Auf den Kopf gestellt – Chagall in Frankfurt

Ein Kunstdruck von Marc Chagall zierte lang gefühlt jede zweite deutsche Wohnung. Ein Hype, der schon 1914 angefangen hatte, mit einer Ausstellung des jungen russischen Künstlers in Herwarth Waldens Sturm-Galerie in Berlin. Mit der russischen Revolution, die den Künstler über Jahre an seine alte Heimat band, begann eine Reihe von Rückschlägen, die das Leben des 1887 in Witebsk (im heutigen Belarus) in einer jüdischen Familie Geborenen verdüsterte, seine Karriere allerdings nicht auf Dauer behinderte. In der Sowjetunion wurde er schließlich verfolgt und kam über Berlin nach Paris. Als die Nazis von Deutschland aus die Macht ergriffen, floh Chagall mit seiner Familie 1941 in die USA. Dort erlebte er mit dem Tod seiner Ehefrau einen weiteren tiefen Einschnitt in seinem Leben, bewältigte aber auch diese Krise und lebte bis er fast 100-jährig in Frankreich starb als erfolgreicher und weltbekannter Maler, der auch und in besonderer Weise in Deutschland große Verehrung genoss.

Man kann Chagall wohl nicht als einen der entschiedensten Protagonisten der Moderne bezeichnen, eher traten die Verzerrungen und Verfremdungen der Klassischen Moderne bei ihm in versöhnlicherer und leichter zu konsumierender Form auf. Zudem sucht die Farbtiefe seiner Bilder ihresgleichen und die scheinbar so spielerische und geradezu folkloristisch wirkende Bilderzählung machte ihn letztlich zu einem unkomplizierten Künstler für alle, die gern „was Modernes“ an die Wand hängen wollten.

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Marc Chagall, Apokalypse in Lila, Capriccio, 1945, Gouache,
Bleistift, Tusche laviert und Tusche auf Papier, 51,2 × 35,5 cm, Ben
Uri Collection, 2009 erworben durch die Unterstützung von Miriam
und Richard Borchard, Sir Michael und Lady Morven Heller und
einem anonymen Stifter, © ADAGP, Paris and DACS, London
2022, Foto: Ben Uri Collection

Aber es scheint, dass er in Europa, vor allem in Deutschland noch mehr gemocht wurde, als etwa in den USA. Das hatte abseits von allen künstlerischen Momenten etwas mit seinem Jüdischsein zu tun: Unübersehbar ist in allen Bildern die Welt des chassidischen Judentums, die Erinnerung an seine Heimat Witebsk. Aus dem osteuropäischen Judentum speist sich Chagalls Bildwelt. Das war eine Chance, sich den gerade komplett Vernichteten wieder anzunähern. Die von Deutschland aus gesehen ferne Welt der osteuropäischen Juden und die märchenhaft anmutenden Schilderungen Chagalls ermöglichten das ohne schmerzhafte Erinnerung. Die ermordeten jüdischen Nachbarn hatten so ja nicht ausgesehen. Chagalls Bilder wurden als verträumt und idyllisch wahrgenommen, geeignet, das Entsetzen des Holocaust zu überspielen und in eine wohltuende Erfahrung zu wandeln – über Generationen.  Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt im Jahr 2004 brachte solchen Besucheransturm, dass man sogar montags öffnen musste.

An dieses Phänomen erinnert auch die große Publikumsresonanz mit der gerade in der Frankfurter Schirn eine Chagall-Ausstellung eröffnet wurde. Doch widmet sich diese Rückschau explizit auch den etwas schmerzhafteren Seiten von Chagalls Schaffen und damit nicht zuletzt seiner Erfahrung als Verfolgter, dessen einst in Deutschland so geschätzte Kunst plötzlich verfemt war. Wie stark den Künstler – der sich nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar weigerte, Deutschland jemals wieder zu betreten –, der Judenhass der Deutschen beschäftigte, lässt sich dort im Vergleich mehrerer Werke gut feststellen. Da sind zum Beispiel die Zeichnung „Apokalypse in Lila“ und das Ölbild „Seele der Stadt“, beide aus dem Jahr 1945, die abweichen von Chagalls üblicher, leuchtender Farbwelt. Menschen, die fliehen, die Thora-Rolle fest umklammert, eine Reihe von Hinrichtungen im Hintergrund, ganz vorn der Gekreuzigte, nackt und mit Teffilin um den Arm. Davor eine Art Teufel mit (bewusst?) falsch gezeichnetem Hakenkreuz. Eine Skizze für „Märtyrer“, schon aus dem Jahr 1940, zeigt über dem Kreuz eine Inschrift: „Ich bin Jude“ (statt der üblichen Schuldbezeichnung INRI für „Jesus von Nazaret, König der Juden“.)

Chagall macht deutlich: Der Gekreuzigte war Jude – und jetzt werden wieder Juden umgebracht. Als Metapher taucht der mit jüdischen Utensilien ausgestattete Jesus in den Bildern nun auf – neben den zum festen Repertoire gehörenden Motiven wie Hahn, Mondsichel, Ziege oder Pendeluhr.

Seine Kreuzigungen bedeuteten für ihn das jüdische Märtyrertum, sagte Chagall, waren aber auch Ausdruck für das Leid des Malers an seiner Kunst. Was die Ausstellung in der Schirn auch lehrt: Was scheinbar schwerelos und heiter schwebt, ist mitunter ganz anders gemeint: Es bezeichnet eine auf den Kopf gestellte Welt, abgetrennte Köpfe, zerlegte Figuren ohne Halt.

Übrigens war Chagall am Ende seines Lebens doch noch selbst zur Versöhnung bereit: Der Pfarrer von St. Stephan in Mainz überzeugte ihn in den 1970er-Jahren, die Fenster der Kirche zu gestalten. Mehr als ein Jahr lang hatte der über 90-jäjhrige Künstler auf die Anfrage geschwiegen . Bis zu seinem Tod 1985 schuf er dann, unter anderem auf der Grundlage von Videoaufnahmen des Kirchenraums, neun Fenster in leuchtenden Blautönen. Jährlich kommen rund 20 000 Besucher, um diese Kunstwerke zu sehen.

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

19 Kommentare

  1. Vielen Dank für diese Betrachtung, Frau Dr. Eva Bambach.

    Der Schreiber dieser Zeilen wusste gar nicht, dass Chagall Jude war (statt ‘jüdischer Religionszugehörigkeit’, wie die bekannte Online-Enzyklopädie d-sprachig und vielleicht dümmlich anmerkt, Chagall war ein säkularer Jude), der ‘Judenhass der Deutschen’ war vermutlich eine besondere Eigenart des sog. Dritten Reichs, an sich sind Deutsche und Juden vglw. gut miteinander ausgekommen, wie ja auch das Judendeutsch, das Jiddische manifestiert, handgreiflich macht. [1]

    Mit Chagalls Werken, dies nur ganz am Rande notiert, kann Dr. Webbaer eher weniger anfangen, die Farben scheinen ihm fein gewählt, böse formuliert auch den Kunstbetrieb so adressierend, gar den so gemeinten Vertrieb, allerdings ist Dr. W auch mehr oder weniger sozusagen Kunstbanause.
    Das Kreuz steht meist für das Christentum.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

    [1]
    Es wird hier nicht geglaubt, dass es heute noch einen besonderen deutschen Antisemitismus gibt, einen besonderen.

  2. Im russischen Kaiserreich geboren und über seine Heimatstadt Witebsk damit verwurzelt, wurde Marc Chagall über seinen Arbeits-Aufenthalt in Paris und seine dortigen Freunde (darunter auch Schriftsteller wie Guillaume Appollinaire, Blaise Cendrars), über Ausstellungen in Berlin, der Gründung einer Kunstschule in Witebsk, das Miterleben der russischen Revolution und das Miterleben erster Säuberungen dort schon früh zum Zeitzeugen der Bewegungen und (auch und gerade der politischen) Umwälzungen, die Europa im 20. Jahrhundert durchmachte. Scheinbar hatte Chagall schon 1923 so viel erlebt, dass er ein Buchprojekt „Mein Leben“ nannte. Dabei war 1923 im Rückblick betrachtet nicht einmal die Mitte seines Lebens. Es kam noch viel mehr, das er miterleben durfte (und musste). Allerdings nicht unbedingt Besseres. Ja sogar so viel Übles, dass er 1941 gezwungenermassen in die USA auswandern musste. Ab 1947 war er wieder in Europa. Nebenbei schrieb er Texte und Bücher über Kunst in jiddischer Sprache. Er blieb künstlerisch aktiv bis kur vor seinem Tod 1985.

    Frage: Welcher Künstler wird wohl der Chagall des 21. Jahrhunderts? Also ein Künstler, der an einem Ort verwurzelt ist, aber ganz Europa kennt und alles durchmacht, was auf uns zukommt?

    • Ergänzung: In der englischsprachigen Wikipedia liest man zu Marc Chagall noch: Er hatte zwei grundlegende Reputationen, schreibt Lewis: als Pionier der Moderne und als bedeutender jüdischer Künstler.
      Ja, Chagall erlebte Europa als Jude und zeitgenössischer Künstler, der mehrere Stile und Strömungen der modernen Kunst aufnahm, darunter Kubismus, Symbolismus, Fauvismus und Surrealismus.

      Vorschlag: Wie wär‘s mit einem Film „Europa erleben mit Chagall“

      • Randbemerkung :
        Dr. W rät an jüdische Künstler nicht im benevolenten Sinne zu bevorzugen, wenn die Leistung jedenfalls unterschiedlich eingeschätzt werden kann.
        Farbmalereien des hier gemeinten Künstlers haben vorgelegen, also auch bes. Farb-Hingabe, auf Leinwand oder auf anderem Hintergrund, der Schreiber dieser Zeilen (siehe oben : ein gewisses Kunst-Banausentum liegt vor), war auch z.B. mit Andy Warhol (den er fälschlicherweise längere Zeit für einen Juden gehalten hat, zeitweise, vermutlich : wegen seinem Humor) eher ursisch-zynisch in der Bewertung dieser Arbeit.
        Kunst kommt ja eigentlich vom Können, große Maler antizipierten sozusagen das Photograph, ihre zuvor ergangene Arbeit, auch Lichtwechsel meinend, war insofern Kunst, nicht einfach zu bewerkstelligen.
        Wie Dr. Webbaer andere neuere Künstler betrachtet, könnte klar sein, im antizipatorischen Wesen und Marktbedürfnisse adressierend.
        Dr. W hält bspw. so auch etwas für einen künstlerischen Tiefpunkt, ganz randseitig anmerkend bleibend, sozusagen :
        -> https://www.gerhard-richter.com/de/exhibitions/gerhard-richter-96/256-colours-6068 (das (heutige) Alter der hier gemeinen Person bestätigt aus diesseitiger Sicht nicht Qualität von wie gemeinter Arbeit, KA, was da auf dem Kunstmarkt los ist)

        MFG
        WB

        • Gerhard Richters „256 Farben“ (es gibt auch einen Richter im Centre Pompidou mit Titel „1024 Farben“) hat sicher nur Bedeutung angesichts des Gesamtwerks von Richter und seiner von kaum jemandem bestrittenen Begabung und Hingabe an sein Werk. Hinter den scheinbaren Zufälligkeiten, die das Bild ergeben, stecken sehr viel mehr Überlegungen als man zuerst denkt. Und diese Überlegungen sind in gewissem Sinne nicht nur Überlegungen Gerhard Richters, sondern auch des Künstlers in seiner Zeit und Umgebung. Es sagt also auch etwas über seine damalige Zeit und sein Umfeld aus.

          • Dr. W bestreitet hier einfach mal, Richter meinend.


            Zurückkommend auf Chagall :

            Dr. W glaubt nicht, dass dieses Bild :

            -> https://en.wikipedia.org/wiki/Apocalypse_in_Lilac%2C_Capriccio

            … besondere und verständliche Nachricht transportiert.
            Chagall war damals Mitte fünfzig.

            Jesus war Jude (vs. “jüdischer Religion” u.s.w – ‘Jude’ ist ein Ethnonym), er hat die Bekehrung, Erneuerung des Judentums angestrebt, Paulus hat dann den hier bekehrt :

            -> https://en.wikipedia.org/wiki/Cornelius_the_Centurion
            (Hier wird Petrus genannt, Dr. W ist je-etzt nicht so-o bibelfest [1])

            Chagalls Bild macht für den Schreiber dieser Zeilen keinen Sinn.

            Mit freundlichen Grüßen
            Dr. Webbaer (der womöglich, als Humanist gar, vglw. bibelfest ist) [2]

            [1]
            Dr. Webbaer hat kürzlich noch diesen Film beschaut :
            -> https://en.wikipedia.org/wiki/The_Greatest_Story_Ever_Told
            (Mit John Wayne als Centurion, er ist wohl seinerzeit (halbwegs) an seiner Krebserkrankung genesen, und sagt genau so wie Cornelius, der Centurion)

            [2]
            Die Bibel ist nicht gelogen, es liegen sogenannte Testamente vor, also Zeugen-Bekundungen, ein direkter Wahrheitsanspruch besteht anders als bei anderer Schrift nicht, außer im alten Testament und dort auch nur teilweise.
            Historische, für Historiker begehbare Datenlagen liegen ebenfalls vor, sie müssen nicht schlechter sein, Jesus und seine Apostelschaft meinend, als andere Datenlagen, die heute jene Zeit meinend, vorliegen.

      • Ergänzung zur Ergänzung: Europa kennen die meisten hier nur als Westeuropa. Chagall aber ist in gewissem Sinne sowohl Ost- wie Westeuropäer. Und zudem ist Chagall noch Jude und von seinem Werk her gesehen einerseits ein Solitär, andererseits ein Zeitzeuge.

  3. “Chagall macht deutlich: Der Gekreuzigte war Jude”

    Da der Gekreuzigte männliche wie auch frauliche Kontur aufweist, würde ich eher sagen: Chagall macht dem Sinn des Jesus entsprechend das Menschliche deutlich.

      • Am Fuße der Leiter (oder/auch am Fuße des Menschseins?) steht die “Bestie” / das Tier, vielleicht soll der Fuß des Jesus aber auch nur den Schutz darstellen, denn der Blick seines einen Auges ist offenbar streng fixiert darauf!?

        • Oder die finstere Figur bezieht sich weniger auf das große Kruzifix als auf die kleine Kreuzigungsszene mit den nackten, mit Judenstern gekennzeichneten Figuren, zu der sie sich bückt? Als das Unheil, das buchstäblich “über sie” gekommen ist?

  4. Ja, dann könnte der Fuß des Jesus tatsächlich eher Schutz sein, oder eine Einladung an die “Bestie”, die ihren in Raserei verrückten Blick wieder zur Menschlichkeit aufrichten soll!?

  5. Marc Chagall erinnert daran, dass man Menschen nicht auf Biologie und Naturwissenschaft reduzieren darf.
    Einer der ganz Großen der Kunstgeschichte.
    Danke Frau Bambach.

    • webbaer: “Jesus war Jude (vs. “jüdischer Religion” u.s.w – ‘Jude’ ist ein Ethnonym), er hat die Bekehrung, Erneuerung des Judentums angestrebt, …”

      Ja, vielleicht nur das Judentum, weil der Mythos “auserwähltes Volk” besonders …??? Aber die Philosophie der Bibel wurde später geschrieben, von Leut’s die den geistigen/zentralbewussten Kern von Gott/Vernunft/Mensch erkannt haben und Jesus zum “Ideologen” … – Es ist ziemlich leicht zu erkennen, dass die REDUZIEREND-propagierte UNERGRÜNDLICHKEIT von “Gottes Wege” nicht der wahrhaftig-sinnvollen Interpretation der Bibel entspricht, also bitte keine …!?
      ☝😉

      • Die Leiter, die Uhr, die Gestik, … – Für mich steckt diese Darstellung einer Apokalypse offensichtlich voll von tiefsinniger Symbolik, eine Symbolik, die Chagall anscheinend auch nicht über die zweifelsfrei-eindeutige Menschlichkeit hinaus auszusprechen wagte!?

        • @Dr. W.

          Bibeltreue???
          Selbst “Die letzte Versuchung Christi”, von Martin Scorsese, ist der bewusstseinsschwachen Interpretation treu geblieben, weil …!?

  6. Übrigens, machen wir uns nichts vor, wenn wir ständig die / oder eine SCHULDZUWEISENDE Apokalypse vor Augen haben, also glauben, dass diese Welt SO oder so zerstört wird, dann hat an unserem wettbewerbsbedingten Tun nichts Sinn, dann ist Vorbestimmung ebenso ausfüllbar mit …, wie die wissenschaftliche Behauptung der zufälligen Einmaligkeit illusionär bleibt.

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