Von Glasaugen, Echthaarperücken und dem samtigen Glanz der Epidermis

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Es gibt etwas zu sehen
Denkmale

Bis zum 1. März 2015 lohnt ein Besuch im Frankfurter Liebieghaus noch mehr als sonst. Es ist aber durchaus möglich, dass man die aktuelle Ausstellung der Skulpturensammlung ungewohnt verstört verlässt.

Das liegt nicht nur an ausgesprochen drastischen Darstellungen wie den Wunden Christi oder dem detailverliebten Blick auf die Schnittfläche des abgeschlagenen Hauptes von Johannes dem Täufer („Johannesschüssel“). Fast mehr noch ist man nämlich beeindruckt von der Wirkung, die die lebensechte Darstellung von Figuren schlechthin auf den Betrachter hat.

Illusionismus schon in der Antike

Mit einem Bogen von sumerischen Beterfiguren bis zur heutigen hyperrealistische Plastik zeigt die Ausstellung, dass der Illusionismus seit Jahrtausenden eine Konstante künstlerischer Arbeit war, auch wenn es immer wieder mehr oder minder starke Tendenzen zur Abstraktion gab, etwa während der bilderskeptischen Zeit des Mittelalters.

John de Andrea, Ariel II, Bronze
Auch das ist eine Bronzeskulptur! “Ariel II” aus dem Jahr 2011 besteht aus gegossenen und dann verschweißten Bronze-Teilstücken, die der Künstler John de Andrea dann mit Ölfarbe detailgetreu bemalte. Eine abschließende Acrylharzschicht unterstreicht den lebendigen Glanz der Haut. – Credit: Liebieghaus Skulpturensammlung © Courtesy, Louis K. Meisel Gallery

 

Unter anderem eingesetzte Glasaugen und die Nachahmung des Glanzes der Hautoberfläche dienten und dienen dabei unterschiedlichen Zielsetzungen. War es in religiösen Zusammenhängen vor allem die Emotionalisierung des Betrachters, auf den es die Künstler abgesehen hatten, so kam später die der herrscherlichen Repräsentation und seit der Aufklärung auch die Aufgabe der Dokumentation dazu.

Den eher nüchternen Titel „Die Grosse Illusion – Veristische Skulpturen und ihre Techniken“ finde ich angesichts der spektakulären Exponate sympathisch. Er entspricht dem Charakter der sorgfältig kuratierten Ausstellung, die mit aufwendigen und im Katalog ausführlich dokumentierten Rekonstruktionsversuchen unter anderem der ursprünglichen, meist lebhaften Farbigkeit alter Plastik auf der Spur ist.

Ungeahnte Polychromie

Dass antike Plastik farbig war, „weiß man“. Aber das klassische Weiß der Marmorfiguren – und mehr noch vielleicht die scheinbar auf das Wesentliche der Körperdarstellung reduzierte, durch das Material bestimmte Oberfläche der Bronzestatuen – entspricht so sehr unseren Sehgewohnheiten, dass wir uns ihr ehemaliges buntes Aussehen schlichtweg nicht vorstellen können. Für mich ein absolutes Highlight der Schau ist deshalb die farbliche Rekonstruktion des „Kriegers aus Riace“, einer lebensgroßen Bronzestatue aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.

Das Liebieghaus hat sich mit einem Bronzenachguss der Statue und der Anwendung von Schwefelreaktionen und Bitumenlack, Wimpern aus Kupferblech, mit Silberfolie belegten Zähnen und Augen aus farbigem Stein der Erscheinung des Originals und dessen verblüffend realistischem Charakter angenähert.

Farbe und Realismus auch im späten Mittelalter

Liebgewonnene Vorstellungen über Bord werfen muss man auch im Bereich der mittelalterlichen Plastik. Was der heutige Betrachter aufgrund der verlorenen oder sehr stark verblassten Farbigkeit als historische Aura wahrnimmt, hat mit dem Original meist nicht mehr viel zu tun. Ursprünglich überzeugten die Figuren ihr Publikum durch die Darstellung lebensechter Details wie der Hautbeschaffenheit oder des Augapfels und mit überaus bunter Pracht, die durch den Einsatz „echter“ Accessoires wie Goldkronen oder Kleidung gesteigert wurden.

Heilige Barbara, um 1490 Lindenholz von Michel Erhart und Werkstatt
Michel Erhart und Werkstatt, Heilige Barbara, um 1490, Lindenholz, mit beschädigter Originalfassung, Reste fanden sich zum Beispiel am Gewand von aufgeklebten Pailletten aus Papier und Gold – Credit: Liebieghaus Skulpturensammlung Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V.
Rekonstruktion der Heiligen Barbara, 2013/2014, Schnitzerei: Thomas Hildenbrand, Fassung: Harald Theiss und Petra Bausch (Vergoldung)
So könnte es gewesen sein: Rekonstruktion der Heiligen Barbara, 2013/2014, Schnitzerei: Thomas Hildenbrand, Fassung: Harald Theiss und Petra Bausch (Vergoldung), ergänzt wurde die goldene Krone – Credit: Liebieghaus Skulpturensammlung Eigentum des Städelschen Museums-Verein e.V.

 

Lebensechte Details steigern die Wirkung

Ein Beispiel dafür ist die ungeheure Präsenz, die allein durch die Verwendung von echtem Haar entsteht, selbst wenn die restliche Figur in Maßstab und Proportion vom Naturvorbild abweicht. Das ist in der Ausstellung an zwei Schächerfiguren aus einer Kreuzigungsgruppe des ausgehenden 15. Jahrhunderts zu sehen, aber auch an Sam Jinks „Pietà“ aus dem Jahr 2007: Der hyperrealistisch arbeitende australische Bildhauer stellt hier in Abwandlung der traditionellen Maria-Christus-Darstellung sich selbst dar, wie er den Leichnam seines Vaters auf dem Schoss hält. Dieses Bild kann man so schnell nicht wieder vergessen.

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

5 Kommentare

  1. Lebensechte Darstellungen von Göttern und Heiligen nutzten wohl den religiösen Glauben der Menschen früherer Generationen um sie zu packen und zu überraschen und ihnen vorzuspiegeln diese Figuren aus der Bibel oder aus religiösen Erzählungen seien so real wie sie selbst.

    Heute trifft hyperrealistische Plastik auf ein anderes Publikum – ein Publikum, das dem Warenfetischismus huldigt und durch seine Erfahrung – nennen wir es Lebenserfahrung – zur Überzeugung kommen muss, alles lasse sich kaufen. Damit spielt beispielsweise Robin Ely mit seinen in Klarsichtplastik eingepackten Leuten von nebenan. Abwegig ist es heute nicht mehr sich vorzustellen, wie in naher Zukunft lebensechte Roboter durch die Strassen gehen und wo eine Witwe eine perfekte Replika ihres gerade verstorbenen Manns bestellt.

    • “Lebensechte Darstellungen von Göttern und Heiligen nutzten wohl den religiösen Glauben der Menschen früherer Generationen um sie zu packen und zu überraschen und ihnen vorzuspiegeln diese Figuren aus der Bibel oder aus religiösen Erzählungen seien so real wie sie selbst.”

      Der Hyperrealismus hat durchaus einen quasi magischen Effekt, dem man sich schwer entziehen kann, auch wenn man weiß, dass diese Statue kein Gott oder kein Heiliger ist. Dieses Prinzip wirkt ja auch heute noch im Film, man leidet mit den Protagonisten mit, obwohl es nur gespielt und nur gefilmt ist.

      Die antiken Statuen sind im Wesentlich farblos auf uns gekommen, die Farbfassung ging bis auf minimale Reste verloren. Die Ästhetik des Klassizismus hat das Weiß des Marmors dann quasi dogmatisiert.
      Der Hauptgrund für unsere gewandelte Ästhetik ist aber m.E. ein Paradigmenwechsel in der abendländischen Kunst. Von der Renaissance bis zum Aufkommen der Fotografie war Illusionismus, die Nachahmung (und Verschönerung) der Natur im Kunstwerk ein wesentlicher Grundsatz der Kunst, quasi ein Dogma der akademischen Ausbildung. Künstler, die davon zu sehr abwichen, wurden kritisiert. Mit dem Aufkommen der Fotografie wurde der Kunst gewissermaßen ein Standbein weggeschlagen und Illusionismus wurde in der Avantgarde-Kunst zunehmends als “überholt” angesehen. Illusionismus und Hyperrealismus gerieten unter Kitschverdacht. Alte Werke mit echten Haaren oder aus Wachs betrachtete man als Kuriositäten auf Ab- oder Nebenwegen der Kunst.

      • Mir scheint, dass der Illusionismus nur gerade im Barock Hochblüte hatte. Die Renaissance-Malerei eines da Vinci passt nicht dazu. Bei da Vinci spielt die von geometrischen Überlegungen geleitete Raumkomposition eine grosse Rolle. Da Vincis Abendmahl will nicht eine Realität vortäuschen sondern eine Art Ikone schaffen. Im Gegensatz zum Mittelalter sind aber die Ikonen der Renaissance nicht mehr reine “Comics”, sondern sie zeigen das Göttliche auch im Menschlichen – und umgekehrt.

        • Der Illusionismus hatte im Hochbarock, im “Theatrum Sacrum”, in der Tat eine Blüte, aber nicht “nur”. Beispiele für Illusionismus gibt es schon früher. Man darf beim Vergleich nicht unfair sein, die Künstler lernten immer mehr malerische “Tricks” dazu. Seinerzeit war auch da Vinci schon sehr weit, aber sicherlich war Illusionismus beim Abendmahl nicht seine Hauptabsicht. Zudem ist das Werk in heute einem katastrophalen Zustand.
          Illusionismus ist relativ: die ersten King-Kong- und Godzilla-Filme wirkten seinerzeit auch ausreichend illusionistisch, jedenfalls genügend, um zu gruseln. Heute lächelt man im Vergleich mit der heutigen Tricktechnik etwas darüber.
          Die Kunst des Mittelalters ist zeichenhaft und symbolisch, die der Neuzeit ist realistisch und naturalistisch und die Symbolik ist der Realitätsillusion angepasst.

          • Es stimmt wohl, dass die Detail- und “Natur”treue früher generell als Qualtiätsmerkmal betrachtet wurde. Sogar ich staune über Bilder wie Arnolfinis Hochzeit von Jan van Eyck wegen dem was es da alles zu sehen gibt (Glanzlichter, Spiegelungen).

            Das ist wohl auch der Grund dafür, dass alte Künstler , die nicht bis ins letzte realitätsgetreu malten, wie beispielsweise El Greco, auffielen und man über Sehfehler bei ihnen spekulierte.

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