Paris: Malaria und Gentrifizierung im 19. Jahrhundert
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Ein Thema für den Himmelfahrtstag: Nicht ganz bis hoch hinauf, aber doch immerhin hoch genug, um an den Wolken zu kratzen, kommt man zum Beispiel in Paris auf dem Montparnasse-Turm. Das dauert nur eine gute halbe Minute mit dem Fahrstuhl plus ein paar Treppen zu Fuß. Die Dachterrasse befindet sich 210 Meter über dem Erdboden. Das ist zwar nur fast so hoch wie der Eiffelturm, aber dafür muss man nicht so lange Schlange stehen und es ist billiger: Das Ticket kostet derzeit für einen Erwachsenen 8 Euro (Eiffelturm: 14 Euro).
Blick von der Tour Montparnasse auf den Eiffelturm (Mitte), den Invalidendom mit dem Boulevard des Invalides (rechts) und den Boulevard de Grenelle (links). Foto: Eva Bambach
Oben angekommen ist man geneigt, dem Versprechen der Turmbetreiber zuzustimmen: Der schönste Blick auf Paris, und das rundum. Immer wieder faszinierend ist das Von-oben-drauf-Kucken nicht nur wegen dem ameisenhaften Gewusel auf der Erde, sondern weil man manches aus der Entfernung einfach besser sieht.
Tiefe Einschnitte im Weichbild von Paris
Zum Beispiel kann man die messerscharfen Schnitte durch das Weichbild der Stadt von hier oben gut erkennen. Es sind die großen Avenuen und die Boulevards. Was heute die Struktur und den kaum bestreitbaren Reiz der Stadt Paris ausmacht, ist zu einem großen Teil das Ergebnis rigoroser Baumaßnahmen. Weil der Kaiser (Napoleon III.) sich eine moderne Stadt nach dem Vorbild von London wünschte, machte er Georges Eugène Haussmann 1853 zum Stadt-Präfekten. Haussmann hatte sich in der Provinz als durchsetzungsfähig erwiesen und bekam nun die Aufgabe, in die historisch gewachsene Stadt Schneisen zu schlagen, mit dem Ziel bessere Verkehrswege, aber auch eine bessere Belüftung zu erreichen. Schlechte Luft hielt man damals für die Ursache der Cholera, die Europa im 19. Jahrhundert mehrfach heimsuchte. Das Motto hieß: „Paris embellie, Paris agrandie, Paris assainie“ („Paris verschönert, Paris vergrößert, Paris entseucht“). Ein weiterer Grund, der damals nicht an die große Glocke gehängt wurde, war der Wunsch, genug Platz für den Einsatz von Kanonen und Kavallerie zu haben, falls mal wieder ein Volksaufstand niedergeschlagen werden müsste.
Zwangsumsiedlungen und Malaria
Anders als bei dem Vorbild London, wo 1666 ein Großbrand weite Teile der Stadt zerstört und beim Neuaufbau eine Modernisierung mit sich gebracht hatte (allerdings fast ohne den historischen Straßenverlauf zu ändern), mussten in Paris viele seit dem Mittelalter entstandene Wohnviertel niedergerissen werden, um für die neuen ehrgeizigen Pläne Platz zu machen. Die Menschen wurden enteignet und zwangsweise umgesiedelt. Die nun errichteten modernen Gebäude waren Luxusquartiere – und sind es meist noch heute. Zuvor hatten sich oft Angehörige unterschiedlicher Schichten ein und dasselbe Haus geteilt: Unten das wohlhabende Bürgertum, darüber Beamte und Angestellte, ganz oben Studenten und Arme. Die Vertreibung der ärmeren Bewohner aus der Stadtmitte war erwünscht: Haussmann schrieb an Napoléon III. diesbezüglich, man müsse die Erhöhung der Mieten und der Lebenshaltung als ein nützliches Mittel sehen, um Paris gegen die Invasion der Arbeiter aus der Provinz zu verteidigen.
Es ging bei der Sanierung der Stadt also nicht gerade um die Verbesserung der Lebensqualität für alle. Und die jahrelangen Bauarbeiten belasteten die Menschen noch zusätzlich: In den Baugruben sammelte sich das Wasser, Stechmücken und damit Malaria breiteten sich aus.
Von all dem spürt man heute nichts mehr, wenn man durch die Pariser Prachtstraßen flaniert – wir finden es einfach nur schön. (Obwohl er eigentlich kein Architekt war, prägte Haussmann übrigens auch die ästhetische Gestaltung der neuen Gebäude. Er erließ umfangreiche Bauvorschriften, die unter anderem das einheitliche Aussehen der Fassaden regelten und damit für die Betonung der schnurgerade verlaufenden Straßenfronten sorgten.)
Architektur für das Ego und die Nation
Mit der grossen Architekturkelle anzurichten liegt den Franzosen noch heute. Es mag eine Form sein, der Grandeur der Nation Ausdruck zu geben und als auftraggebender Politiker unsterblich zu werden oder mindestens in die Nähe von Politikern der Statur eines Napoleon zu rücken.
Francois Mitterand beispielsweise prägte die Hauptstadt mit großen Projekten zu denen die Pyramide des Louvre, die Opéra Bastille oder die Nationalbibliothek gehört. Auf das Konto Valéry Giscard d’Estaing geht das Institut du monde arabe.
Versailles, die von Haussmann völlig neu gestaltete Stadt mit Prachtstrassen und auch die neueren Baudenkmäler, die von Politkern initiiert wurden sind letztlich Ausdruck des französischen Zentralismus. Und dieser wiederum ist ein Erbe des Absolutismus, der seinen Höhepunkt mit Louis XIV fand, der den passen Spruch L’État, c’est moi! dazu fand.
Solche Grossarchitekturen und -planungen wie eben auch die Umgestaltung Paris’ durch Haussmann sind Ausdruck von persönlichen Ambitionen von Mächtigen, die sich als Stellvertreter der ganzen Nation sehen.
Gentrifizierung und neue Welt des Wissen
Das Wort Gentrifizierung kommt in diesem Beitrag nur im Titel vor. Und obwohl es ein Fremd- und Fachwort ist muss man es hier niemandem erklären, denn wer Fragen dazu hat schaut einfach im Internet nach. Der Wissenshintergrund, der eben nicht nur tatsächlich Gewusstes, sondern auch unmittelbar erreichbares mit einschließt, verändert das, was mitgeteilt werden kann. Früher, im digitalen Steinzeitalter, hätte solch ein Wort wie Gentrifizierung einen Text gestört, denn viele Menschen überkommt ein Unbehagen, wenn sie Dinge nicht einordnen können.
Der nächste Schritt könnte sein, dass wir gar nicht mehr nachschauen müssen: die Augenbewegungen, die von der Frontkamera erfasst werden, weden ausgewertet und ein kleiner Tooltip über dem Störwort hilft weiter. Schöne neue Welt.
Mangelnde Sorgfalt
Das ist ein guter Hinweis. Ein nicht erklärter Fachbegriff – und das auch noch in der Überschrift – das sollte eigentlich nicht vorkommen. Da muss ich künftig mehr Sorgfalt walten lassen!
Pro und Contra
Einerseits kann man derartige Maßnahmen heutzutage in einem demokratischen Staat nicht einfach so durchziehen und an den Verlust an mittelalterlichen Baudenkmälern will ich als Kunsthistoriker lieber gar nicht denken.
Aber andererseits war das Ergebnis eine moderne Infrastruktur, wie sie auch das damals erst zur Großstadt gewachsene Berlin besaß. Man muss nur einmal versuchen Rom während der rush hour zu durchqueren und um breite Straßen und U-Bahnen schätzen zu lernen.
Die Bahnsituation hingegen ist in Paris mit seinen 6 weit voneinander entfernten Kopfbahnhöfen noch immer – um es höflich auszudrücken – suboptimal.
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