Kennt Kunst keine Behinderung?

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Denkmale

„Kunst kennt keine Behinderung“. Der griffige Slogan stammt aus einer Kampagne der „Aktion Mensch“, die bewirkt hat, dass heute vielen Menschen mit geistiger Behinderung künstlerisches Arbeiten ermöglicht wird. Nicht als kunsthandwerkliches Tun im Sinne einer Beschäftigungstherapie, sondern im Hinblick auf individuelles Gestalten, das frei ist von pädagogischer oder therapeutischer Einmischung. Zum Programm gehören Kurse und Workshops zum Erlernen bestimmter künstlerischer Techniken sowie die Gelegenheit zur öffentlichen Präsentation.

Das Echo auf Ausstellungen ist meistens sehr gut. Die Stimmung unter den Gästen der Vernissagen ist viel gelöster als bei gewöhnlichen Galerieausstellungen und die Kaufbereitschaft vergleichsweise enorm. Das liegt nicht nur an den günstigen Preisen – dekorative Großformate sind oft schon um die 100 Euro zu bekommen.

Die Atmosphäre ist auffallend unverkrampft und angstfrei. Ich habe den Eindruck, dass die Besucher vor allem einfach mal froh sind, nicht „verstehen“ zu müssen oder am Ende gar fürchten zu müssen, „falsch” zu verstehen (ein Anspruch und eine Sorge, über deren Ursprung man sich ja auch immer wieder sehr interessante Gedanken machen kann).

Acrylbild nach Matisse Helga Haselbach

Hängt seit Jahren bei mir an der Wand: nicht ganz ein echter Matisse – aber fast. „Henri Matisse“ hat Helga Haselbach im Rahmen der arbeitsbegleitenden Maßnahmen einer Werkstatt für Behinderte gemalt – eine Interpretation von „Stillleben mit Orangen“ von Henri Matisse aus dem Jahr 1913 und späterer Arbeiten von Matisse, die mich sehr beeindruckt (© Helga Haselbach).

Die Schönheit, die in diesen Kunstwerken liegt, mussten wir Betrachter aber erst sehen lernen. Die Wertschätzung für die Kunst geistig Behinderter wuchs erst mit der Entwicklung modernen Kunst. Diese war auf der Suche nach künstlerischen Mitteln, die von der abendländischen akademischen Tradition unbeeinflusst waren. Die Künstler orientierten sich dabei auch an afrikanischer Kunst, Kinderzeichnungen, nicht-professionellen Künstlern allgemein und auch – zum Beispiel bei der Art brut des Jean Dubuffet – an der Malerei geistig Behinderter.

Damit bekamen einzelne Mittel der Kunst – wie zum Beispiel der Malgestus, die Materialhaftigkeit, die Farbe an sich oder die Betonung der subjektiven Empfindung – ein neues Gewicht, die in der abendländischen Malerei der Neuzeit nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatten – mit steigender Konzentration auf jeweils einzelne Aspekte. So gibt es heute neben ausgesprochen diskursiv ausgerichteten Strömungen auch Werke, die das Expressive oder das Sinnlich-Haptische betonen.

Insofern mag zutreffen, was eine Pressemitteilung zu einer Wanderausstellung der Initiative BehindART des Hessischen Paritätischen Wohlfahrtsverbands behauptet: „Gerade in der Kunst spielt es keine Rolle, ob ein Mensch eine Behinderung hat oder nicht“. Unterstellt wird den Werken Behinderter Unbefangenheit, unverkopfter Zugang zum Unbewussten und ein vermeintlich rein impulsiver Zugang. Das sind Argumente, die diese Arbeiten auch in die Nähe von Kinderzeichnungen rücken. Nach meinem Gefühl wird das der Sache nicht gerecht: Viele der behinderten Künstler haben nicht nur einen eigenen künstlerischen Stil, sondern sie entwickeln diesen auch über Jahre weiter und erschaffen beeindruckende Werke, die sich von den stark durch Konstanten der überindividuellen Entwicklung geprägten Kinderzeichnungen deutlich unterscheiden.

“Gerade in der Kunst spielt Behinderung keine Rolle” – die Formulierung läuft Gefahr, Kunst auf die bloße Lust am Schöpferischen zu reduzieren. Das wäre schade für die Kunst und schade für behinderte Künstler, würde es doch deren individuelle künstlerische Leistung verkennen. Denn wie bei allen kreativ Tätigen ist auch bei den geistig behinderten Künstlern nicht alles, was mit Eifer geschaffen wurde, gleich auch eine Bereicherung für den Betrachter.

 

„Gerade in der Kunst spielt es keine Rolle, ob ein Mensch eine Behinderung hat oder nicht“ – „Kunst kennt keine Behinderung“.

Die beiden plakativen Aussagen stammen aus einer Pressemitteilung zu einer Wanderausstellung der Initiative BehindART des Hessischen Paritätischen Wohlfahrtsvereins und von einer Kampagne der „Aktion Mensch“.

Hm. 

Im Hintergrund stehen Programme zur Durchsetzung einer inklusiven Kulturlandschaft: Viele Einrichtungen der Behindertenhilfe ermöglichen Menschen mit geistiger Behinderung das künstlerische Arbeiten und bieten ihnen auch entsprechende Kurse und Gelegenheit zur öffentlichen Präsentation. Wohlgemerkt: Das Ganze bezieht sich nicht auf kunsthandwerkliches Tun im Sinne einer Therapie, sondern auf individuelles Gestalten, das frei ist von pädagogischer oder therapeutischer Einmischung. Andererseits gehören die Schulung der kreativen Fähigkeiten und das Erlernen bestimmter künstlerischer Techniken zum Programm.

Das Echo auf die öffentlichen Ausstellungen ist meistens sehr gut. Die Stimmung unter den Gästen der Vernissagen ist viel gelöster als bei gewöhnlichen Galerieausstellungen und die Kaufbereitschaft vergleichsweise enorm. Das liegt nicht nur an den günstigen Preisendekorative Großformate sind oft schon um die 100 Euro zu bekommen. 

Die Atmosphäre ist auffallend unverkrampft und angstfrei. Ich habe den Eindruck, dass die Besucher vor allem einfach mal froh sind, nicht „verstehen“ zu müssen oder am Ende gar fürchten zu müssen, „falsch zu verstehen“ (ein Anspruch und eine Sorge, über deren Ursprung man sich ja auch immer wieder sehr interessante Gedanken machen kann).

Hängt seit Jahren bei mir an der Wand: ein nicht ganz  echter Matisse – aber fast. „Henri Matisse“ hat Helga Haselbach im Rahmen der arbeitsbegleitenden Maßnahmen einer Werkstatt für Behinderte gemalt – eine Interpretation von Stillleben mit Orangen“ von Henri Matisse aus dem Jahr 1913, die mich sehr beeindruckt (© Helga Haselbach).

 

Die Schönheit, die in diesen Kunstwerken liegt, mussten wir Betrachter erst sehen lernen. Nicht zufällig entwickelte sich die allgemeine Aufmerksamkeit für die Kunst geistig Behinderter (befördert durch Hans Prinzhorn, Leo Navratil und Jean Dubuffet) parallel zu der Entwicklung der modernen Kunst, die auf der Suche nach künstlerischen Mitteln war, die von der abendländischen akademischen Tradition unbeeinflusst waren. Die Künstler orientierten sich dabei an afrikanischer Kunst, Kinderzeichnungen, nicht-professionellen Künstlern allgemein und auch – insbesondere bei der Art brut des Jean Dubuffet – der Malerei geistig Behinderter.

Dass Behinderung in der Kunst keine Rolle spielen soll, klingt gut. Der Slogan wir aber weder den geistig behinderten Menschen ganz gerecht, noch der bildenden Kunst, die ja zum Beispiel auch diskursive Aspekte in sich trägt.

Wenn „BehindART“ ernst genommen werden soll, dann muss man sich auch vor dem Umkehrschluss hüten: Auch bei geistig behinderten Künstlern ist nicht alles, was mit Eifer geschaffen wird, gleichermaßen bereichernd für den Betrachter. interessant,  nicht jedes Werk wird man mit Gewinn betrachten.

Aber viele der behinderten Künstler haben nicht nur einen eigenen künstlerischen Stil, sondern sie entwickeln diesen auch über Jahre ständig und konzentriert weiter und schaffen Werke, die allen Aspekten eines Kunstwerks gerecht werden.

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

6 Kommentare

  1. Zitat:

    ” Ich habe den Eindruck, dass die Besucher vor allem einfach mal froh sind, nicht „verstehen“ zu müssen oder am Ende gar fürchten zu müssen, „falsch” zu verstehen…”

    -> Das ist ja wohl die unauffälligste Herabwürdigung der Intentionen behinderter Menschen. Denen braucht man also keine eigenen ernstzunehmenden Gedanken zu unterstellen. Was man leicht am Subjekt (noch leichter an seiner Akte) erkennt, ist selbstredend auch in seinem Kunstoutput zu erwarten. Nämlich nichts, außer Form und Farbe, wo sich der Betrachter dann anmaßt, nichts intendiertes zu vermuten, aber später eigene Ästhetik hineinließt.

    Was für ein Abgrund.

  2. Anmaßung des Betrachters

    Die Anmaßung der Interpretation durch den Betrachter mit dessen “eigener Ästhetik” muss sich ein Kunstwerk gefallen lassen.
    Und ja, die Befürchtung habe ich auch, dass die Begeisterung für die Kunst geistig Behinderter oft nicht über ein “alles so schön bunt hier” hinausgehen könnte.

  3. Distinktion durch Kunstkennertum

    Vor Scham in den Boden versinken weil man einen Matisse nicht von einem Miro unterscheiden kann war noch ein Problem der vergangenen Generation. Heute trennt sich intellektueller Spreu von höhergeistigem Weizen anhand des richtigen Vokabulars, das man für Werke der heutigen Avantgarde bereit hat.
    Wer sich als Banause exponiert und sich mit falschem Vokabular blamiert offenbart heute nicht mehr seinen minderen sozialen Rang, sondern sein schlichtes Gemüt, seine mindere Empfindungsfähigkeit.

    Mit anderen Worten: Aktuelle Kunst macht heute noch weit mehr Angst als sie das früher tat und die Eintrittsschwellen in diese andere Welt sind noch einmal etwas höher geworden.

    Die Kunst der Behinderten befreit also die Zuschauer von der Angst sich zu blamieren. Immerhin etwas. Doch nur wenige setzen sich mit der Kunst Behinderter tiefer auseinander oder sind überhaupt dazu in der Lage. Hier gleicht sich die Situation wieder derjenigen bei der Avantgardekunst.

  4. @ Eva Bambach Anmaßung des Betrachters

    07.08.2013, 10:01

    -> Man kann sich irren, man kann gerade schlecht drauf sein oder man kann mit dem Künstler inkompatibel sein.
    Aber bei dem Besuch einer Galerie mit Kunstwerken ausschließlich von der Sachlage nach “Behinderten” besteht unweigerlich die Tendenz, keinen Versuch dahingehend (der Intention des Künstlers) anzustellen. Es sei ja sowieso nichts relevantes vorhanden.

    Ansonsten bin ich ebenso dekadent (zuweilen) wenn ich aus meiner Erfahrung vergleichbare Intentionen des Künstlers (auch eines solchen, der keinerlei öffentlich bekannte “Störung” aufweist) wiedererkennen zu glaube. Soviel Selbstreferenz und -bewusstsein muß auch sein (dürfen).

    Landläufig sei die Realität im Kunstbetrieb ja diese: Kunst macht derjenige, der anderswo kein Interesse oder Leistung zeigen kann. Damit ist ja schon mal eine gewisse “Irrsinnigkeit” bewiesen. Meint: Jeder Künstler sei ein gestörter (ugs.), da der ja die Realität und seine Anforderungen verweigert.
    Angesichts kann aber umgekehrt ebenso eine Störung beim derart betrachtenden attestiert werden. Nämlich der Dekadenz und des kollektiv indizierten Narzissmus – man sei halt “besser”, weil man an der Realität besteht. Dabei versagen anteilig mehr gerade aus dieser Gruppe an der … ihrer Realität, als aus der Künstlergruppe. Sie merken es nur nicht aufgrund der ideologisch voreingestellten Perspektive.

    Der fachgerecht psychisch gestörte hat zuweilen mehr Wahrheit über das Leben und die Existenz zu berichten, als jeder “Normalo” – der bestrebt ist, seine Realität zu rechtfertigen. Dem fachgerecht diagnostizierten “Gestörten” ist das allemal mehr gleich und spricht es aus …oder macht “Kunst” daraus…

    Wo also ist mehr Konsistenz und Wahrheit enthalten? Und warum ist das Dekadenzgefälle derart verdreht?

  5. Quoten

    Ich würde als Künster an keiner “Frauen”-, “Schwulen”, “Geistig behinderten”- oder “Minderheiten (wie Aborigines)”-Ausstellung teilnehmen. Die meisten der dort gezeigten Kunstwerke könnten auch so bestehen.
    Auch ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich: Hugo von der Goes ist in geistiger Umnachtung gestorben und van Gogh war bekanntlich Patient einer Nervenheilanstalt. Das sagt gar nichts über ihre Kunst aus.

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