Obstteller in der digitalen Übungsgruppe

Videokonferenz

Tafelübungen als besondere Herausforderung in der digitalen Hochschullehre

(Ein persönlicher Erfahrungsbericht.)

 

Das Wintersemester 2020/21 wurde vielerorts als hybrides Semester begonnen, das nach dem Corona-Sommersemester 2020 wieder Möglichkeiten für Präsenzveranstaltungen, darunter auch nachzuholende Praktika in Laboren und praktische Übungen bieten sollte. Aufgrund des zweiten Lockdowns ab Dezember wurde aber die Planung umgeworfen und es kamen erneut digitale Ersatzformate zum Einsatz.

Vorlesung wird zum Video, aber was ist mit der Übung?

Das an vielen Hochschulen verbreitete Veranstaltungsformat der Vorlesung lässt sich vergleichsweise einfach digitalisieren. So können Vorlesungen aufgezeichnet und als Video verbreitet werden, es können Live-Streaming-Termine angesetzt werden, die auch Fragen per Audio oder Textchat zulassen oder es werden Lehrvideos produziert, die einzelne Kapitel der Vorlesungen aufgreifen und in einem kurzen Videoformat behandeln. Die technische Qualität hat sich dabei im zweiten Corona-Semester bei vielen Lehrenden verbessert, da nun Erfahrungen, technische Ausstattungen und stabilere Software-Lösungen vorliegen. Es ist aber noch Luft nach oben. Zudem ist das Jahrhunderte alte Format der Vorlesung auch ohne Corona-Krise zu hinterfragen – aber das soll in diesem Bericht nicht weiter betrachtet werden.

Playlist
Vorlesung als Youtube-Playlist

Denn herausfordernder ist die Distanzlehre ohnehin bei interaktiven und individuell betreuten Formaten wie Praktika, Übungen oder auch Projektlehrveranstaltungen. Aus Sicht des Autors dieses Beitrages waren dies insbesondere Übungen in kleinen Gruppen (20 Studierende, überwiegend Erstsemester), die sonst vor Ort über die Nutzung von Whiteboard, Beamer und PC-Pool erbracht werden. Das eng betreute, wöchentliche Übungsformat hatte sich für das anspruchsvolle Informatik-Grundlagen-Modul über Jahre hinweg bewährt, da es den Studierenden eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Lehrstoff erlaubt und neben dem Kompetenzerwerb schließlich auch eine erfolgreiche Teilnahme an der Prüfung ermöglicht. Dieses etablierte Konzept sollte dann mit möglichst gleichem Nutzen in die digitale Fernlehre übertragen werden.

Videos und PDFs statt Vorlesung

Lehrinhalte wurden dabei über Lehrvideos und PDF-Unterlagen transportiert. Übungen in Gruppen fanden jeweils als Webex-gestützte wöchentliche Videokonferenzen statt. Den Studierenden wurden Aufgabenblätter zur Verfügung gestellt, die sie mit Vorlauf von einer Woche bearbeiteten. Es war unerlässlich, dass alle Teilnehmenden über Kamera, Mikrofon, stabile Internetverbindung und eine Möglichkeit verfügten, ihre Lösungsideen in der Gruppe zu präsentieren und gemeinsam weiterzuentwickeln, beispielsweise Korrekturen vorzunehmen und die nach Diskussion vollendete Lösung zu präsentieren, also das virtuell zu tun, was in Präsenz dem „Vorrechnen“ am Whiteboard entspricht.

Lernplattform
Mit der Lernplattform wird strukturiert, Materialien stehen zum Download 

Es zeigte sich rasch, dass die integrierte, virtuelle Whiteboard-Funktion der Videokonferenz-Lösung unzureichend ist, denn ein gemeinsames Arbeiten damit war wegen des unübersichtlichen Frontends, schwacher Auflösung und unterschiedlicher Endgeräte kaum möglich. Alternativen mussten her: Freigabe von Grafiken auf dem Bildschirm oder das Schreiben auf Papier, auf das die Kamera gerichtet ist. Zudem hatten die Studierenden ihre Lösungsideen ohnehin in unterschiedlichsten Formaten vorbereitet, z. B. als Papierversion (gescannt bzw. fotografiert), als Notiz in einem digitalen Notizbuch oder über einen Texteditor erstellt – mal mit, mal ohne Formeleditor / LaTeX-Code – dies war höchst individuell. Eine Vereinheitlichung ist dabei aufgrund der ablenkenden technischen Herausforderungen didaktisch nicht sinnvoll und auch wegen diverser privat vorhandener Infrastrukturen nicht realisierbar.

Videokonferenz
gemeinsames Rechnen in der Videokonferenz-Übungsgruppe

Vorbild Präsenzlehre

In der sonst üblichen Präsenzlehre stellen Studierende ihre Lösungsansätze an der Tafel bzw. am Whiteboard der Übungsgruppe vor. Dann kann der Dozent helfen, zum Beispiel bei Termen mit anderer Farbe ergänzen oder etwas rasch skizzieren, um zu zeigen, wo ein Fehler stecken könnte und eine fachliche Diskussion anregen. Schließlich entsteht so kollaborativ ein verbesserter Lösungsvorschlag, den andere mitschreiben und weiter diskutieren können. In der Fernlehre mit diversen Endgeräten und Tools  ist diese Kollaboration ungleich schwieriger. So fühlte sich der Autor in seiner Rolle als Lehrender geradezu hilflos, wenn er nur per Audiokanal Ergänzungen machen konnte, ohne selbst „drüberschreiben“ zu können – manchmal bedeutete dies, mitten in der konzentrierten fachlichen Diskussion erst geduldig die Stelle zu identifizieren, wo ein Problem im Term steckte („weiter rechts, ja, da ist der Index i, nein nicht dort, daneben, nein nicht durchstreichen, es fehlt nur ein Faktor, ja da, nein jetzt erst Klammer zu bitte …“) und dann zu warten, bis der nicht minder gestresste Teilnehmer den ergänzten Term in neuer Version allen präsentierte, um dann die Diskussion fortsetzen zu können.

Obstteller und Rauchschwaden

Aber es gab auch heitere Momente, denn das virtuelle Zusammenarbeiten in der Videokonferenz brachte manche Überraschung mit sich. Kostproben gefällig?

  • Mutter bringt freudestrahlend einen Teller mit Obststückchen in das Zimmer, in dem ein Student gerade seine Lösung für alle per Kamera vorrechnet. (Jetzt kennen ihn alle.)
  • Ab der 2. Woche waren die Betten im Hintergrund gemacht. (Dabei habe ich fast nichts dazu gesagt.)
  • Offenes Mikro, kein Video: “(telefoniert) Ich komme in diese blöde Übung nicht rein. Hast du den Link?”. (Ich über Webex: “Sie sind schon drin, Herr …”)
  • Studentin: “Ich muss die Kamera kurz abschalten. Mein Mitbewohner läuft gleich durchs Zimmer.” (Wohl besser so.)
  • Student raucht in der Übungsstunde und erläutert seine Idee umgeben von Schwaden. (Das dürfte es lange nicht gegeben haben.)
  • “Könnte ich als erste vorrechnen? Mein Freund macht gleich Netflix an.” (Äh, ja, okay.)

Die Lockerheit und der möglichst entspannte Umgang mit technisch bedingten Störungen machte die Situation für die Beteiligten etwas angenehmer, trotzdem ist die Belastung aufgrund der eher ungewohnten, nicht ausgereiften Formate und der Stofffülle kaum zu unterschätzen. Rückblickend betrachtet kann den Studierenden aber ein großes Lob ausgesprochen werden, denn diese meisterten die Situation im eng getakteten Wochenverlauf eines Informatikstudiums letztlich ganz alleine in den eigenen vier Wänden und organisierten sich selbst, wobei insbesondere Erstsemester in dieser Phase das Kennenlernen der anderen Studierenden, die Etablierung einer Zusammenarbeit und gegenseitigen Information und den Einstieg in das Studium als neuen Lebensabschnitt parallel meisterten!

Positive Effekte mitnehmen, Prognose

Die Anstrengungen und vielfältigen Erfahrungen werden sich in der Zukunft auszahlen. Eine digitale Kollaboration in Kleingruppen gehört nun zu den gemeinsamen Erfahrungen, von denen wir profitieren werden. Die Corona-Pandemie hat beschleunigend gewirkt, neue Formate einzusetzen. Das hat einigen Veränderungsprozessen an der Hochschule gut getan. So werden hybride Formate stark an Bedeutung gewinnen und die örtliche Flexibilität bei Studierenden und bei Lehrenden wird zunehmen.

 

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”The purpose of computing is insight, not numbers.” (Richard Hamming) Ulrich Greveler studierte in Gießen Mathematik und Informatik, arbeitete sechs Jahre in der Industrie im In- und Ausland, bevor er als Wissenschaftler an die Ruhr-Universität nach Bochum wechselte. Seit 2006 lehrt er Informatik mit dem Schwerpunkt IT-Sicherheit an der Fachhochschule Münster (bis 03/2012) und der Hochschule Rhein-Waal (seit 03/2012). Sein besonderes Interesse gilt datenschutzfördernden Technologien und dem Spannungsverhältnis zwischen Privatsphäre und digitaler Vernetzung.

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