Künstlernachlass

Was ist, wenn zu viele Künstler zu viel Kunst machen?  

Schon in vergangenen Jahrhunderten gab es eine künstlerische Überproduktion – etwa im 17. Jahrhundert in den Niederlanden und ganz massiv im 19. Jahrhundert. Heute aber werden nicht nur noch mehr Künstler akademisch ausgebildet als je zuvor, die Erschwinglichkeit von Künstlerbedarf trägt oft auch zu einer unbeschwerten Produktion bei. Schmerzt den Kunstfreund bei älterer Kunst oft die Übermalung von Motiven auf der Leinwand oder der Nutzung der Rückseite, so hat es heute kaum noch ein Künstler nötig, derart sparsam mit den Ressourcen umzugehen.

Nur ein winziger Bruchteil der Produktion findet den Weg an die Wände eines privaten Kunstfreundes oder gar einer öffentlichen Sammlung. Die Nichtbeachtung auf dem Kunstmarkt schließt aber nicht aus, dass das Geschaffene einen kulturellen Wert hat, den es zu bewahren gilt. Das Oeuvre der heute international viel beachteten Rose Wylie  rückte erst ins Licht der Öffentlichkeit, als die britische Malerin schon fast 80 Jahre alt war – und erlebt seitdem einen Boom ohnegleichen.

Wäre Rose Wylie mit 70 Jahren gestorben, hätten ihre Erben ein Problem gehabt, das viele Hinterbliebene von Künstlern belastet: Wohin mit den vielen Bildern? Es stellt sich die Frage, ob die Kunstwerke überhaupt einen über das Emotionale hinausgehenden Wert haben. Und wenn man das für gegeben hält, muss das Werk gesichtet, katalogisiert, konserviert und vor allem überhaupt auch irgendwo sachgemäß aufbewahrt werden. Entsprechende Magazinräume sind teuer und die Erben mit diesen Aufgaben nicht nur finanziell häufig überfordert.

Doch es besteht schließlich auch ein öffentliches Interesse an diesem kulturellen Erbe. Deshalb gründen sich immer mehr Vereine, Stiftungen und Institutionen, die sich der Aufgabe widmen, künstlerische Lebenswerke vor dem Verschwinden zu retten und zugänglich zu halten. Sie wollen unter anderem verhindern, dass Künstlernachlässe unkatalogisiert auseinandergerissen werden.

Wer bestimmt, welche Kunstwerke für Folgegenerationen bewahrt werden?

Laut Bundesverband Künstlernachlässe gibt es im Bereich der verstorbenen Künstler von lokaler und regionaler Bedeutung pro Jahr mehrere tausend Fälle. Doch Platz gibt es kaum. Das Archiv für Künstlernachlässe der Stiftung Kunstfonds sieht künstlerische Lebenswerke zwar wichtige Zeugnisse unseres kulturellen Erbes an, die manchmal nur vorübergehend vergessen gehen. Die Kapazität des Archivs ist allerdings sehr begrenzt – derzeit auf einige Handvoll Künstler (28) und Künstlerinnen (8).

So bleibt vom Lebenswerk oft nur eine Garage voller Bilder übrig.

Ein Glück, in Bildern zu schwelgen …

Es gibt aber auch Hoffnung. Denn Digitalisierung kann – trotz der unwägbaren Haltbarkeit technischer Formate – eine gewisse Abhilfe schaffen. Ohne Sachverstand der Erben und ein ausreichendes Zeitbudget geht allerdings auch da gar nichts. Ein schönes Beispiel für das, was möglich ist: Das während der Pandemie mit einem Stipendium der Hessischen Kulturstiftung erstellte Archiv Sam Flowers.

Opulente digitale Präsentation statt Garage: Statuette von Sam Flowers, Bildrechte: Archiv Sam Flowers

Hochaufgelöste Fotos in Hülle und Fülle gewähren großzügig Zugang zum Betrachten des schier unüberschaubaren Werkes der 2008 jung verstorbenen Künstlerin. Das unaufdringlich und minimalistisch, aber gut strukturierte Archiv lädt zum Stöbern und Entdecken von Collagen, Malerei, Grafik und Skulptur ein – und beschert dabei einen unerwartet ästhetischen Genuss.

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

1 Kommentar

  1. Exemplarisch zwei Stimmen zur Kenntnisnahme und Selbstanalyse:
    Wolfgang Ullrich (geb. 1967, Professor für Kunstwissenschaft & Medientheorie) schreibt … “So wie man die Kunst “an sich” schätzt und als Mysterium verehren möchte, will man von den Künstlern nichts anderes als das sie Kunst machen … Um es polemisch zu formulieren: Die Gesellschaft – und das ist letztlich nur eine kleine Minderheit – hält die Künstler aus Lust und Laune und lässt sie entsprechend einseitig erziehen. Das ist extrem zynisch, denn die meisten Kunsthochschulabsolventen finden, dass Galerien oder Kunstvereine sie gar nicht mögen. Sofern sie keinen anderen Beruf erlernt haben, bleiben sie auf schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs angewiesen und machen immer wieder schmerzlich die Erfahrung, dass ein Kunststudium, das auf dem Dogma der Autonomie basiert, im Gegensatz zu einem geisteswissenschaftlichen Studium nichts vermittelt, was anderweitig helfen könnte. ” [Aus: Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers von Wolfgang Ullrich Berlin 2007]

    Werte, Wertvolles und damit auch Kunst an sich gibt es nicht. {Harald Falckenberg}*

    …”Die Bewertung von Kunst hat sich lange Zeit an der im 18.Jahrhundert von Adam Smith für die Wirtschaftswissenschaft entwickelten Unterscheidung „value in use“ (Gebrauchswert) und „value in exchange“ (Tauschwert). Und den Begriffspaaren „subjektiv – objektiv“ und „intrinsisch – extrinsisch“ orientiert.

    Erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ist es zu einer kommunikations-theoretischen Wende gekommen. Einer der maßgeblichen Vertreter dieser Richtung ist Boris Groys, der in seiner Untersuchung „über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie“ (1999) die Theorie des innovativen Tausches entwickelt hat.

    Danach sind kulturelle (Kunst) und profane Werte (Kommerzialität) zu unterscheiden. Die Werthierarchie der kulturellen Werte ist von der Peripherie des Profanen umgeben. Die Abgrenzung dieser Systeme fluktuiert. Kein Kunstwerk ist davor sicher, kommerzialisiert zu werden und damit seinen kulturellen Wert zu verlieren. Umgekehrt können profane Werke in die Hierarchie kultureller Werte aufgenommen werden.

    Die gesellschaftstheoretischen Ansätze haben, so kompliziert sie erscheinen mögen, in wichtigen Punkten Klarheit verschafft.

    Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass Werte erst durch Unterscheidung entstehen und deshalb rationalen Charakter haben. Werte, Wertvolles und damit auch Kunst an sich gibt es nicht.

    Sie sind das Ergebnis einer vergleichenden Beurteilung, die zu jedem späteren Zeitpunkt durch veränderte Einflussfaktoren anders ausfallen kann”…

    *Aus dem Maschinenraum der Kunst – Aufzeichnungen eines Sammlers von Harald Falckenberg, Philo & Philo Fine Arts 2007 [Seite 20]

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