Das Gruppenbild – neu erfunden

Vielleicht wird ja das Jahr 2020 als „Jahr ohne Nähe“ in die Geschichte eingehen – so wie das Jahr 1816 als das „Jahr ohne Sommer“ in Erinnerung ist.

Damals herrschte ungewöhnlich kaltes und nasses Wetter  in Europa und den USA, das unter anderem hohe Ernteausfälle verursachte. Den Grund dafür fand man erst etwa 100 Jahre später: Der Ausbruch des Vulkans Tambora im heutigen Indonesien im Jahr 1815 hatte einen riesigen Ausstoß von Schwefelverbindungen in die Atmosphäre geschleudert. Sie legten sich als Schleier um den gesamten Erdball und sorgten für die Abkühlung des Weltklimas.

Heute nimmt man an, dass noch weitere Faktoren dazu beitrugen, dass das Jahrzehnt von 1810 bis 1820 weltweit das kälteste der letzten 500 Jahre war. Doch nicht nur auf das Klima hatte der Vulkanausbruch Effekte. Es kam auch zu starken Veränderungen im Aussehen von Sonnenauf- und Untergang. Denn die Sonnenstrahlen trafen in der Atmosphäre auf eine Unmenge Aerosolteilchen und kamen gefiltert als langwellige, also rötliche Anteile des Lichtspektrums beim Betrachter an.

Das muss in der Realität wundervoll ausgesehen haben und schlug sich auch in der bildenden Kunst nieder. Die prächtigen Abendhimmel der Romantiker beeindrucken uns noch heute. Der Witz ist, dass der Zusammenhang mit dem Naturphänomen bis vor kurze Zeit nicht gesehen wurde.

Jeder für sich! Bearbeitetes Pressefoto: Bambach

Nicht ganz so schön, aber doch interessant ist die Auswirkung der Covid-19-Pandemie auf die Arrangeure von Gruppenaufnahmen. Lautete die Aufgabe des Fotografen zuvor, möglichst viele auf denkbar kleinstem Raum zusammenzubringen, so muss heute – sofern Zusammenkünfte überhaupt stattfinden dürfen – ein Weg gefunden werden, den geforderten Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen den Einzelnen einzuhalten.

Alle schön zusammen! Bild: Bambach

Heute wissen alle Menschen auf der Welt (und tatsächlich wohl kulturübergreifend), warum auf den Fotos plötzlich alle so betont einzeln nebeneinanderstehen. Aber wird das in 100 Jahren noch verstanden? Irgendwann werden wir unsere alten Gewohnheiten wieder aufnehmen. Den Reflex, auf Abstand zu gehen, wenn wir uns begegnen, den wir uns derzeit mühsam antrainieren, werden wir wieder verlieren. Und irgendwann kann sich niemand mehr einen Reim darauf machen, warum die Menschen auf den alten Fotos der Jahre 2020/21 sich so merkwürdig beziehungslos nebeneinander aufstellen. Irgendwann wird dann eine wissenschaftliche Arbeit auf den interessanten Umstand stoßen, dass zeitgleich eine Pandemie herrschte. Und, neue These, die könnte möglicherweise für die unpersönlich wirkenden Arrangements verantwortlich gewesen sein. Oder erstmal vorsichtig formuliert: Dazu beigetragen haben, dass die Menschen sich nicht nahekommen wollten. Die bis dahin geltende Auffassung, dass die Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts sich selbst in ihrer Bedeutung überschätzende Egozentriker waren (belegt unter anderem durch die Flut von Selfies) wird dann zunehmend als überholt angesehen.

 

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

7 Kommentare

  1. Danke für die gedanklichen Anregungen durch diesen Beitrag.
    Nun zu einem der Gedanken (Zitat):

    Und irgendwann kann sich niemand mehr einen Reim darauf machen, warum die Menschen auf den alten Fotos der Jahre 2020/21 sich so merkwürdig beziehungslos nebeneinander aufstellen. Irgendwann wird dann eine wissenschaftliche Arbeit auf den interessanten Umstand stoßen, dass zeitgleich eine Pandemie herrschte.

    Doch Frage: Werden wir im Jahr 2050 beispielsweise so ahnungslos sein wie die Europäer im 19. Jahrhundert, die nichts vom Klima und von den globalen Auswirkungen des Vulkanismus wussten?

    Antwort: Ja, wenn wir uns 2050 beispielsweise in einer postapokalyptischen Situation befinden in der das Wissen des frühen 21. Jahrhunderts verloren ging.

    Antwort: Nein, wenn im Jahr 2050 beispielsweise Anwendungen der künstlichen Intelligenz zum Alltag gehören. Ich schau mir dann, im Jahr 2050, das Foto Jeder für sich! an, wobei ich Apple Glasses aufgesetzt habe und die künstliche Intelligenz im Hintergrund realisiert meine Verwunderung über dieses Bild und reagiert indem eine eingeblendete Stimme mir den Hintergrund des Bildes erklärt. Und wenn ich eine persönliche Beziehung zu diesem künstlichen Helfer, dieser künstlichen Freundin (Siri?) aufgebaut habe, bedanke ich mich vielleicht für die Auskunft und bitte um weitere Erklärungen.

    • Ich hoffe, Antwort 2 wird eher zutreffen. Aber schade würde es sein, wenn man all die herrlichen Deutungsversuche nicht mehr selbst anstellen und sich nicht mehr so grandios verspekulieren kann, wie es uns heute noch so oft passiert. Stammtische sind ja schon jetzt nicht mehr was sie waren, da jede früher ungeprüfte Behauptung jetzt sofort den Google-Test bestehen muss.

      • @Eva Bambach (Zitat): „ schade würde es sein, wenn man all die herrlichen Deutungsversuche nicht mehr selbst anstellen und sich nicht mehr so grandios verspekulieren kann„
        Ja, der echte Freund freut sich an deinen Spekulationen, lacht mit und hilft dir dann auf die Sprünge. Eine menschenähnliche künstliche Intelligenz würde das gleiche tun. Ob es eine solche im Jahr 2050 gibt, wissen wir noch nicht.

  2. Die Personen stehen nicht 1,5 Meter entfernt auf dem ersten Bild und tragen keine FFP2 Masken. Es handelt sich um eine eklatante Missachtung der Corona-Regeln. Ich bin entsetzt hier so ein verantwortungsloses Bild zu sehen.

  3. Irgendwann so um das Jahr 2010 herum gab es hier bei uns auch mal ein Jahr ohne Frühling: auf einen viel zu langen, harten Winter folgten da schlagartig – wirklich von einem Tag auf den nächsten – hochsommerliche Temperaturen.

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