Frieren für die Wissenschaft: Lauresham im Winter
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Wie kam der frühmittelalterliche Mensch durch den Winter? Der Frage gingen am zweiten Wochenende im Januar kostümierte Darsteller der Living History Projektgruppe „Reges Francorum“ nach. Sie trafen sich in Deutschlands jüngstem Freilichtmuseum, dem im September 2014 eröffneten „Experimentalarchäologische Freilichtlabor karolingischer Herrenhof Lauresham“, das dem „Welterbe Areal Kloster Lorsch“ in Südhessen angegliedert ist.
Lauresham: Nachbau eines fränkischen Herrenhofs
Das Freilichtlabor Lauresham ist ein Projekt der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen, finanziert mit etwa je einer Million Euro durch das Land Hessen, die Stadt Lorsch und die Bundesrepublik Deutschland.
Auf einer gut vier Hektar großen Anlage sind sechs Wirtschafts- und vier Wohnbauten samt einer Kapelle nach durch Grabungen und Bildquellen belegten historischen Vorbildern aus der Region errichtet worden. Dazu kommen landwirtschaftliche Nutzflächen mit Stallanlagen und ein Brunnen. Der nachempfundene Herrenhof soll nicht nur eine Publikumsattraktion sein, sondern er dient auch wissenschaftlichem Interesse. Wie funktionierte die Landwirtschaft zur Zeit der Karolinger? Was zum Beispiel war die Funktion des für das frühe Mittelalter typischen Wölbackers (einer Ackerform, die aus sehr langen Furchen mit einer stark erhöhten Ackermitte besteht – ob aus Gründen der Entwässerung oder der Humusbildung ist bislang umstritten)?.
So sollen Pflanzen angebaut und Tiere gehalten werden, die so weit wie möglich ihren mittelalterlichen Vorfahren ähneln. Zwei Ochsen der Rasse Rätisches Grauvieh werden vor den Pflug gespannt, Rinder der Rassen Chianina und Watussi dienen dem Versuch der Rückzüchtung des ausgestorbenen Auerochsen (im Rahmen des Uruz Projektes).
Das Bemühen, die Lebensumstände am Anfang des 9. Jahrhunderts möglichst authentisch zu erfassen, scheitert jedoch mitunter im Detail. So sind die Joche der Ochsen heutigen Anforderungen des Tierschutzes entsprechend modifiziert und der Ackerbau muss heute unter anderem mit Kräutlein kämpfen, die es im Mittelalter in der Region noch nicht gegeben hat. Verändert haben sich auch die klimatischen Bedingungen. Vor 1200 Jahren war es um das Kloster Lorsch noch so warm, dass hier Wein auch in der Ebene angebaut werden konnte – der moderne Weinbau beschränkt sich auf die Westhänge des nahegelegenen Odenwalds.
Ohne Schornstein dem Winter trotzen
Das Freilichtmuseum Lauresham ist jedoch kein großangelegter Menschenversuch. In der Regel werden die Tiere von Museumsmitarbeitern gefüttert und der Acker von Menschen bestellt, die nach Dienstschluss in ihre modern ausgestatteten Wohnungen zurückkehren. Die Veranstaltung „Winter in Lauresham“ sollte deshalb helfen herauszufinden, wie sich die in Lauresham errichteten Gebäude tatsächlich benutzen ließen. Für knapp zwei Tage – vom Freitagabend bis zum Sonntag – verbrachten etwa zwanzig als „Reges Francorum“ organisierte Geschichtsbegeisterte Tag und Nacht in Lauresham.
Die dominierenden Probleme – trotz der für die Jahreszeit eher milden Witterung – waren erwartungsgemäß Kälte, Wind und Dunkelheit. Die eingeschossigen Häuser der Karolingerzeit verfügten nicht über Schornsteine. Der Rauch der offenen Feuer im Innenraum zog über Öffnungen ganz oben in den Giebelwänden ab – wenn er denn abzog. Der Heizerfolg und auch die Rauchentwicklung in den unterschiedlich gebauten Häusern von Lauresham fiel bei dem Mini-Experiment am Januarwochenende sehr unterschiedlich aus. Untersucht wurde daraufhin unter anderem, wie sich verschiedene Dämmungen der Fensterritzen (etwa mit Schafwolle) auf das Raumklima auswirkten. Ungeklärt muss wohl zunächst bleiben, wie sich die Raumtemperatur nach längerer Aufheizung entwickeln würde, wenn auch die Wände und Gegenstände durchwärmt wären. Fürs Erste, so äußerten sich Mitglieder der „Reges Francorum“, waren die Nächte offenbar sehr kalt, auch wegen des zugigen Windes.
Da die Fensterläden gegen die Kälte geschlossen blieben, war es im Inneren nur mit Hilfe von Kerzen und Talglichtern möglich zu nähen, zu spinnen, zu weben oder Schuhe herzustellen. Dennoch kam durch die Giebelöffnungen unter dem First mitunter erstaunlich viel Licht in den Raum.
Living History und Museumspädagogik
Nach zwei experimentellen Nächten war Lauresham dann für das Publikum geöffnet, nach historischem Vorbild gekleidete Akteure und die wissenschaftlichen Begleiter standen bereit zum Gespräch. Wohltuend fiel mir auf, dass auf Beschilderung im Gelände völlig verzichtet wurde, also auch Fragen nicht beantwortet wurden, bevor sie überhaupt auftauchen konnten. Jeder Besucher konnte sich dementsprechend sozusagen sein eigenes Lauresham-Erlebnis erschaffen, die Wissensvermittlung erfolgte über die eigenen Anschauung und das persönliche Gespräch.
Ein guter Teil des Publikums ist durch den Besuch der zahlreich veranstalteten (weder experimentell ausgerichteten noch auf wissenschaftlichen Überlegungen beruhenden) Mittelaltermärkte geprägt. Für andere spielte der einfache Gruselfaktor eine gewisse Rolle. Das ließen jedenfalls die belauschten Kommentare vermuten (“Die hatten ja damals noch nicht einmal …”) – allerdings kam auch Erstaunen über die hochwertigen Handwerkserzeugnisse und Möbel auf (“Schöner als von IKEA!”). Zuschauerbelustigung und Vermittlung neuer Einsichten müssen ja nicht im Widerspruch stehen.
Living History wandelt immer auf dem Grat zwischen (mitunter auch ideologisch gefärbter) Fiktion und begründeter Vermutung – wie letztlich jede Art der Veranschaulichung in Form von Filmen, Spielszenen, gemalten Bildern oder Rekonstruktionen.
Bei der Auswertung der Baufunde vom eigentlichen Kloster Lorsch lässt man keinen Zweifel daran, dass man bemüht ist, das Hypothetische als solches kenntlich zu machen – und damit den größten Teil dessen, was zu sehen ist, in Frage zu stellen. Eine wichtige Frage dabei: Wieviel Unsicherheit kann der Besucher aushalten? Gern verlässt man ein Museum mit gesicherten Informationen im Gepäck.Aber man kann Dinge deutlich vor sich haben und sie doch nicht verstehen. Paradebeispiel dafür ist die karolingische „Königshalle“, das Schmuckstück der Klosteranlage. Sie steht vor aller Augen klar zu erkennen – und trotz ihres hervorragenden Erhaltungszustands weiß man einfach nicht, wozu sie diente.
Auch ein Gedanke, den man vom “Winter in Lauresham” mit nach Hause nehmen könnte: Es besteht kein Grund zur Überheblichkeit. Probleme des Winters sind bis heute: Wärme und Licht. Mit anderen Akzenten zwar, aber die Irrwege in der Wärmedämmung und das Thema Energiesparlampen machen deutlich, dass auch wir weit davon entfernt sind, die Probleme zu lösen.
Doch. Das Problem des Überwinterns haben wir gelöst. Für uns ist der Winter keine Jahreszeit wo wir uns irgendwie einschränken müssten. Ganz anders im Mittelalter, wo die Leute oft gezwungenermassen in eine Art Winterschlaf verfielen.
Eigentlich, müsste man denken, war dieses vorübergehende Abgeschnittensein, waren diese Auszeiten im Winter auch Chancen um den Geist wandern zu lassen, um zu lesen, zu schreiben, Geschichten zu erzählen und zu erfinden. Doch nur wenige hatten damals überhaupt die nötige BIldung um das zu tun.
Später war das anders. Im Jahr 1816, dem Jahr ohne Sommer (Vulkanausbruch des Tambora), nutzen Marey Shelly und Lord Byron den trostlosen Sommer, den sie am Genfersee verbrachten um sich Geschichten zu erzählen und Bücher zu schreiben:
Das heutige Leben ist ein vollkommen anderes: Es gibt kaum noch Zeiten der Leere und Stille seit zuerst Fernsehen, dann Smartphone und Facebook Einzug gehalten haben. Damit ist ein Problem behoben – das Problem des Alleinseins und der Langeweile – allerdings nur scheinbar und nur auf einer niederen Ebene.
Später war das anders.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Immerhin noch 1902.
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