropozän in Bildung für das Anthropozän, eine Herausforderung, die ebenfalls fachübergreifend angegangen werden muss.

      • Wenn man das Anthropozän-Konzept nur als Beschreibung allen Umweltfrevels dieser Welt betrachten würde, bräuchte man es tatsächlich nicht.
        (…)
        Es geht um die Auflösung des oft hinderlichen Dualismus[] Natur und Mensch (incl. Kultur, Technik etc) und daraus der Ableitung eines systemischen Verständnisses der Mensch-Umwelt-Beziehungen, was ermöglichen soll, mit der Erde eben entsprechend wissensbasiert und gärtnerisch umzugehen.

        Geochronologisch klingt dies vielleicht (noch) ein wenig vollmundig, aber das ‘Konzept’ des Anthropozän wäre auch dann sinnvoll, wenn es keine Klimaerwärmung geben würde.
        Zu einem Single Point of Access wird es wohl nicht kommen, aber vielleicht werden andere Mechanismen gefunden, die nationale und kulturelle Interessen irgendwie anzugleichen wissen oder sinnhaft zu “vektorisieren”.
        Spannendes Thema, viel Erfolg weiterhin,
        MFG
        Dr. W

  3. Wenn man die beiden stratigraphischen Systeme Teritär und Quartär als die beiden neuzeitlichen Eiszeitalter auffasst, wobei das Tertiär für die Vergletscherung allein des Südpols, das Quartär für die Vergletscherung beider Pole steht, dann könnte man das Anthropozän als die kurze Phase auffassen, in der die Eiszeit für einige hundert Jahre infolge menschlicher Einflüsse verlassen wurde. Das könnte sich in der Serie Holozän (gleich wie heute) und der Stufe Anthropzän niederschlagen. Das wäre eine sinnvolle provisorische stratigraphische Einordnung unserer Jetztzeit, die sowohl Bestand haben könnte, wenn der menschliche Einfluss auf die Geologie wieder schwindet, als auch wenn sie zunimmt. Wir wären immer noch in der Serie Holozän, weil wir trotz allem in einer Warmphase eines weiterbestehenden Eiszeitalters leben und doch auf einer eigenen Stufe, weil im Anthropozän ein weltweites Schmelzen aller Eismassen inklusive Arktis und Antarktis einsetzte. Da Kohle, Öl und Erdgas jedoch in den nächsten hundert Jahren völlig verbraucht sind oder man diese Kohlenwasserstoffe vorzeitig verlässt, wird das Anthropozän nur einen kurzen Einschnitt innerhalb des Eiszeitalters bedeuten. In 1000 Jahren könnte das Anthropozän durchaus auch aus stratigraphischer Sicht schon enden. Ob es in 1000 Jahren noch Menschen im heutigen Sinne gibt ist ohnehin ungewiss. Vielleicht werden intelligentere und weisere kybernetische Systeme die Verwaltung des Erdsystems übernehmen. Und diese könnten darauf verzichten, die Erde vollkommen umzugestalten, da sie Gescheiteres vorhaben. Deshalb sollte man das Anthropozän so einordnen, dass es unabhängig von der langfristigen geologischen Entwicklung Sinn macht. Das Anthropozän als kurzfristige Unterbrechung der Warmzeit einer Eiszeit mit einem Ausflug in vor-/nach-eiszeitliche Zeiten wäre zukunftssicher.

  4. Spannend, vielen Dank!

    Ich finde den Vorschlag überzeugend, mindestens bedenkenswert. Das Anthropozän hatte Vorläufer und wird ab 1950 startigraphisch fassbar – stark!

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