Venedig – tot oder lebendig

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Auch ich liebe Venedig, das vorab. Wer tut das nicht?  Alle Welt strömt in die Stadt in der Lagune. Seit mehr als 100 Jahren ist der Tourismus Lebensquell und angeblicher Fluch einer Stadt deren Tod schon seit dem 19. Jahrhundert wahlweise prognostiziert oder als schon längst eingetreten bezeichnet wird.

Venedig Canale GrandeDer Canal Grande: Disneyland des 15. Jahrhunderts oder Inbegriff einer menschenwürdigen Stadt?

Bedrohlich sind das häufige Hochwasser und der schlammige Untergrund, auf dem die Stadt erbaut ist. Als noch viel größere Gefahr aber wird oft der gemeine Tourist empfunden. Dessen Schmähung ist wohl so alt wie das Phänomen des Städtereisens selbst. Zugegeben, das Problem hat sich verschärft: Blieb Goethe im Jahr 1786 noch etwa zwei Wochen lang in Venedig, so besteht die Mehrzahl der heutigen Besucher aus Tagestouristen, die im extremen Fall auf monströsen Kreuzfahrtschiffen direkt bis zum Markusplatz vordringen und die Fundamente der Stadt auch physisch zu zerstören drohen. Seit Goethes Zeiten hat sich die Zahl der Touristen verhunderttausendfacht. Es heißt, dass diese Touristen weniger Geld als Kosten für die  Müllbeseitigung in der Stadt zurücklassen. Ein im vergangenen Monat herausgekommener Film thematisiert dieses Problem als „Venedigprinzip“. Eine seit einigen Jahren in Venedig lebende deutsche  Journalistin klagte: „Auf einen wehrlosen Venezianer kommen 366 sich nach Venedig verzehrende Touristen“.

Wer ist schuld?

Die Touristen seien schuld daran, dass es Geschäfte für die Versorgung der Bevölkerung in Venedig nicht mehr gebe und man zum Einkauf aufs Festland fahren müsse, heißt es zum Beispiel. Aber gibt es das Problem nicht überall? Auch deutsche Fußgängerzonen leiden unter einem Strukturwandel, der Leerstände verursacht und den in Venedig so vermissten kleinen Gemüseladen oder den Laden für den Alltagsbedarf gibt es hier ebenso selten. Ganze Landstriche leiden unter Bevölkerungsschwund – nicht nur Venedig, dessen Einwohnerzahl im historischen Zentrum kontinuierlich sinkt (heute sind es laut tagesaktueller Zählung noch 58 255). Etwa 200 000 Venezianer dagegen leben auf dem Festland – in dem industriell geprägten, als hässlich geltenden Stadtteil Mestre.

Sind es wirklich die Touristen, die die Stadt zerstören? Der Reichtum der Stadt stammte zu großen Teilen aus dem Fernhandel, dessen Blütezeit vom 13. bis zum 15. Jahrhundert lag. Später kamen auch industrielle Strukturen hinzu, die heute fast alle verschwunden sind. Als städtischer Organismus ist die Stadt schon lange krank. Spätestens die Teilung der Stadt durch die Ansiedlung der Industrie in den Stadtteilen Marghera und  Mestre vor gut hundert Jahren legte die Bewohner des historischen Zentrums auf den Tourismus als Erwerbszweig fest. Etwa die Hälfte der Einwohner in der Altstadt lebt heute direkt davon.

bofrost in VenedigAuch die Einwohner der Altstadt von Venedig möchten am modernen Leben teilhaben.

Vielfach beklagt wird, dass Venedig zu einem historischen Freizeitpark mit Disneyland-Charakter verkommen sei. Das suggeriert, dass es “echtes” Leben in Venedig heute nicht mehr gebe, dieses gleichwohl aber prinzipiell möglich sei. Nur – wie sähe das aus? Auch in Venedig möchten die Menschen nicht in durch Hochwasser feuchten Wohnungen leben, auch unter ihnen hätten viele gern ein Auto vor der Tür. Und welche “echten” Erwerbsmöglichkeiten würde es ohne den Tourismus geben?

Squero Venedig alte WerftEin seltenes Relikt aus alten Zeiten und immer noch lebendig: die letzte noch arbeitende Werft für Gondeln in Venedig, der Squero di San Trovaso

Eine ganze Stadt als Museum?

Kann es sein, dass all jene, die den verlorenen Charakter Venedigs und dessen touristische Disneyisierung beklagen, auch selbst einem kitschigen Geschichtsverständnis aufgesessen sind?

Salvatore Settis ist ein hoch angesehener italienischer Kunsthistoriker und Archäologe. Auch er beklagt den Niedergang Venedigs. Seine Diagnose:

Unter den Waffen, die auf Venedig gerichtet sind, wiegt am schwersten die dauernde Anklage, “alt”, ungeeignet für die moderne Welt zu sein und ”Aktualisierungsmaßnahmen” zu bedürfen.

Und er fordert:

… dass jenes Modell, das von Venedig und den Venezianern entwickelt wurde, ein Recht hat, auf der Welt zu bleiben. Denn wenn Venedig stirbt, wird nicht nur Venedig sterben. Die Idee der Stadt selber wird sterben, die Form der Stadt als ein offener, vielfältiger und ziviler Raum des gesellschaftlichen Lebens.

Für ihn ist Venedig

… auf globaler Ebene das stärkste Symbol für das von der antiken Stadt verkörperte menschliche Maß. Diese Erfahrung müssen wir uns bewahren.

(in einer in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Dezember veröffentlichten Fassung eines Vortrags am Deutschen Studienzentrum in Venedig).

Das wirft für mich zwei Fragen auf: Taugt Venedig wirklich als Modell? Und wie ließe sich dieses Modell bewahren?

Die gewachsenen Strukturen der Stadt beruhten auf einer ständischen Ordnung. Venedig war eine Stadt des Adels. Wer träumt sich nicht gern in die prächtige Kulisse eines venezianischen Palazzos. Als Herr oder Dame des Hauses, versteht sich. Leider übersieht man leicht, dass man ebenso gut oder sogar mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit einer der niedereren Klassen angehört haben könnte. All die vergangene Pracht ist das Ergebnis gesellschaftlicher Ungleichgewichte und noch größerer Ungerechtigkeiten als heute. Ernsthaft sehnt sich wohl niemand nach diesen Verhältnissen zurück. Auch Settis stellt fest, dass jede Gesellschaft einen ihren Bedürfnissen angemessenen Raum hervorbringt. So ist die Stadt Venedig das – unbestritten wunderschöne – Abbild einer Gesellschaftsform, die als Modell heute nicht mehr taugt.

Vielleicht ist Venedig heute tatsächlich im Wesentlichen ein gigantisches Freiluftmuseum. Es mit “echtem” Leben zu füllen, wäre kaum möglich, ohne die kostbaren historischen Gebäude zu zerstören.

Venedig Fondaco dei TedeschiDer Fondaco dei Tedeschi, die ehemalige Niederlassung der deutschen Kaufleute, geht auf das 13. Jahrhundert zurück und stammt aus der Zeit Venedigs als Handelsmetropole. Die Benetton Group ist aktueller Besitzer des Gebäudes. Der Plan, hier ein Einkaufszentrum mit Rolltreppen und weiteren Umbauten einzurichten, wurde nach starken Protesten aus der Bevölkerung im Jahr 2012 verworfen.

Ein Renaissancemäzen im dritten Jahrtausend

Interessant finde ich einen weiteren Aspekt, der vielleicht symptomatisch für die gesamte Problemlage ist. Settis empört sich über ein Projekt des französischen Modeschöpfers und Produktdesigners Pierre Cardin (geboren 1922 in Treviso, etwa 30 km von Venedig entfernt). Dieser möchte der Stadt eine bewohnbare Skulptur “schenken”, die im Hafenviertel Marghera erbaut werden soll. Settis, und nicht nur er,  empfindet das Vorhaben als Beleidigung Venedigs, unter anderem, weil Cardins Turmbau den Campanile von San Marco um 140 Meter überragen würde. Dabei beruft auch Cardin sich auf historische Vorbilder: er versteht sich als Renaissancemäzen in der Tradition  von Cosimo de’ Medici und gibt damit ein anschauliches Beispiel von der Fortschreibung alter gesellschaftlicher Modelle, die denen ähneln, die einst auch Venedig hervorgebracht haben.

Palais Lumiere Venedig Pierre Cardin MargheraPanoramablick auf Venedig: Mit dem Palais Lumière möchte Pierre Cardin auf dem Festland ein skulpturales Architekturobjekt schaffen, in dem in drei bis zu 250 Meter hohen Türmen alles, was der Mensch braucht, zu Fuß erreichbar sein soll. Etagen mit Büros alternieren mit Wohnetagen und öffentlichen Etagen. Es gibt Appartements von 50 bis 400 m², Luxushotels, ein Kongresszentrum und eine Modeuniversität, ein Einkaufszentrum, ein Theater mit 7000 Plätzen und 10 Kinos, dazu 4000 Parkplätze. (Abbildung: ©Studio Pierre Cardin, Palais Lumiere)

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

4 Kommentare

  1. Tod in Venedig oder Tod von Venedig?

    Venedig wird in den Fluten untergehen. Die Flutwehr MOSE die jetzt im Bau ist aber vielleicht nie vollendet wird weil das Geld fehlt und es viele Gegner gibt, wird nur einige Jahrzehnte in der Lage sein, die steigenden Meeresspiegel zu kompensieren.
    So gesehen wird Venedig Ende des 22. Jahrhunderts in den Fluten verschwunden sein.

    Doch andererseits. Wer weiss schon was bis dann noch passiert. Etwas jedoch können wir wissen: Jeder Zustand Venedigs ist nur ein vorübergehender und Venedig aber auch vieles anderes ist in langer Sicht nur ein Provisorium.

  2. Der Panoramablick

    täuscht vielleicht ein wenig, Venedig ist 2-3 Kilometer der Küste vorgebaut und liegt in einer Lagune:
    https://maps.google.com/maps?q=venedig&ie=UTF-8&hq=&hnear=0x477eb1daf1d63d89:0x7ba3c6f0bd92102f,Venedig,+Italien&ei=Pi34ULWTLe6q0AXs54DQDA&ved=0CNsBELYD (falls nicht mit dieser Parametrisierung aufrufbar, bei Google Maps bitte eine andere wählen)

    Jedenfalls die Altstadt. Viel ungünstiger kann heutzutage eine Stadtbildung kaum liegen, insofern ist sie nun ein “Opfer” des Tourismus; damit es sie überhaupt noch gibt.

    MFG
    Dr. W

  3. Ich teile die gleichen Gefühle zu Venedig wie Sie I, verliebte sich in diese Stadt von den ersten Blick.

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