Marseille: So sollen wir wohnen – Le Corbusier

BLOG: Denkmale

Es gibt etwas zu sehen
Denkmale

Die Wohnmaschine wird 60: Im Oktober 1952 wurde in Marseille ein von dem in der Schweiz geborenen Architekten Le Corbusier geplantes Haus mit mehr als 300 Wohnungen feierlich eingeweiht. Das Gebäude war das erste von fünf solcher “unités d’habitation” (eines davon in Berlin). Von weitem sieht das Haus aus wie ein ganz normales Hochhaus (immerhin gilt Le Corbusier vielen als Vater aller Verfehlungen moderner Vorstadt-Architektur).

Marseille Le Corbusier Unité d'habitation
Die mehr als 300 Wohneinheiten waren als sozialer Wohnraum gedacht. Schon die Erstbezieher der Unité d’habitation in Marseille waren dann aber vor allem Beamte, die die Wohnungen schon bald als Eigentum erwarben.

Wer länger hinschaut, spürt einen ausgewogenen Rhythmus, der von Le Corbusiers eigenem Proportionssystem ausgeht, das auf dem Goldenen Schnitt beruht. Beim Nähergehen erkennt man originelle Details wie die an ein Schiff erinnernden Formen auf dem Dach und die sorgfältige Auswahl und Verarbeitung der Materialien.

Le Corbusier Marseille BetonLe Corbusier machte sorgfältig verarbeiteten Sichtbeton zum Gestaltungselement. Dabei nutzte er die dekorative Wirkung unterschiedlicher Oberflächenstrukturen.

Das Gebäude ist ein ambitionierter Versuch, privates und gemeinschaftliches Leben zu vereinbaren. Le Corbusier konzipierte es als “vertikales Dorf”, in dem wie bei einem Ozeandampfer alle Funktionen auf mehreren Ebenen übereinander angeordnet sind. Es gibt mehrere Stockwerke auf denen sich Läden und Büros befinden, es gibt auch ein Restaurant und ein Hotel, die beide noch original ausgestattet sind. Von den zahlreichen Geschäften sind heute allerdings nur noch eine Patisserie und eine Buchhandlung übrig geblieben, die andern stehen – wie anderswo auch – leer.

Le Corbusier Marseille Unité d'habitation DachDie riesige Dachterrasse (das Foto zeigt nur einen sehr kleinen Teil davon) bietet Ausblick auf Berge und Meer. Hier trifft man sich zum Aperitif und es finden dort Kinovorführungen statt. Das Planschbecken rechts im Bild gehört zum ehemaligen Kindergarten, der heute als Malschule genutzt wird.

Minutiös geplant waren nicht nur die Gemeinschaftsfunktionen wie Kinderbetreuung oder Geselligkeit, sondern auch die Wohnungen. Bis ins kleinste Detail durchdacht, berücksichtigten sie nicht nur Grundbedürfnisse wie Schlafen und Essen. Alle Wohnungen laufen von Ost nach West von einer Seite der Fassade zur anderen und erstrecken sich über zwei Geschosse.So haben alle Bewohner sowohl Abend- als auch Morgensonne und die Wohnungen können optimal belüftet werden.

Le Corbusier Marseille FensterbankNeben Beton wurden sehr hochwertige Materialien wie zum Beispiel Eichenholz verbaut. Die Schwelle zum Balkon kann als Sitzbank benutzt werden, an den Fenstern ist eine durchgehende Lehne für die Arme angebracht, auf der man auch das abendliche Glas Wein abstellen kann. Darunter verläuft die Heizung.

Le Corbusier legte viel Wert darauf, dass die Wohnungen mit allem Komfort ausgestattet waren. Eine Zentralheizung und fließend warmes Wasser, ein Bad und ein weiteres Duschbad für die Kinder, zwei nebeneinander liegende Kinderzimmer, deren Trennwand zum Spielen beiseite geschoben werden kann, zahlreiche Wandschränke und helle Räume waren am Anfang der 1950er Jahre ein auch für mittlere Einkommensklassen unerhörter Komfort. Die Wohnungen waren sehr begehrt und sie sind es noch immer. Vieles von der Original-Ausstattung ist noch heute erhalten – und das, obwohl der Architekt sogar die Farben nach seinem Konzept festgelegt hatte. Alle Zimmertüren und Schrankeinbauten waren in kräftigen Grundfarben lackiert. Die Küche war komplett eingerichtet – mit durchgehender Arbeitsfläche aus Aluminium, einem Eiskasten und einem Brotfach, das der Bäcker morgens vom Gang aus bestücken konnte. Sogar die Anzahl der zu benutzenden Kochtöpfe hatte der Architekt bedacht und für jeden einzelnen ein entsprechendes Gestell vorgesehen.

Ein um 1960 gedrehter Film zeigt, wie sich das Leben im Haus abspielen sollte:


Die Bewohner hatten und haben eine sehr enge Beziehung zu ihrer “cité radieuse”, ihrer “strahlenden Stadt”, und man sieht wenig Tendenz zur Umgestaltung oder individualisierung. Es ist dem Architekten also offenbar gelungen, die menschlichen Bedürfnisse ziemlich genau zu erfassen und zu befriedigen.

Wer aber ob so viel Normierung Unbehagen verspürt, liegt wohl auch nicht ganz falsch: Le Corbusier war ein Menschenfreund mit totalitären Vorstellungen, der auch keine Scheu vor Stalin, Hitler oder Mussolini hatte, wenn es darum ging, ein neues Europa zu bauen. Er wurde offizieller Mitarbeiter des Vichy-Regimes und offenbarte seine Bewunderung für Hitler auch in privaten Briefen.



Avatar-Foto

Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

15 Kommentare

  1. verpönung von plattenbauten

    die verpönung von plattenbauten ist nur ein zeichen von ignoranz. die massiven kosteneinsparungen von plattenbauten lassen raum für lebensstil, der anders garnicht möglich wäre. leider werden ganz andere dinge damit assoziert. schade

  2. @Plattenbauten

    Interessant ist vielleicht auch, dass die Baukosten schon damals erheblich über dem lagen, was zunächst veranschlagt war. Wollte man heute die Unité d’habitation mit den Original-Materialien nachbauen, läge der Preis angeblich bei mehr als 2000 Euro pro qm Wohnfläche.

  3. Spitzname

    Bei den Einheimischen heißt der Bau, übrigens durchaus respektvoll, “la maison du fada” (“das Haus des Dorfdepps/Dummkopfs”).

  4. Corbusier und die Ideal-/Planstadt

    Corbusiers “unités d’habitation” passen zur Idee der Ideal-/Planstadt, die Corbusier mit Chandigarh, einer Planstadt in Indien, ja auch auslebte. Die Fotografin Bärbel Högner, die sie besucht und als gut befunden hat, lobt übrigens ebenfalls – wie dieser Beitrag – die Wahl und Qualität der von Corbusier gewählten Materialien. (Zitat)“Bäume, Backstein, Beton waren seine Materialien, noch heute steht die Millionenstadt für hohe Lebensqualität.”

    Viele Planstädte sind als konzentrische Ringe angelegt durch die radiale Achsen (Verkehrswege etc) laufen. Tatsächlich braucht jede Stadt Infrastruktur in Form von Strassen, Abwasserkanälen, Strom- und Wasserleitungen. Wählt man die Stadtgeometrie so, dass diese Infrastruktur kostengünstig und ästhetisch angelegt werden kann, so schafft man damit die Voraussetzungen für harmonisches und auch kostengünstiges Wachstum. In den heutigen realen Städten dagegen ist neue Infrastruktur oft nur lästig und hässlich und darum besteht die Tendenz, sie in den Untergrund zu verlagern. Das aber kann sehr teuer werden. In Zürich beispielsweise, das ich etwas kenne, wird gerade an einer grösstenteils unterirdischen neuen Eisenbahnlinie von 9.6 km gebaut, was Kosten von 2 Milliarden Schweizer Franken verursacht.
    Es wird also enorm viel Geld für Infrastruktur ausgegeben, vor allem deshalb, weil diese neue, zusätzliche Infrastruktur eigentlich nirgendswo hin passt und deshalb in den Untergrund verlagert werden muss, was die Baukosten stark erhöht.

    Hohe Lebens- und Wohnqualität muss aber nicht unbedingt teures Wohnen bedeuten. Städte und Stadtteile, die in einer vorgeplanten Grundstruktur entstehen sollten beides – hohe Qualität und günstige Kosten – vereinen können. Lingang, das neue Hafenviertel von Shanghai ist als solche konzentrisch um einen See von 3 km Durchmessern angelegte geometrisch ideale Stadt vorgesehen.

  5. Theorie und Praxis?

    Hm… – Die Theorie hinter dem Gebäude klingt ja nicht schlecht, und es scheint (zumindest in Frankreich) auch entsprechend umgesetzt zu sein. Aber irgendwie scheint es mir auch ‘ne Ausnahme zu sein, denn die meissten Plattenbauten, bei denen dieses Konzept so nicht angewandt wurde, sondern wo einfach nur ein haufen Wonungen übereinander gestapelt wurden, haben sich eher zu sozialen Brennpunkten, also Problemzonen entwickelt. Und dann wäre auch noch die Frage zu klären, wie sich solche Entwürfe, bzw. die Entwürfe ganzer Städte (wie Brasilia) oder Stadtteile im laufe der Zeit entwickelt haben? Hat sich da alles im Sinne der Erfinder entwickelt, oder ist da doch eher mehr als weniger, das man in der Rückschau besser als “architektonische Sünde” bezeichnen sollte, weil es die Psyche der Menschen angreift?

    Wählt man die Stadtgeometrie so, dass diese Infrastruktur kostengünstig und ästhetisch angelegt werden kann, so schafft man damit die Voraussetzungen für harmonisches und auch kostengünstiges Wachstum.

    Das dürfte sicherlich stimmen, aber zuviel Achs- oder auch Punktsymmetrie um den Stadtkern herum halte ich für eher weniger geeignet, um eine langfristige Identifikation der Bewohner mit ihrer Umgebung zu erzeugen, weil es Eintönig und damit langweilig wird. Also: Was zwar optimal für die Infrastruktur ist, muss für die Lebensqualität noch längst nicht optimal sein. Psychologisch kann sogar das Gegenteil der Fall sein. Was ich persönlich zum Beispiel ziemlich scheusslich finde, sind diese recheckigen oder quadratischen Siedlungsblocks, wie sie in den USA vielfach üblich sind. Das mag zwar Verkehertechnisch, sowie für Gas, Wasser und Stromversorgung optimal sein, aber einen ästhetisch angenehm gestalteten Siedlungsraum stell ich mir anders vor. Der sollte ohne das Römische Kastell auskommen, das sich formal hinter diesen “US-Quadersiedlungen” finden lässt.

  6. @Hans: fromCube&Circle to fractal cities

    Guter Einwand: “zuviel Achs- oder auch Punktsymmetrie um den Stadtkern herum halte ich für eher weniger geeignet, um eine langfristige Identifikation der Bewohner mit ihrer Umgebung zu erzeugen, weil es Eintönig und damit langweilig wird.”
    Ein Ansatz, der zu befriedigenderen, organischeren Stadtentwicklungen führt ist die Fraktalitität, das heisst Entwicklungsmuster, die sich beispielsweise mit dem Wachstum eines Baums vergleichen lassen, wo die gleichen Substrukturen (Äste, Unteräste, Verzweigungen usw.) auf allen Skalen auftauchen.
    Mit fraktal organisiserten Städten haben sich mehrere Stadtplaner und Architekten Ende der 1990er-Jahre beschäftigt, ein Standardwerk scheint Fractal Cities zu sein (Achtung: es ist ein ganzes Buch, dessen Downloading Minuten benötigt).

    Der Blogspot von Mc Adams beschäftigt sich schwerpunktmässig mit fraktaler Stadtplanung und -organisation.

  7. @Martin Holzherr

    Danke für den link. Das werde ich mir mal genauer ansehen, das sieht interessant aus. Fraktale haben IMHO ja sowieso ihren eigenen, besonderen Reiz.

  8. Fractal Cities, @Martin Holzherr

    Puhh, das ist aber eine Menge Stoff! – Okay, einiges davon ist mir oberflächlich schon bekannt, aber das ganze Buch ist ja Stoff für ein oder zwei Semester im Architekturstudium oder ähnlichen Fächern, die sich mit Raumplanung beschäftigen.
    Zu dem Thema gibt es aber auch eine nette deutsche Website, vielleicht nicht so Umfangreich, aber für einen Überblick ausreichend.

  9. @Hans:Computergenerierte Stadtstrukturen

    Ich bin positiv überrascht: Architekten und Stadtplaner scheinen auf der Höhe der Zeit und modellieren ihre Siedlungen inzwischen nach soziophysikalischen oder fraktalen Modellen oder sie verwenden Modelle der diffusionslimitierten Aggregation oder wenden genetische oder zelluläre Algorithmen an.
    Die sind ja auf der Höhe der Zeit.
    Mit diesem Material sollte sich jetzt begabte Komponisten austoben und ihre eigene Handschrift entwickeln.

  10. Plattenbau einmal anders..

    Als man zu DDR Zeiten die Möglichkeit bekam, in eine der neu errichteten Wohnungen eines Plattenbaus zu ziehen, ergriff man die Chance – Sanitäranlagen befanden sich nun endlich IN der eigenen Wohnung, es gab eine Zentralheizung, Schule/Kita/Konsum waren gleich um die Ecke und die Wohnung an sich hell, freundlich und neu.
    Auf jeden Fall waren diese im Gegensatz zu den “unités d’habitation” weitaus kostengünstiger..
    Was damals hoher Standard und beliebt war, und wird nunmehr in fast allen Städten lediglich belächelt..
    Jetzt sucht man große Altbauwohnungen mit individuellen Schnitten, großer Wohnfläche, hängt sich Plissees von Sensuna in die Fenster, stellt sich Möbel von IKEA in die Räume und versucht so individuell wie möglich zu leben.
    Beides hat seine Vor- und Nachteile, beides hat und hatte seine Zeit – es bleibt spannend und wer weiß, wie Wohnen in ein paar Jahrzehnten aussehen wird..

  11. Kaninchen

    Zwar wohne ich selbst gern in einem Hochhaus, möchte aber doch Traxlers Meinung zu diesem Thema weitergeben:

    Herr Corbussier mit strenger Miene,
    erfindet eine Wohnmaschine.
    Für alles gibt’s ‘nen Raster,
    und was nicht paßt, das haßt er.
    Drin wohnen die Kaninchen,
    Die würden Ihne gern lynchen.

    Hans Traxler

  12. @Franziska Franke

    Mit Blick auf die – zumindest in Marseille – zufriedenen Kaninchen kann man wohl sagen: Hier irrt der Dichter …

  13. Das Wohnkonzept kann nichts dafür

    Hallo Hans, in vielen Punkten stimme ich Ihnen zu. Allerdings bedeutet Plattenbau nicht immer, dass die Gegend sich zu einem sozialen Brennpunkt entwickeln muss. Vielmehr ist hier die regionale Politik gefordert, bei größeren Menschenmengen entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu treffen und die nötigen sozialen Einrichtungen mitzuliefern. Mit Wohnungsbau allein ist die Sache nicht gegessen. Das ein friedliches Miteinander in solchen Siedlungen möglich sind, zeigen viele Beispiele.

  14. Corbusier 2013

    Anläslich eines Kulturhauptstadtbesuches haben wir das Gebäude besucht und einen trostlosen Zustand vorgefunden: Die Flure finster und mit schäbigen Türen, die Bar abgenutzt, das Holz der Fenster ungepflegt, die Dachterasse in Zement nicht eben ansprechend in der glühenden Sonne auch die Außenfassade sieht aus, als ob 20 Jahre nichts mehr gemacht worden wäre. Ein Apartment war nur nachmittags von 16 – 18 zu besuchen. Schade, dass man im Rahmen des Programms mp2013 hier keinerlei Anstrengungen gemacht hat.

  15. Pingback:Die Zukunft ist weg! › Denkmale › SciLogs - Wissenschaftsblogs

Schreibe einen Kommentar